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Geschrieben von Julia Glathe

Bei te.ma veröffentlicht 08.11.2023

te.ma DOI 10.57964/v1a9-zf86

Geschrieben von Julia Glathe
Bei te.ma veröffentlicht 08.11.2023
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Die russische Invasion der Ukraine 2022 hat einen Massenexodus von Regimegegner:innen aus Russland verursacht. Die Sozialwissenschaftlerin Joanna Fomina analysiert das politische Engagement der Emigrant:innen im europäischen Ausland und ihre Reaktionen auf den Krieg. Sie sieht darin einen Beitrag zum Sturz des autoritären Regimes und die Grundlage für eine zukünftige Annäherung zwischen der ukrainischen, europäischen und russischen Gesellschaft.

Wenn es in deutschen Medien um die russischsprachige Bevölkerung geht, stehen häufig Putin-Anhänger:innen im Fokus. Die Gruppe der russischen Migrant:innen in Europa ist Joanna Fomina zufolge jedoch äußerst divers, auch hinsichtlich ihrer politischen Einstellungen. Bereits die Massenproteste gegen die Wahlfälschungen 2011/12 im Rahmen der russischen Präsidentschaftswahlen und die darauf folgende Repressionswelle habe viele Oppositionelle aus dem Land getrieben, die ihr Engagement für Demokratie und gegen das Regime nun im Ausland fortsetzen. Allein in den 20 Jahren seit Putins Amtsantritt als Ministerpräsident im Jahr 1999 haben schätzungsweise 1,6 bis 2 Millionen Russ:innen, insbesondere junge und gut ausgebildete, das Land gen Westen verlassen.

Nach der Verhaftung von Alexei Nawalny und der anschließenden Verfolgung seiner Anhängerschaft habe die politische Emigration 2019 neuen Auftrieb erhalten, so Fomina. Die Eskalation des russischen Krieges gegen die Ukraine 2022 sei nun zu einem „Katalysator für die Mobilisierung demokratisch gesonnener Russ:innen“ gegen den Krieg geworden. Getragen werde das Engagement von einer moralischen Verpflichtung, das russische Regime zu bekämpfen und sich mit der ukrainischen Bevölkerung zu solidarisieren.

Das politische Engagement russischer Emigrant:innen findet in etablierten Organisationen (z.B. durch die Boris-Nemzow-Stiftung in Bonn) und spontan gegründeten Initiativen, aber auch auf individueller Ebene durch die Teilnahme an Demonstrationen oder das Führen von Blogs statt. Thematisch konzentrierten sich die politischen Aktivitäten bis zur Annexion der Krim 2014 auf freie Wahlen, Menschenrechte und Umweltschutz. Nach 2014 und vor allem seit der Eskalation des russischen Kriegs gegen die Ukraine im Februar 2022, so Fomina, sei das Engagement gegen den Krieg zum zentralen Betätigungsfeld russischer Oppositioneller im Ausland geworden.

Fomina unterscheidet drei Formen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten gegen den Krieg. An erster Stelle nennt sie „symbolische Aktivitäten“. Dabei handelt es sich vor allem um Protestmärsche und andere öffentliche Veranstaltungen in europäischen Städten, bei denen gegen das Vorgehen Russlands demonstriert wird. Ein zentrales Symbol bei den Demonstrationen sei die weiß-blau-weiße Fahne, welche die weiß-blau-rote Nationalflagge der Russischen Föderation ersetzte, die „als Symbol für Blutvergießen, Unterdrückung und Totalitarismus“ stehe, so Fomina. Mit Hilfe der sozialen Medien findet die Mobilisierung und Zusammenarbeit „von pro-demokratischen und gegen den Krieg eingestellten Russ:innen“ in Europa transnational statt.1

Eine weitere Form des politischen Engagements bilde die finanzielle Hilfe und materielle Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge an den Grenzübergängen und in Flüchtlingsunterkünften. Angesichts der dramatischen Kriegsfolgen stellten russische Emigrant:innen kostenlose psychologische, medizinische und rechtliche Hilfe zur Verfügung oder engagierten sich als Dolmetscher:innen und Übersetzer:innen. Daneben unterstütze die russische Community aber auch Personen aus Russland, die aufgrund ihres zivilgesellschaftlichen Engagements das Land verlassen mussten.

Auch Informationsverbreitung und öffentliche Kommunikation seien wichtige Tätigkeitsfelder von emigrierten Journalist:innen und Wissenschaftler:innen. Diese versuchten der russischen Staatspropaganda und Desinformation entgegenzuwirken, indem sie die russische Bevölkerung über die tatsächlichen Ursachen und Entwicklungen des Krieges sowie über die Rolle Russlands und seiner Kriegsverbrechen aufklären.

