Welche Theorien verstehen den Krieg?

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Stephen Walt2022

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 08.05.2023

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 08.05.2023

Der renommierte US-amerikanische Politikwissenschaftler Stephen Walt gibt in seinem Artikel einen Überblick über einige der großen Theorien der Internationalen Beziehungen. Er lotet aus, wie diese helfen können, den Krieg in der Ukraine zu verstehen und Handlungsoptionen für die Zukunft aufzuzeigen. Welche Theorien ließen sich bis dato zumindest teilweise bestätigen, welche haben sich als unzureichend erwiesen und welche könnten wichtige Hinweise zur Entwicklung des Kriegsgeschehens liefern?

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine ist die Rolle einzelner Fachdisziplinen, die ihre jeweils unterschiedlichen Erklärungen für diese Katastrophe liefern, des Öfteren kritisch hinterfragt worden. Das betrifft sowohl die Osteuropaforschung als auch die Friedens- und Konfliktforschung. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Stephen Walt schaut auf die Disziplin der Internationalen Beziehungen und bewertet, inwieweit sich einige ihrer gängigen Theorien dazu eignen, den Ukraine-Krieg zu erklären. 

Zunächst richtet er seinen Blick auf die beiden größten Theorien: Realismus und Liberalismus. Seiner Meinung nach habe der Krieg die anhaltende Relevanz der realistischen Perspektive bestätigt, die von einer Welt ausgeht, in der sich die Staaten konstant um ihre Sicherheit sorgen und für die Ausweitung ihrer Macht kämpfen, auch mit militärischen Mitteln.1 Der Einmarsch Russlands in die Ukraine erinnere die Realisten an die Invasion der USA in den Irak und daran, dass Großmächte manchmal auf schreckliche und törichte Weise handelten, wenn sie glaubten, dass ihre Sicherheitsinteressen auf dem Spiel stünden. Der Krieg veranschaulicht laut Walt auch ein anderes klassisches Konzept aus der realistischen Denkschule: das „Sicherheitsdilemma“.2 Es bedeutet keineswegs, Russlands brutale und illegale Handlungen in irgendeiner Weise zu rechtfertigen, sondern lediglich, sein Verhalten als einen bedauerlichen, aber wiederkehrenden Aspekt in den zwischenstaatlichen Beziehungen anzuerkennen. 

Auch die rasche westliche Reaktion auf die russische Invasion steht für Walt im Einklang mit einem realistischen Verständnis von Allianzpolitik: Gemeinsame Werte können den Zusammenhalt und die Dauerhaftigkeit von Bündnissen erhöhen, aber ernsthafte Verpflichtungen zur kollektiven Verteidigung ergeben sich in erster Linie aus der Wahrnehmung einer gemeinsamen Bedrohung.

Im Gegensatz dazu habe sich die liberale Theorie der Internationalen Beziehungen nicht bewährt. In der Tat waren weder das Völkerrecht noch die internationalen Institutionen imstande, die Invasion Russlands zu verhindern. Die Verurteilung der Invasion durch die UN-Generalversammlung mit einer deutlichen Mehrheit von 141 Staaten am 2. März 2022 konnte deren Verlauf ebenso wenig beeinflussen. Die wirtschaftlichen Interdependenzen und die Sanktionsrisiken haben Moskau auch nicht davon abgehalten, den Krieg zu beginnen. Andererseits argumentiert Walt, dass, wenn es Institutionen wie die Nato nicht gegeben hätte, die westliche Reaktion nicht einmal annähernd so schnell und wirksam ausgefallen wäre. Die gemeinsamen Werte, die die USA und ihre Nato-Verbündeten teilen, haben sie in der Notwendigkeit einer geschlossenen Reaktion erheblich bestärkt. In dieser Hinsicht hat sich der vom Liberalismus betonte Mehrwert von Institutionen und ihrer verbindenden Kraft zum Teil also doch bestätigt. 

