Curator's Cut, 08 Dez 2023

Vogelweide Mogelweide: Verfällt unsere Sprache?

Mehrsprachigkeit gehört für die Mehrheit der Menschen zum Alltag. Dabei passiert es ganz natürlich, dass verschiedene Sprachen miteinander in Kontakt kommen und sich schließlich vermischen. Schadet ihnen dies – oder führt es gar zu ihrem Verfall? Die te.ma-Kurator*innen Deborah Arbes und Julian Andrej Rott sprechen über Wandel, Verlust und Wiederbelebung von Sprachen. 

Mehrsprachigkeit

„Ist Sprachmischung gleich Sprachverfall?“ Das ist die Leitfrage unseres aktuellen Clusters. Tatsache ist: Die deutsche Sprache wird von anderen Sprachen beeinflusst. Das merken wir unter anderem an der Verbreitung von Anglizismen. Ist das aber bereits eine Gefahr für die Sprache? Was bedeutet eigentlich „Sprachverfall“ und wie sieht eine verfallene Sprache aus? Bedeutet Sprachverfall gleich Sprachtod? Wie wir sehen, ergeben sich aus unserer ersten Frage sofort viele weitere. Genau diese besprechen wir hier in unserem Curator’s Cut. Dafür teilen wir im Dialog Erkenntnisse aus dem Bereich Sprachwandel und Sprachkontakt und stellen die Antworten der aktuellen Forschung vor. Zunächst aber müssen wir Definitionen finden...

DA: Was ist nun eigentlich Sprachverfall?

JAR: Den Begriff kann man zunächst auf zwei Arten verstehen: als Prozess, in dem sich eine Sprache oder vielmehr ihre Sprecher*innen aktuell befinden können, oder als Resultat. Letzteres scheint intuitiv ganz einleuchtend: Eine Sprache ist verfallen, ausgestorben, wenn kein noch lebender Mensch sie mehr sprechen oder verstehen kann. Die Sprache wird dann irgendwann möglicherweise zu einem toten Zeichensystem. Eine verfallene Ruine, die ihrem Zweck nicht mehr dient. Wobei man sich auch hier fragen muss, welchen Bezugsrahmen man annimmt: Latein gilt landläufig auch als tote Sprache (wer sie lernt, kann später damit keine Pizza bestellen). Aber natürlich ist es nicht verfallen. Es hat sich weiterentwickelt und aufgespalten in die etwa 44 romanischen Sprachen, die es heute gibt. Ein gradueller Prozess. Auch wenn man vielleicht grob sagen könnte, dass Latein aufhörte zu existieren, als die unterschiedlichen Dialekte zu viele Unterschiede entwickelt hatten, um von den jeweils anderen Sprecher*innen verstanden zu werden.1 Das ist aber vermutlich weniger das, was Menschen meinen, die Angst haben, ihre Sprache ginge verloren. Sie sprechen dann eher von erstgenannter Art, den Sprachverfall zu verstehen: vom Prozesshaften, von einer wahrgenommenen Veränderung innerhalb ihrer Lebenszeit. 

DA: Und diese Veränderung wird dann als etwas Negatives erfahren. 

JAR: Genau. Leute um einen herum reden anders, als man es selbst gewohnt ist. Das stört, denn Sprache ist ein wichtiger Teil unserer Identität, und wer merkt, dass sich das Umfeld sprachlich wegbewegt, den*die kann das belasten. Die Veränderung kann eine rein zeitliche sein, einfach dadurch, dass man altert und jüngere Menschen so innovativ mit der Sprache umgehen, wie man es selbst einst tat. Sie kann aber auch eine demografische sein, wenn sich die Zusammensetzung des Umfeldes verändert und neue Sprachen auftauchen, die man zu hören nicht gewohnt ist. Die Linguistik spricht hier allgemein von Sprachwandel.