Der Annahme, dass die Abwanderung aktiver, demokratisch orientierter Bürger:innen aus Russland zu einer weiteren „Zementierung des autoritären Regimes“ führe, widerspricht Fomina. Sie bezieht sich damit indirekt auf die bahnbrechende Studie von Albert O. Hirschman (1915-2012) aus dem Jahr 1970, die zwischen drei grundlegenden Optionen unterschied, die Menschen in Unternehmen, Organisationen und Staaten haben: exit (Ausstieg), voice (Einspruch), loyalty (Loyalität).2 Hinter der These, dass Emigration regimestabilisierend wirkt, steht die Annahme, dass Auswanderung, wenn sie in großem Umfang stattfindet, den politischen Druck im Land verringert. Wie mehrere Studien (und Hirschman selbst am Beispiel der DDR) seitdem jedoch immer wieder zeigen, lassen sich Emigration und politischer Aktivismus im Heimatland durchaus verbinden.3

Auch die Analyse der russischen Auslandsopposition zeige, dass diese in der Lage ist, ihre politischen Aktivitäten grenzüberschreitend fortzusetzen.4 Damit könnte sie zukünftig auch zum Sturz des autokratischen Regimes in Russland beitragen. Das pro-demokratische Engagement russischer Emigrant:innen sei zudem als Gegengewicht zur nationalistischen und militaristischen russischen Diaspora notwendig, die vor allem in Deutschland und Lettland wirkmächtig agiere. Schließlich sieht Fomina in den transnationalen politischen Aktivitäten die Grundlage für eine zukünftige Annäherung zwischen der ukrainischen, der europäischen und der russischen Gesellschaft. 

So wichtig wie dafür das Engagement der demokratischen russischen Exilgemeinde ist: Eine Annäherung zwischen der ukrainischen und der russischen Gesellschaft wird angesichts der russischen Kriegsverbrechen und der ukrainischen Traumata Generationen dauern und vor allem eine grundlegende gesellschaftspolitische Transformation innerhalb Russlands erfordern.

Fußnoten
4

Richard Price: Transnational Civil Society and Advocacy in World Politics. In: World Politics. Band 55, Nr. 4, 2003, S. 579–606. https://doi.org/10.1353/wp.2003.0024; Ann Florini: The Third Force. The Rise of Transnational Civil Society. Carnegie Endowment for International Peace and Japan Center for International Exchange, Washington DC 2012, ISBN 9780870031809.

Albert O. Hirschman: Exit, Voice, and Loyalty. Responses to Decline in Firms, Organizations, and States. Harvard University Press, Cambridge, MA 2004, ISBN 0674276604.

Albert O. Hirschman: Exit, Voice, and the Fate of the German Democratic Republic. An Essay in Conceptual History. In: World Politics. Band 45, Nr. 2, 1993, S. 173–202. https://doi.org/10.2307/2950657; Bert Hoffmann: Emigration and regime stability. The persistence of Cuban socialism. In: Journal of Communist Studies and Transition Politics. Band 21, Nr. 4, 2005, S. 436–461. https://doi.org/10.1080/13523270500363379; Vladimir Gel'man: Regime Changes despite Legitimacy Crises. Exit, Voice, and Loyalty in Post-Communist Russia. In: Journal of Eurasian Studies. Band 1, Nr. 1, 2010, S. 54–63. https://doi.org/10.1016/j.euras.2009.11.004

Laura Henry und Elizabeth Plantan: Activism in exile:. How Russian environmentalists maintain voice after exit. In: Post-Soviet Affairs. Band 38, Nr. 4, 2022, S. 274–292. https://doi.org/10.1080/1060586X.2021.2002629

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Offener Zugang bedeutet, dass das Material öffentlich zugänglich ist.
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Bolotnaja-Bewegung ist eine oft, aber nicht immer, abwertend gebrauchte Bezeichnung für die Proteste gegen Wahlfälschung und gegen Einiges Russland in den Jahren 2011–13, insbesondere deren Hochphase von Dezember 2011 bis Mai 2012. Der Begriff leitet sich vom Bolotnaja-Platz im Moskauer Stadtzentrum ab, auf dem drei der größten Demonstrationszüge (10.12.2011, 4.2.2012, 6.5.2012) endeten. Ein verwandter Begriff ist der Bolotnaja-Prozess. Dieser bezieht sich auf die Massenverhaftungen und anschließenden Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem Marsch der Millionen am 6.5.2012 auf dem Bolotnaja-Platz.

(Dekoder-Gnose von Steffen Halling: https://www.dekoder.org/de/gnose/krim-annexion): Als Krim-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krim in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krim ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland.

Alexei Nawalny ist ein bekannter russischer Oppositionspolitiker. Er wurde vor allem als Anti-Korruptions-Aktivist bekannt. Als Organisator landesweiter Demonstrationen und durch regelmäßig erscheinende Internetvideos konnte er seit den frühen 2010er Jahren seine Anhängerschaft kontinuierlich erweitern. Insbesondere seit dem Präsidentschaftswahlkampf 2018, von dem er ausgeschlossen wurde, war Nawalny immer umfangreicher der Repression des russischen Staates ausgesetzt. Seit Januar 2021 saß er im Gefängnis, später wurde er in eine Strafkolonie versetzt, wo sich sein Gesundheitszustand rapide verschlechterte.

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