Die vielen Heldinnen der Ukraine

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Kateryna Kobchenko2021

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Geschrieben von Hera Shokohi

Bei te.ma veröffentlicht 08.03.2023

te.ma DOI 10.57964/r4tf-e904

Geschrieben von Hera Shokohi
Bei te.ma veröffentlicht 08.03.2023
te.ma DOI 10.57964/r4tf-e904

Frauen spielten eine Schlüsselrolle in der sowjetischen Selbstdarstellung, da sie für Fortschritt und Emanzipation standen. Für ihre Taten und Errungenschaften im Zweiten Weltkrieg wurden sie in der Sowjetunion glorifiziert und memorialisiert. Kateryna Kobchenko untersucht, wie man sich in der postsowjetischen Ukraine an die sowjetischen Heldinnen erinnert.

Die Verkörperung der Sowjetunion war die Mutter Heimat – eine Frau. Frauen (vor allem Frauen im Militär) nahmen in der Sowjetunion einen zentralen Punkt in der Selbst- und Außendarstellung ein: Sie wurden als Heldinnen gefeiert und verehrt und fungierten als Vorbild und Propagandamittel zugleich. Diese Heldinnenverehrung gab es in allen sowjetischen Republiken, auch in der Ukraine. Die Historikerin Kateryna Kobchenko argumentiert, dass die Praxis der Heldinnenverehrung in abgewandelter Form noch bestehe: Man verzichte auf die Bezüge zur Sowjetunion, aber bediene sich noch ähnlicher Ästhetik und Erinnerungsrituale. 

Die Heldinnen und Helden der Sowjetunion waren diejenigen, die starben, als sie ihre Pflichten gegenüber dem Staat oder Stalin erfüllten. Dies sei die höchste Form von Heroismus gewesen, so Kobchenko. Insgesamt wurden in der Sowjetunion 95 Frauen als Held der Sowjetunion ausgezeichnet. Die meisten von ihnen hatten im Zweiten Weltkrieg etwas Bestimmtes geleistet oder ihr Leben geopfert. Eine der bekanntesten sowjetischen Frauen, die zur Heldin wurde, war Soja Kosmodemjanskaja, eine Partisanin, die 1941 im Alter von 18 Jahren von deutschen Besatzern gefoltert und hingerichtet wurde. Kobchenko schreibt, dass Kosmodemjanskaja als „Märtyrerin im Namen Stalins“ in das sowjetische Kollektivgedächtnis einging. Neben den Geschichten der Märtyrer, die sich für Mutter Heimat und Stalin opferten, waren die Biographien von Pilotinnen ein populärer Heldenmythos, denn das Fliegen, so Kobchenko, war das Symbol für Moderne und Fortschritt schlechthin. Kobchenko schreibt, dass der sowjetische Kult um tote Helden und Heldinnen sowie ihre Verehrung sie unsterblich gemacht habe. Durch Denkmäler und Erinnerungsrituale würden die Helden und Heldinnen ein dauerhaftes Dasein auf der irdischen Welt erhalten. 

In der Ukraine wurde im Mai 2015 die Politik der Dekommunisierung eingeführt, die dazu führte, dass auch die Helden und Heldinnen neu bewertet wurden. Die Helden der heutigen Ukraine seien überwiegend Menschen, die in der Sowjetunion als Feinde stigmatisiert wurden, so Kobchenko. Vor allem Angehörige der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) würde man in der postsowjetischen Ukraine in den Kanon der Helden aufnehmen. Die moderne Ukraine ist für Kobchenko ein Mosaik aus sowjetischen und modernen Erinnerungsorten. Dies zeige sich besonders deutlich bei der Konstruktion und Dekonstruktion von Denkmälern und bei der (Um-)Benennung von öffentlichen Plätzen und Straßen. Die sowjetischen Helden und Heldinnen, die nicht an stalinistischen Verbrechen beteiligt waren, bleiben in der Ukraine ein wichtiges Element der kollektiven Erinnerung.1

Mit anderen Heldinnen, wie zum Beispiel mit Soja Kosmodemjanskaja, gehe man dagegen ganz anders um. In der heutigen Ukraine werde sie eher als junges, unschuldiges Mädchen wahrgenommen und nicht als eine heroische Partisanin. Andere ukrainische Frauen, die seit der Unabhängigkeit in den Heldinnenkanon aufgenommen wurden, würde man auch weniger heroisch darstellen.2 Stattdessen liegt der Fokus auf der Tätigkeit der Heldinnen außerhalb des Politischen: Sie werden als Dichterinnen, Schriftstellerinnen und Intellektuelle dargestellt. Obwohl die Ukraine sich offiziell in einer Phase der Dekommunisierung befindet, verabschiedet sie sich nicht von allen heldenhaften Figuren. Sie werden vielmehr neu kontextualisiert und durch eigene nationale Heldinnen und Helden ergänzt.

Fußnoten
2

Die sowjetisch-ukrainische Pilotin Valentina Grizodubova (1909–1993), Heldin der Sowjetunion, sei zum Beispiel noch ein Symbol für den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Marina Raskova (1912-1943), ebenfalls Pilotin und Heldin der Sowjetunion, wird in der Ukraine nicht mehr als Heldin betrachtet, da das Ukrainische Institut für Nationale Erinnerung kritisierte, dass sie Offizierin des Volkskommissariats für Innere Angelgenheiten (NKWD) gewesen sei.

Kobchenko nennt als Beispiele die jüdisch-ukrainische Widerstandskämpferin Tetjana Markus und die Schriftstellerin und OUN-Angehörige Olena Teliha. Tetjana Markus nehme, so Kobchenko, eine Rolle als „eigene Soja“ ein, da sie durch ihre Tätigkeit im Widerstand mehrere Nazis tötete.

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