DA: Das sind vermutlich am ehesten die Effekte, die man im deutschen Kontext so beobachten kann, mit Ausnahme der kleineren Sprachen wie Plattdeutsch, Sorbisch oder Friesisch natürlich.

JAR: Das würde ich auch sagen. Mindestens das standardisierte Hochdeutsch ist alles andere als vom Aussterben bedroht: Etwa 130 Millionen Menschen sprechen es weltweit, rund 15 Millionen sind dabei, es als Fremdsprache zu lernen. Aber natürlich erfahren Menschen ihre Umwelt nicht als Statistiken. Es sind individuelle Wahrnehmungen, die Summe einzelner Kommunikationsmomente, die solche Ängste befeuern. Neben Faktoren wie der politischen Einstellung kann ich mir hier auch einige konkrete sprachliche Phänomene vorstellen, die Reibung verursachen, wie zum Beispiel das sogenannte Codeswitching: Manchmal hört man Menschen, die verschiedene Sprachen mischen, und das teilweise mitten im Satz. Ist man dabei nur einem Teil der verwendeten Sprachen mächtig, fühlt man sich vielleicht abgehängt oder unterstellt dem Gegenüber, dass die Kenntnisse nicht ausreichen, um sich vollständig in einer Sprache auszudrücken. Aber ist das so?

DA: Manchmal ist es tatsächlich so, dass mehrsprachigen Menschen das passende Wort in einer Sprache nicht sofort einfällt. Dann ist es natürlich praktisch, auf eine andere Sprache ausweichen zu können. Das ist aber nur einer von vielen möglichen Gründen für das Codeswitching. Einige Studien2 belegen3 sogar, dass Menschen, die zwei Sprachen sehr gut sprechen und seit dem Kindesalter gleichzeitig gelernt haben, häufiger codeswitchen als jene, die eine Sprache erst später gelernt haben. Somit kann Codeswitching auf eine stabile Art des Bilingualismus hinweisen. Abgesehen von der Sprachkompetenz gibt es noch viele andere Gründe für das Switchen: Beim situativen Codeswitching ändert sich etwas an der Gesprächssituation oder am Ort, z.B. wenn eine neue Person dazukommt oder die Personen den Ort wechseln. Beim konversationellen Codeswitching kann die Sprache gewechselt werden, um Vertraulichkeit oder Solidarität auszudrücken oder die gemeinsame kulturelle Identität zu betonen. In anderen Fällen wird ein Wort oder Satzteil in einer anderen Sprache wiederholt, um sicherzustellen, dass alle Beteiligten es genau verstehen. Und in poetischen Kontexten werden Sprachen für Wortspiele oder Pointen vermischt. All das deutet eher auf eine Bereicherung der Sprache hin als auf einen Verfall.

JAR: Da gebe ich dir Recht. Das wirkt ja insgesamt schon eher systematisch, fast schon verspielt.

DA:  Ja. Linguist*innen haben herausgefunden, dass beim Codeswitching spezielle grammatikalische Regeln gelten. Es wird sich nicht wahllos an mehreren Sprachen bedient. Carol Myers-Scotton4 hat beispielsweise festgestellt, dass es in den meisten Fällen eine sogenannte Matrix Language gibt, die als Rahmen die grammatische Struktur des Satzes bereitstellt. Deshalb heißt ihr Modell „Matrix Language Frame“ (MLF). Die andere Sprache wird Embedded Language (eingebettete Sprache) genannt und sie kann sowohl einzelne Wörter, ganze Sätze oder, wie im folgenden Beispiel, Satzteile5 beisteuern: 

Ella es an accountant 

sie(spa) ist(spa) Buchhalterin(eng)

„Sie ist Buchhalterin“6

Gerne werden auch Interjektionen, Füllwörter oder idiomatische Ausdrücke in die Matrix-Sprache „eingebettet“. Im Kiezdeutschen kommt z.B. häufig das arabische Wort wallah („ich schwöre“, wörtlich „und Allah“) vor. 

