Ist ein gerechtes Ende des Krieges möglich?

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Ist ein gerechtes Ende des Krieges möglich?

»Right on Its Side, but Not Might?«

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 20.03.2023

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 20.03.2023

Soll die Ukraine weiter kämpfen, bis sie alle besetzten Territorien zurückerobert hat, oder Gebietsverluste vorerst akzeptieren und Verhandlungen mit Russland aufnehmen? Während die ukrainische Regierung auch nach dem ersten Kriegsjahr auf das Sieg-Szenario setzt, gibt es unter Fachleuten keine einheitliche Meinung. Drei Wissenschaftler des Friedensforschungsinstituts in Oslo vergleichen die Situation in der Ukraine mit der der griechischen Insel Melos, deren Herrscher vor rund 2500 Jahren vor einer ähnlichen Entscheidung standen.

Der deutsche Diplomat und ehemalige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger äußerte in einem Interview im Februar 2023 die Annahme, dass sich die Frage „Land für Frieden” für die Ukraine zukünftig stellen könnte. Er betonte, dass man sich bei der Entscheidung zwischen Krieg und Frieden fragen müsse, ob das Wünschbare auch machbar sei. 

Vor die Wahl zwischen dem Wünschbaren und dem Machbaren sind laut den Wissenschaftlern des Friedensforschungsinstituts in Oslo vor zweieinhalb Jahrtausenden auch die Herrscher der griechischen Insel Melos gestellt worden: entweder einen ungünstigen Kompromiss mit der athenischen Macht eingehen und ihre Unabhängigkeit aufgeben oder weiterkämpfen und eine vernichtende militärische Niederlage riskieren. Sie stützen sich dabei auf den griechischen Historiker Thukydides und seine Abhandlung zum Peloponnesischen Krieg.1 Laut dieser historischen Quelle lehnten die Melier jeden Kompromiss mit Athen ab und hofften auf die militärische Hilfe ihres Verbündeten Sparta. Sie konnten zwar auf dem Schlachtfeld einige Erfolge erzielen, doch ihre Verbündeten ließen sie im Stich. In der Folge fügte Athen den Meliern eine vernichtende Niederlage zu und kolonisierte die Insel. 

Was Thukydides damit zeigt, ist, dass das Streben nach Gerechtigkeit allein nicht ausreicht. Man braucht auch die Macht, es durchsetzen zu können. Lässt man sich allein vom Glauben an die Richtigkeit der eigenen Sache leiten, kann dies zu einer tödlichen Falle werden. 

Im Unterschied zur Antike, wo man dem Recht des Stärkeren kaum entgegentreten konnte, gibt es heute das Völkerrecht2 sowie klar definierte internationale Normen und Regeln. Doch selbst in der heutigen Zeit ist laut den Autoren ein ungünstiger Kompromiss manchmal besser als das Streben nach vollkommener Gerechtigkeit. Exemplarisch nennen sie das Beispiel Finnlands, das 1944 den Verlust eines Teils seines Territoriums akzeptiert hatte, dafür seine politische Unabhängigkeit aber bewahren und in einem integrierten Europa wirtschaftlich prosperieren konnte.3 Ein Kompromiss, der dem Aggressor trotz seiner illegalen Handlungen einen Vorteil beschert, möge ungerecht und moralisch verwerflich sein. Die Verweigerung eines Kompromisses könne jedoch katastrophale Folgen haben und dadurch letztendlich auch unmoralisch sein.

Eine konkrete Handlungsempfehlung für die Ukraine geben die Autoren nicht ab. Es liege an der Ukraine selbst zu entscheiden, welche Strategie ihren Interessen am besten entspricht. Sollte die Verhandlungsoption ernsthaft eruiert werden, sehen die Friedensforscher beispielsweise Indien als einen geeigneten Vermittler. Die Verhandlungen sollten ihrer Ansicht nach mit einem vorübergehenden Waffenstillstand und einer definierten Einigungsfrist beginnen. Der Status der Krim würde wahrscheinlich thematisiert werden, während der Rückzug Russlands aus der Ostukraine bis zu den international anerkannten Grenzen eine sinnvolle Grundforderung an Moskau darstellen könnte. 

Denn während auf dem Schlachtfeld nicht die Gerechtigkeit, sondern letztendlich allein die Stärke entscheidend ist, muss ein fairer Verhandlungsprozess den international anerkannten Grundsätzen von Recht und Moral folgen, um konstruktive und nachhaltige Ergebnisse produzieren zu können.

Fußnoten
3

Der Klassiker von Thukydides über den Peloponnesischen Krieg enthält einen Dialog zwischen Meliern und Athenern, in dem diese drei Lösungsoptionen im Hinblick auf ihre Vor- und Nachteile diskutieren: Melos unterwirft sich freiwillig, Melos bleibt neutral oder Athen unterwirft Melos mit Gewalt. Während die Melier mit Recht und Gerechtigkeit argumentierten, pocht Athen auf das Recht des Stärkeren, der bei ungleichen Verhältnissen seinen Willen durchsetzen könne. Siehe Thukydides, Der Peloponnesische Krieg (hrsg. von Georg Peter Landmann), Verlag Artemis & Winkler, 2002, S. 362-370. ISBN 3760841031.

Im Artikel 2, Punkt 4 der Charta der Vereinten Nationen wird  ausdrücklich das Gewaltverbot verankert: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Siehe  https://unric.org/de/charta/.

Im November 1939 begann die Sowjetunion einen Krieg gegen Finnland, der mit dem am 12.3.1940 in Moskau geschlossenen Frieden endete. Finnland musste der UdSSR u.a. Südostfinnland abtreten. Der sogenannte Fortsetzungskrieg zwischen Finnland und UdSSR von 1941 bis 1944 endete mit einem Waffenstillstand. Zusätzlich zu den 1940 abgetretenen Territorien verlor Finnland auch die Gebiete von Petschenga an der Barentssee. Die Bedingungen des Waffenstillstandes wurden im 1947 unterzeichneten Pariser Friedensvertrag festgeschrieben. https://finland.fi/de/leben-amp-gesellschaft/grundzuge-der-finnischen-geschichte/

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