Wer profitiert von einer gemeinsamen europäischen Rüstungsindustrie?

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Antonio Calcara, Luis Simón2022
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Wer profitiert von einer gemeinsamen europäischen Rüstungsindustrie?

»Market Size and the Political Economy of European Defense«

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Geschrieben von Lucas Hellemeier

Bei te.ma veröffentlicht 29.08.2023

te.ma DOI 10.57964/aybv-yd97

Geschrieben von Lucas Hellemeier
Bei te.ma veröffentlicht 29.08.2023
te.ma DOI 10.57964/aybv-yd97

Wie könnte eine Integration des europäischen Rüstungsmarkts gelingen? Und warum unterscheiden sich die Präferenzen der EU-Mitgliedsstaaten bezüglich der institutionellen Ausgestaltung eines solchen Markts? Antonio Calcara und Luis Simón erklären, warum vor allem EU-Mitglieder mit eigenen großen Rüstungssektoren einen gemeinsamen, aber nach außen geschlossenen europäischen Markt bevorzugen.

Der Beitrag von Calcara und Simón greift eine Diskussion aus dem Forschungsbereich der Politischen Ökonomie auf, die sich mit der Globalisierung der Rüstungsindustrie befasst.1 Die vor allem nach dem Ende des Kalten Kriegs beschleunigte Globalisierung der Produktion habe auch die Rüstungsindustrie betroffen, bei der Staaten jedoch stärker als in anderen Branchen Autonomie bevorzugen würden.2 Bei gleichzeitigen Kostensteigerungen stelle sich die Frage, inwiefern Staaten dieses Maß an Autonomie aufrechterhalten können. Die EU stehe spätestens seit dem Vertrag von Maastricht vor dem Problem, ob und wie eine tatsächliche Verteidigungsunion inklusive einer Integration des Rüstungsmarkts etabliert werden kann.3

Größere EU-Mitgliedsstaaten wie Frankreich oder Deutschland hätten Calcara und Simón zufolge ein stärkeres Interesse an einem gemeinsamen, aber in sich geschlossenen europäischen Rüstungsmarkt. Davon erhofften sie sich relative Gewinne sowohl gegenüber anderen EU-Mitgliedsstaaten als auch globalen Wettbewerbern. Kleinere Staaten wie Schweden oder Polen hingegen würden einen offenen EU-Rüstungsmarkt bevorzugen, der auch Akteure wie die USA oder das Vereinigte Königreich einbezieht. Hinter dieser Position stehe das Anliegen, sich gegenüber größeren EU-Staaten behaupten zu können.

Die Autoren konzeptualisieren den europäischen Rüstungsmarkt als Zwei-Ebenen-Spielfeld. Auf dem oberen Spielfeld konkurrierten die Europäer mit globalen Wettbewerbern, vor allem den USA, die aufgrund ihres Verteidigungshaushalts in unvergleichlicher Weise von skalenökonomischen Effekten profitieren. Auf dem unteren Level stünden die Europäer auch untereinander im Wettstreit. Hier seien größere EU-Mitgliedsstaaten im Vorteil.

Calcara und Simón argumentieren, dass letztere von einer Abschottung in Form eines rüstungswirtschaftlichen Protektionismus auf EU-Ebene profitieren würden. Ihre vergleichsweise große Marktmacht wäre für kleinere EU-Staaten unüberwindbar. Protektionismus würde somit zu einer innereuropäischen Konzentration von Rüstungsunternehmen aus großen EU-Staaten führen. Dadurch entstünden europäische Rüstungschampions. Das würde zwar die Position dieser Staaten und ihrer Unternehmen auf der globalen Ebene stärken, allerdings zum Preis der kompletten Aufgabe rüstungsindustrieller Autonomie kleinerer EU-Staaten, die eine solche Form des Protektionismus aus nachvollziehbaren Gründen ablehnten. Ein auch für Nicht-EU-Staaten offener Markt biete hingegen auch kleineren EU-Staaten die Möglichkeit, sich als Nischenproduzenten für bestimmte Komponenten oder Märkte in Kooperation mit globalen Akteuren zu platzieren.

Mithilfe ihrer Theorie erklären Calcara und Simòn die nationalen Positionierungen in Bezug auf den Europäischen Verteidigungsfonds (EVF). Der EVF wurde von der Juncker-Kommission (2014-2019) als Teil des Europäischen Verteidigungsaktionsplans Ende 2016 nach dem Brexit-Referendum und dem Sieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen eingeführt. Mit einem Budget von derzeit acht Milliarden Euro versucht die Europäische Kommission, eine größere Rolle in der europäischen Verteidigung zu übernehmen und gemeinsame europäische Rüstungsprojekte zu finanzieren. Calcara und Simóns Ergebnisse verdeutlichen jedoch, warum eine Konsolidierung der europäischen Rüstungsindustrie hohe Hürden überwinden muss: Ihre Analyse der Positionierungen Deutschlands und Frankreichs auf der einen und Polens und Schwedens auf der anderen Seite in der Diskussion um die institutionelle Ausgestaltung und die Mitwirkung von Drittstaaten zeigt, dass die zwei größeren EU-Staaten einen europäisch integrierten, aber global abgeschotteten Rüstungsmarkt bevorzugen. Die zwei kleineren Staaten zielen hingegen auf einen für Drittstaaten offenen europäischen Rüstungsmarkt.