JAR: Durch die Verwendung von fremden Strukturen kann sich eine Sprache aber schon verändern, das sehen wir ja an dem kiezdeutschen Beispiel. Bedeutet das einen beginnenden Sprachverfall? 

DA: Sprachwandel ist ein natürliches Phänomen und jede lebendige Sprache verändert sich mit der Zeit. Das heißt aber nicht, dass sie dadurch verfällt oder ausstirbt. Lars Johanson7 schreibt, dass es keine empirischen Belege dafür gibt, dass strukturelle Veränderungen durch Sprachkontakt zu einem Sprachtod führen. Für Sprachtod gibt es andere Gründe. Diese sind sozialer Natur – darauf können wir gleich noch genauer eingehen. Die Integration von Lehnwörtern oder auch Codeswitching machen eine Sprache also nicht weniger wertvoll. Es ist lediglich eine weitere Art, sich in der Sprache auszudrücken…

JAR: …oder auch neue Möglichkeiten dafür zu schaffen. Mir fällt da noch die sogenannte m-Reduplikation ein, die sich aus dem Türkischen ins Kiezdeutsche übertragen hat. Im Türkischen drückt sie eine konzeptuelle Erweiterung aus: Aus çay „Tee“ wird çay may, was etwa so viel bedeutet wie „Tee und so“ – also Tee und alles, was im kulturellen Referenzrahmen dazugehört. Die Linguistin Ulrike Freywald hat die Entlehnung dessen ins Deutsche näher untersucht8 und konnte zeigen, dass sich durch die Übernahme dieser grammatischen Regel das schon vorhandene Instrumentarium des Deutschen an bedeutsamer Wortwiederholung (z.B. in „Wir lesen da echt so Literatur-Literatur“ oder in „glitzer-glitzer“, „laber-laber“) um einen ganz spezifischen, alltagstauglichen Zweck erweitert hat. Dabei kommt sogar noch eine Bedeutungsnuance hinzu, denn auf Deutsch bekommt das Ganze manchmal einen flapsigen, abwertenden Beigeschmack, wie auch die Linguistinnen Heike Wiese und Nilgin Tanış Polat befinden9

Wir gucken immer spontan, nicht so wie ihr so planen manen und so…

Mindestens auf Kiezdeutsch können sich jetzt sogar differenzierte Bedeutungsschattierungen ausdrücken, für die es zuvor kein eindeutiges Mittel gab. Ich könnte mir vorstellen, dass sich so etwas auch in die allgemeine Sprache übertragen könnte.

DA: Manchmal ergeben sich durch Lehnwörter auch neue Bedeutungsunterscheidungen, die sich als sehr nützlich erweisen. Ich habe z.B. vor Kurzem von einer Sprecherin des Deutschen gelesen, die das Wort „Familie“ für ihre Kernfamilie nutzt und das englische Wort family für die erweiterte Verwandtschaft. Oftmals habe ich im Deutschen auch schon die englischen Wörter boyfriend und girlfriend gehört, die anscheinend notwendig geworden sind, weil das Wort „Freund/Freundin“ ambig ist. Es wird ja sowohl für Freundschaften als auch für romantische Beziehungen verwendet, und mit dem englischen Wort kann man sichergehen, dass alle die richtige Bedeutung verstehen.  

JAR: Traditionellerweise grämen die Leute ja am meisten genau solche Anglizismen. Auch viele Begriffe aus der Technikwelt werden dabei übernommen. Besonders in der Sprache der jüngeren Generationen finden sich auch Wendungen wie safe, slay, actually, iconic, I don’t know, und es gibt Anzeichen darauf, dass eine Bilingualität mit dem Englischen eine Art Identitätsmarker sein kann. In anderen Sprachen wie z.B. dem Isländischen wehrt man sich, zumindest auf der Ebene der Standardsprache, gegen solche Einflüsse. Es gibt dort eigens eine Sprachkommission, die gesetzlich bindende Worte für alle neuen Konzepte entwickelt. Auch Frankreich hat mit der Académie française solche Strukturen. In Deutschland gibt es nichts Vergleichbares. Sprechen wir also in 100 Jahren alle Englisch?