Sowohl Realismus als auch Liberalismus gehen von der grundsätzlichen Rationalität der außenpolitischen Akteure aus. Putins Invasionsentscheidung ungeachtet möglicher wirtschaftlicher Verluste zeugt Walt zufolge jedoch eher vom Gegenteil. Außerdem würde niemand einen Krieg beginnen, von dem er glaubt, dass er lang, blutig und teuer sein wird und nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Putin scheint sich verkalkuliert zu haben: Er unterschätzte die ukrainische Entschlossenheit, überschätzte die Fähigkeit seiner Armee und schätzte die Reaktion des Westens falsch ein.3 Hierbei können die Annahmen über Fehlwahrnehmungen4 oder auch die Prospekt-Theorie dazu beitragen, die fatale Entscheidung Putins zu verstehen. Die Fachdisziplin der Internationalen Beziehungen bietet neben dem medial präsenten Realismus-Paradigma somit auch andere Ansätze, um Putins Kriegsentscheidung zu erklären.

Die Grundannahmen des Realismus legen allerdings nahe, warum Kriege schwer zu beenden sind. Stephen Walt hebt das Verpflichtungsproblem hervor: In einer anarchischen Welt können Staaten nämlich nie sicher sein, dass andere ihre Versprechen halten werden.5 Außerdem führen Propaganda und ständig wachsender Hass auf den Gegner zu einer Verhärtung der Fronten und dazu, dass Kriege auch dann noch weitergeführt werden, wenn rational betrachtet längst ein Schlussstrich hätte gezogen werden müssen. In einem solchen Fall, so die Erkenntnis aus Kriegsstudien, können die Kämpfe nur dann beendet werden, wenn eine politische Elite an die Macht kommt, die mit der Kriegsentscheidung nicht in Verbindung steht.6 
Der auch noch nach über einem Jahr Krieg gültige Appell des Artikels von Walt ist: Gerade in Kriegszeiten sollte man versuchen, Übertreibungen und vereinfachende Erklärungsmuster zu vermeiden und vor allem die Möglichkeit zuzulassen, dass die bedienten analytischen Zugänge der eigenen Fachdisziplin nur Teilaspekte, aber niemals das große Ganze dieses Krieges erfassen können.

Fußnoten
6

Als Vertreter der realistischen Schule ist Walt selbst nicht ganz unvoreingenommen. Das gibt er in seinem Text aber auch zu, wodurch er eine reflexive Haltung offenbart.

Es entsteht, wenn Maßnahmen, die ein Staat unternimmt, um die eigene Sicherheit zu erhöhen, andere Staaten unsicherer machen. Als Beispiel führt Walt die Nato-Osterweiterung an: Dass die osteuropäischen Staaten angesichts ihrer Angst vor einer russischen Aggression der Nato beitreten wollten, war aus seiner Sicht sinnvoll. Es dürfte aber auch leicht zu verstehen sein, dass die russische Führung aufgrund der geografischen Nähe dieser Länder diese Entwicklung als alarmierend empfand.

Laut „Washington Post“ trägt vor allem der russische Geheimdienst FSB die Verantwortung für die Fehleinschätzung, die zum Ukraine-Krieg führte:

S. dazu Robert Jervis und sein am kognitiv-psychologischen Ansatz orientiertes Buch Perception and Misperception in International Politics: https://www.jstor.org/stable/j.ctvc77bx3.

In seinem Buch How Wars End schreibt Dan Reiter, dass zwei zentrale Faktoren die Entscheidung über die Beendigung eines Krieges beeinflussen: Informationen über das Kräfteverhältnis und die Entschlossenheit des Gegners sowie die Befürchtung, dass die Zusage der anderen Seite, sich an eine Friedensregelung zur Beendigung des Krieges zu halten, nicht zuverlässig ist. D.h. auch wenn die Nato angeboten hätte, die ukrainische Mitgliedschaft für immer vom Tisch zu nehmen, hätte Putin dem möglicherweise nicht geglaubt, selbst wenn Washington und Brüssel diese Zusage schriftlich festgehalten hätten.

Siehe Fred Iklés: Every War Must End, 2005, Columbia University Press, ISBN 978-0231136679; Sarah Crocos: Peace at What Price? Leader Culpability and the Domestic Politics of War Termination, 2015, Cambridge University Press, ISBN 978-1107081499.

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