Der Beitrag macht die politische Debatte um den Zielkonflikt zwischen Autonomie und Effizienz nachvollziehbar, der mit rüstungswirtschaftlichen Dynamiken einhergeht. Denn oftmals ist es für Staaten effizienter, Rüstung aus dem Ausland zu beschaffen. Das führt jedoch zu einer Schwächung staatlicher Autonomie aufgrund der entstehenden Abhängigkeitsbeziehungen. Das rüstungswirtschaftliche Zwei-Ebenen-Spiel zeigt, dass der Umgang von Staaten mit diesem Zielkonflikt nicht nur in einem globalen Zusammenhang, sondern auch auf regionaler Ebene gesehen werden muss. Hier sind es vor allem die Marktgröße und damit einhergehende Marktmacht, die die institutionellen Präferenzen von EU-Mitgliedstaaten beeinflussen. Um das politische Ziel eines vollständig integrierten europäischen Rüstungsmarkts zu erreichen, müssten größere EU-Staaten also die Bedenken kleinerer Länder ernst nehmen. Denn: Auch europäische „Rüstungs- Champions“ können nur unter Einbeziehung kleiner und mittlerer EU-Staaten und ihrer Industrien entstehen.

Fußnoten
3

Jonathan D. Caverley: United States Hegemony and the New Economics of Defense. In: Security Studies. Band 16, Nr. 4, 2007, S. 598–614. https://doi.org/10.1080/09636410701740825; Stephen G. Brooks: Producing Security. Multinational Corporations, Globalization, and the Changing Calculus of Conflict. Princeton University Press, Princeton, N.J. 2007, ISBN 9780691130316.

Stephanie G. Neuman: Power, Influence, and Hierarchy. Defense Industries in a Unipolar World. In: Defence and Peace Economics. Band 21, Nr. 1, 2010, S. 105–134. https://doi.org/10.1080/10242690903105398; Richard A. Bitzinger: The Globalization of the Arms Industry. The Next Proliferation Challenge. In: International Security. Band 19, Nr. 2, 1994, S. 170. https://doi.org/10.2307/2539199

Der Vertrag von Maastricht trat 1993 in Kraft und vertiefte die europäische Integration, indem er die Europäische Gemeinschaft (EG) zur Europäischen Union weiterentwickelte. Ein Teil dieser Entwicklung war die Einführung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die wiederum die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) beinhaltet. Die politische Intention des Vertrags war eine kontinuierliche Integration dieser Politikfelder. Allerdings beinhaltete der in Maastricht beschlossene Vertrag über die Arbeitsweise der EU (TFEU) den Artikel 296 (heute Artikel 346), der es Mitgliedsstaaten erlaubt, Rüstungsaufträge von EU-weiten Ausschreibungen auszunehmen. Dies wirkt bis heute einer besseren Integration des europäischen Rüstungssektors entgegen. Siehe dazu auch Asle Toje: The Consensus-Expectations Gap: Explaining Europe’s Ineffective Foreign Policy. In: Security Dialogue. Band 39, Nr. 1, 2008, S. 121-141. https://doi.org/10.1177/0967010607086826 und Erkki Aalto: Interpretations of Article 296. In: Dan Keohane, Erkki Aalto (Hrsg.): Towards a European Defence Market (Chaillot Papers), 2008, EU Institute for Security Studies, Paris, S. 13-50. https://www.jstor.org/stable/pdf/resrep06984.4.pdf.

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Der Vertrag von Maastricht wurde 1992 geschlossen und trat 1993 in Kraft. Es handelt sich um ein komplexes und mehrteiliges Vertragswerk, das insbesondere die wirtschaftliche Integration der Europäischen Gemeinschaft (EG) vorantrieb und den Grundstein für die spätere Einführung des Euro als gemeinsame europäische Währung legte.

Das Zwei-Ebenen-Spiel ist ein Begriff aus der Spieltheorie. Er beschreibt Situationen, in denen Akteure gleichzeitig auf zwei Ebenen handeln, sodass die Ergebnisse sich gegenseitig beeinflussen. In der Politikwissenschaft werden internationale Verhandlungen oft als Zwei-Ebenen-Spiel beschrieben.

Skalenökonomische Effekte oder auch Skaleneffekte bedeuten, dass durch die Steigerung der Produktionsmenge, die Stückkosten pro Produktionseinheit sinken, da sich die Fixkosten (Investitionen in Kapital und Arbeit) über eine höhere Anzahl von Produkten strecken lassen.

Der Europäische Verteidigungsfonds (EVF) oder European Defense Fund (EDF) fördert mit einem Budget von ca. acht Milliarden Euro die gemeinsame Forschung und Entwicklung militärischer Fähigkeiten und soll somit die europäische Verteidigungsindustrie stärken. Zusammenschlüsse bestehend aus mindestens drei Unternehmen oder Einrichtungen, die aus mindestens drei EU-Mitgliedstaaten stammen, können Fördermittel aus dem EDF beantragen und empfangen. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen sollen hierbei Beachtung finden. Die Entscheidungen über die Fördermittel werden größtenteils von einer von der EU-Kommission bestimmten Expertengruppe getroffen.

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