DA: Bislang sieht es nicht danach aus. Es gibt zwar einige Anglizismen im Deutschen, aber laut Statistik sprechen bisher nur sechs Prozent der deutschen Haushalte vorwiegend Englisch. Das Deutsche ist bisher nur sehr wenig von strukturellen Veränderungen aufgrund von Sprachkontakt betroffen. Kristin Kopf legt das sehr anschaulich in einem Blogbeitrag dar. Es gibt Sprachen, die mit dem Englischen wesentlich engeren Kontakt haben als das Deutsche. In Wales z.B. gibt es große Sorgen um die Zukunft des Walisischen, denn es kommen seit Jahrhunderten englische Wörter und Lehnübersetzungen in die Sprache. Trotzdem attestierten Deuchar und Davies10 dem Walisischen, dass es durch Vermischung mit dem Englischen nicht bedroht sei. Das liege vor allem daran, dass der grammatische Rahmen (Matrix Language) weiterhin das Walisische ist und englische Lehnwörter so in die walisische Grammatik integriert werden. 

JAR: Walisisch ist ein guter Stichpunkt. Wir haben hier bei te.ma ja schon diskutiert, dass die keltischen Sprachen, zu denen es zählt, eine interessante Entwicklung durchgemacht haben. Walisisch ist dabei noch ziemlich stabil. Andere keltische Sprachen, wie das Kornische, sind tatsächlich vom Englischen verdrängt worden und hatten lange überhaupt keine Sprecher*innen mehr. Zwei wichtige Anhaltspunkte für die Vitalität einer Sprache sind: Sprechen junge Menschen die Sprache und in welchen Domänen wird die Sprache verwendet? Wenn Kinder die Sprache lernen und sich Menschen auf der Sprache über Politik und Wissenschaft austauschen können, ist sie definitiv lebendig. Wenn nur noch ältere Menschen die Sprache beherrschen und sie auf wenige Domänen beschränkt ist, ist das ein Warnsignal für den bevorstehenden Sprachtod. Der Sprachverfall kann also durchaus passieren. Was dann?

DA: Wenn eine Sprache endgültig ausstirbt, ist es kein leichtes Unterfangen, sie wiederzubeleben. Es gab immerhin Gründe, warum die Sprechenden ihre Sprache aufgegeben haben. Meistens hat das mit niedrigem Sprachprestige und Machtausübungen einer größeren Sprachgemeinschaft zu tun. Sprachverfall passiert aber nicht von heute auf morgen, sondern ist ein Prozess, der über mehrere Generationen andauert. Oftmals stirbt nicht die komplette Sprache auf einmal aus, sondern der Gebrauch reduziert sich schrittweise. Kevin Behrens berichtet zum Beispiel, dass das Niederdeutsche gern für leichte Konversationen genutzt wird, aber bei ernsten oder wissenschaftlichen Themen oftmals auf Hochdeutsch ausgewichen wird. Das ist eine Art von Sprachverfall: Der Verlust der höheren Register. Nancy Dorian11 stellt auch für das Schottisch-Gälische fest, dass bei den Semi-Speakern komplette grammatische Kategorien sowie stilistische Variationen verloren gehen. 

JAR: Umgekehrt kann eine Sprache aber auch alltagsuntauglich werden und nur noch formalisiert für bestimmte Zwecke dienen, zum Beispiel in religiösen Kontexten. So verwendet unter anderem die russisch orthodoxe Kirche das Kirchenslawische als Liturgiesprache, das (einige Modernisierungen ausgeklammert) einem Sprachstand von vor etwa 1000 Jahren entspricht. Auch Flüche, Floskeln und andere Versatzstücke können sich lange in einer Gemeinschaft halten, auch wenn die übergeordnete Kompetenz schon lange nicht mehr vorliegt.

DA: Es gibt wenige Sprachen, die in mehreren Domänen ausgestorben waren und erfolgreich wiederbelebt werden konnten. Hebräisch war vor dem 19. Jahrhundert keine Alltagssprache, sondern wurde hauptsächlich als Schriftsprache im religiösen Kontext verwendet. Heutzutage ist das moderne Hebräisch sogar Amtssprache des Landes Israel. Dort gab es also eine erfolgreiche Umwandlung und viele haben die Sprache neu gelernt. Die kornische Sprache war Anfang des 20. Jahrhunderts als Alltagssprache schon lange ausgestorben und nur noch in Form von Ortsnamen in Cornwall sichtbar. Anhand einer kleinen Anzahl von Texten konnten sich Sprachwissenschaftler die Sprache wieder aneignen und anschließend weiter verbreiten. Mit dem „Celtic Revival“ gab es einen Wunsch nach keltischen Identifikationsmerkmalen, keltische Sprachen waren eines davon. 

JAR: Was braucht es für eine erfolgreiche Wiederbelebung?

DA: Die besten Chancen bestehen, wenn es noch Sprechende gibt, die die Sprache einigermaßen kompetent beherrschen. Das war zum Beispiel beim Manx der Fall, wo es sogar Video- und Tonbandaufnahmen des letzten Muttersprachlers Ned Maddrell gibt. Aber oftmals gibt es nur noch Menschen, die sich an die Sprache erinnern, sie aber nur bruchstückhaft beherrschen. Diese nennen wir Semi-Speakers oder auch Rememberers.

JAR: Wenn absolut niemand mehr die Sprache spricht, kann es sein, dass es noch alte Texte gibt. Dann können Linguist*innen eine Grammatik und ein Wörterbuch erstellen. Das ist aber meistens recht lückenhaft und vor allem ist die Aussprache in ihren Feinheiten oft unklar. Außerdem stellt sich für den Fall, dass es Texte aus mehreren Epochen gibt, die Frage, welche Sprachform revitalisiert werden soll. Und natürlich fehlt es an Vokabular für Lebensbereiche, die sich nach dem Verschwinden der Sprache entwickelt haben. Auch dafür muss man sich Strategien überlegen. 

DA: Das war zum Beispiel beim Kornischen der Fall. Eine Orientierung an einer späten Version des Kornischen hätte die Illusion eines „nahtlosen Übergangs“ ermöglicht. Es gibt aber auch die Auffassung, dass das „Late Cornish“ schon zu sehr vom Englischen korrumpiert war. Weil die meisten überlieferten Texte aus dem Mittelkornischen stammen, orientierte sich die Sprachrevitalisierung zu großen Teilen an dieser mittleren Epoche, die weitaus weniger Einflüsse aus dem Englischen aufweist. Und bei Lücken im Vokabular wurden Parallelen zu anderen keltischen Sprachen gefunden. 

JAR: Zurück zum Deutschen: Mal hypothetisch angenommen, mehrere Generationen würden aufhören, die deutsche Sprache an ihre Kinder weiterzugeben, der Sprachtod stünde vor der Tür und nur noch vereinzelte Menschen könnten sich daran erinnern, dass es mal eine deutsche Sprache gegeben hat. Welche Sprache würden wir revitalisieren wollen? Die Auswahl ist groß, die Literatur reicht ja einige hundert Jahre zurück, schriftliche Belege gibt es sogar seit dem 8. Jahrhundert. Wären die Lutherbibel oder das Deutsch der Gebrüder Grimm ein Anhaltspunkt? Oder würden wir versuchen, möglichst das neueste Deutsch, so wie es wirklich gesprochen wurde, mit all seinen Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts wiederzubeleben?

DA: Auf die Frage gibt es sicherlich so viele Meinungen wie Sprechende. Wichtig dabei ist, was das Ziel dieser Überlegungen ist und warum die Sprachgemeinschaft ihre Sprache wieder nutzen möchte. Soll die Unterbrechung in der Sprachweitergabe symbolisch rückgängig gemacht werden? Dann sollte man sich an der neuesten Version der Sprache orientieren und den Sprachwandel akzeptieren. Manche Sprechenden von revitalisierten Sprachen möchten aber auch gerne so wie ihre Urahnen kommunizieren, um sich mit ihnen verbundener zu fühlen. Sprechende des modernen Hebräisch fragen sich zum Beispiel, ob Mose verstanden würde, wenn er im heutigen Israel nach einem Brot fragen würde. Heute könnten wir uns fragen, ob ein zeitreisender Walther von der Vogelweide Spaß an einem Poetry Slam hätte oder ob die Gebrüder Grimm bei einem Fanta 4 Konzert mitsingen würden.  

JAR: Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass es für eine nachhaltige Revitalisierung eine große Unterstützung aus der Zielsprachgemeinschaft braucht, um diesen Prozess durchzuhalten. Erwachsene müssen sich die Sprache aneignen und konsistent an ihre Kinder weitergeben. Es müssen Infrastrukturen geschaffen werden, für deren sinnvolle Handhabe wiederum Leute entsprechende Kompetenzen aufweisen müssen. Dann muss das Ganze finanziell und zwischenmenschlich einige Generationen lang aufrechterhalten werden, bis es sich „verselbstständigt“. Aber aus Sicht der sprachlichen Vielfalt kann man natürlich sagen, dass auch eine nur teilweise wiederbelebte Sprache einen Wert hat. Und letztlich wird sich selbst bei Vermeidung aller externen Einflüsse der zeitliche Wandel nicht aufhalten lassen, denn er gehört zur menschlichen Sprache dazu.

DA: Auch ohne Kiezdeutsch und Anglizismen hätte Walther von der Vogelweide nach einer unverhofften Zeitreise heute eine schwierige Zeit. Wem kein solcher Epochensprung bevorsteht und wer sich trotzdem um das Überleben seiner Sprache sorgt, sollte sich am besten kurz selbst fragen, ob der eigene Eindruck wirklich ein objektiver ist. Wird meine Sprache in Medien, Schule und Politik verwendet? Nutzen die meisten Leute in meinem Land die Sprache aktiv und für jeden Lebensbereich? Sind die Antworten positiv, dann kann man sich – vermutlich – beruhigen.

Fußnoten
11

Der ungarische Romanist József Herman veranschlagte diesen Zeitpunkt etwa auf die zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts: József Herman: Le Latin vulgaire. Presses universitaires de France, Paris 1975. 

Shana Poplack: Sometimes I’ll start a sentence in Spanish Y TERMINO EN ESPAÑOL: Toward a typology of code-switching. In: Linguistics. Band 18, Nr 7–8, 1980, S. 581–618.

Margaret Deuchar, Kevin Donnelly, Caroline Piercy: ‘Mae pobl monolingual yn minority’: Factors Favouring the Production of Code Switching by Welsh-English Bilingual Speakers. In: Mercedes Durham, Jonathan Morris (Hrsg.): Sociolinguistics in Wales. Palgrave Macmillan, London 2016, ISBN 978-1-137-52897-1, S. 209–239.

Carol Myers-Scotton: Contact Linguistics: Bilingual Encounters and Grammatical Outcomes. Oxford University Press, New York 2002, ISBN 0-19-829952-4.

Die Fachbegriffe hierfür sind „inter- und intraphrasales Codeswitching“. Bei ersterem werden die Sprachen an der Satzgrenze gewechselt, bei letzterem findet der Sprachwechsel im Satz statt (wie im Beispiel oben).

Diana Carter, Margaret Deuchar, Peredur Davies, María del Carmen Parafita Couto: A Systematic Comparison of Factors Affecting the Choice of Matrix Language in Three Bilingual Communities. In: Journal of Language Contact. Band 4, Nr. 1, 2011, 153–183.

Ulrike Freywald: Total reduplication as a productive process in German. In: Studies in Language. Band 39, Nr. 4, 2015, S. 905–945.

Heike Wiese, Nilgin Tanış Polat: Pejoration in contact: m-reduplication and other examples from urban German. In: Rita Finkbeiner, Jörg Meibauer, Heike Wiese (Hrsg.): Pejoration. John Benjamins, Amsterdam/Philadelphia 2016, S. 243–268.

Margaret Deuchar & Peredur Davies: Code switching and the future of the Welsh language. In: International Journal of the Sociology of Language. Nr 195, 2009, S. 15-38.

 Nancy C. Dorian: The Problem of the Semi-Speaker in Language Death. In: Linguistics. Band 15, Nr. 191, 1977, S. 23-32.

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Anglizismen sind Lehnwörter aus dem Englischen.

Sprachdomänen sind Bereiche, in denen Sprache verwendet wird. Das können z.B. Familie, Freunde, Arbeitsplatz oder öffentliche Institutionen sein. Je nach Domäne nutzen wir Sprache unterschiedlich und passen Stil und Formalität an.

Bei Interjektionen handelt es sich um wortähnliche Lautäußerungen, die bestimmte Empfindungen, Reaktionen oder Aufforderungen audrücken und oftmals von der Satzstruktur isoliert auftreten (z.B. „oh“, „ah“, „pfui“ oder „hmm“).

Als Register werden in der Linguistik Sprachstile bezeichnet, die charakteristisch für eine bestimmte Kommunikationssituation sind. Kompetente Sprecher*innen können ihren Stil an die jeweilige Situation anpassen und  unterscheiden dabei z.B. Grade der Formalität, Höflichkeit, Altersunterschied und reflektieren den relativen sozialen Status des Gegenübers.

Begriffe oder Redewendungen werden 1:1 von einer Sprache in die andere übersetzt. Etwa „Wolkenkratzer“ aus dem Englischen („Skyscraper“).

Das Walisische (Eigenbezeichnung Cymraeg) ist eine keltische Sprache, die in Wales von ca. 750.000 Menschen gesprochen wird. Es ist damit heute die Sprache mit den meisten Muttersprachler*innen innerhalb ihrer Sprachfamilie.

Kornisch (Eigenbezeichnung Kernewek oder Kernowek) ist eine keltische Sprache, die Ende des 18. Jahrhunderts ausstarb. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es Revitalisierungsbemühungen. Heute sprechen rund 550 Menschen fließend Kornisch, allerdings immer als Zweitsprache oder bilingual mit Englisch.

Semi-Speaker sind Menschen, die grundlegende sprachliche Kompetenzen in einer bestimmten Sprache erworben haben, diese aber nicht regelmäßig im Gespräch einsetzen.

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Sehr cool, das mit den m-Reduplikationen, das hatte ich noch nie gehört )) Erinnert mich an die russischen „рифмы-хуифмы“ – solche, hm … ich drück’s mal technisch aus: vulgarisierenden Wiederholungen. Man ersetzt beim Wiederholen eines Worts die erste Silbe mit dem inzwischen glaube ich weithin bekannten Morphem „khuj“ („Schw*nz“), eines der vier Allzweck-Wörter aus dem russischen „Mat“. Da kann man da zum Beispiel sagen: вмятина (Delle)-хуятина, im Kontext zum Beispiel: „He, in deinem Auto ist eine Delle!“ – „Delle-Schw*nzelle, mir sch…egal!“

Ist aber schon ein bestimmtes Register gekoppelt …

Hier ist ein ganz schöner Reddit-Thread auf Englisch, in dem es darum geht, und da kommen in einem Komment sogar auch die türkischen m-Reduplikationen zur Sprache:

https://www.reddit.com/r/russian/comments/y3mfs7/%D1%80%D0%B8%D1%84%D0%BC%D1%8B%D1%85%D1%83%D0%B8%D1%84%D0%BC%D1%8B/

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