Wie die Sprache in der Ukraine politisch wurde

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Juliane Besters-Dilger2011
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Wie die Sprache in der Ukraine politisch wurde

»Nation und Sprache seit 1991. Ukrainisch und Russisch im Sprachkonflikt«

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Geschrieben von Hera Shokohi

Bei te.ma veröffentlicht 26.01.2023

te.ma DOI 10.57964/4sbx-jv64

Geschrieben von Hera Shokohi
Bei te.ma veröffentlicht 26.01.2023
te.ma DOI 10.57964/4sbx-jv64

Braucht man eine gemeinsame Sprache, um einen Nationalstaat zu legitimieren? Die Slawistin Juliane Besters-Dilger untersucht in ihrem Aufsatz das Verhältnis von Sprachpolitik und Nationenbildung in der Ukraine seit 1991.

Die Ukraine sei in ihrer jüngsten Geschichte mit einem Faktor konfrontiert gewesen, der den Prozess der Nationenbildung erschwerte: nämlich mit der Mehrsprachigkeit des Landes, so Juliane Besters-Dilger. Im Staatsterritorium werden zwei Sprachen in ähnlichem Umfang gesprochen: Russisch und Ukrainisch. Diese Zweisprachigkeit ist ein Streitpunkt sowohl in der russischen als auch der ukrainischen Politik. 

Die Autorin teilt die Nationenbildung der Ukraine nach der Unabhängigkeit in vier Phasen ein: eine Vorphase (1987-1991), die Phase Krawtschuk (1991-1994), die Phase Kutschma (1994-2004) und die Phase Juschtschenko (2005-2009). In der Vorphase sei zuerst die Idee aufgekommen, dass Sprache und Nation Hand in Hand gehen. In der ukrainischen Zivilgesellschaft habe es schon immer den Wunsch gegeben, die eigene Landessprache zu sprechen, so die Autorin. 

In der Ära Krawtschuk wurde das Narrativ gestärkt , dass Nation und Sprache untrennbar miteinander verbunden seien. Doch die Multiethnizität der Ukraine sei eine große Herausforderung, weshalb Krawtschuk einen sprachpolitischen Kurs der Koexistenz befürwortete. In den Schulen sollten die ukrainischen Kinder Russisch lernen und die russischen Kinder Ukrainisch – die Bilingualität sollte Standard sein. Im russophonen Osten und Süden der Ukraine habe man dies als „gewaltsame Ukrainisierung“ wahrgenommen. 

Im Präsidentschaftswahlkampf von Kutschma (1994) war eins der obersten Ziele der Schutz der russischen Sprache und ihre Erhebung zur offiziellen Sprache des Staates. Für ihn war sein Vorgänger Krawtschuk ein aggressiver ukrainischer Nationalist, von dessen Ukrainisierungspolitik er sich abgrenzte. Trotzdem sah Kutschma auch die Relevanz der ukrainischen Sprache. Nach seinem Wahlsieg war Ukrainisch die einzige Amtssprache des Landes und er äußerte sich mehrmals öffentlich darüber, dass eine Stärkung der Sprache mit der Stärkung der Nationalstaatlichkeit einhergehe. Besters-Dilge bezeichnet Kutschmas Politik deshalb auch als „Schlingerkurs“.

Juschtschenko war ein aktiver Vertreter der Ukrainisierungspolitik und führte zum Beispiel Quoten für ukrainischsprachige Film- und Fernsehproduktionen ein. Sein politisches Programm fußte auf der Tatsache, dass die Ukrainer:innen mit 77% die Mehrheit im Land bildeten und die Sprache der Titularnation auch die Staatssprache sein sollte.  Neben der Ukrainisierung war der EU-Beitritt Juschtschenkos oberste politische Priorität. Eine Beitrittsverpflichtung war der Schutz ethnischer und kultureller Minderheiten, woraus die Verpflichtung resultierte, dass man den Empfang ausländischer Medien nicht behindern und die Sprachen der Minderheiten fördern sollte. Für Gegner der Ukrainisierungspolitik kam diese EU-Charta gelegen: Diese könnten sich nun auf europäische Richtlinien stützen und damit die Förderung und den Schutz der russischen Sprache einfordern. Besters-Dilge bewertet das Inkrafttreten der Charta als einen Katalysator für eine weitere Segregation der beiden Sprachen. 

Die Untersuchung von Juliane Besters-Dilger zeigt auf, wie entscheidend der Umgang mit der Mehrsprachigkeit der Ukraine für den Wahlkampf und die Nationenbildung war. Ein Blick in die Entwicklungen nach der Amtszeit Juschtschenkos verdeutlicht die Aktualität dieses Problems. Sein prorussischer Nachfolger Janukowitsch, der dem Kreml nahe stand, führte in seiner Amtszeit die sogenannten „regionalen Sprachen“ der ethnischen Minderheiten als weitere offizielle Sprachen ein. Darunter fiel auch die russische Sprache. Nach seiner Amtsenthebung wurde dies von seinem Nachfolger Poroschenko rückgängig gemacht.1 Im Wahlkampf des derzeit amtierenden Präsidenten Selenskyj nimmt Sprachpolitik ebenfalls einen wichtigen Platz ein. Doch anstatt auf die Unterschiede des Russischen und Ukrainischen einzugehen, betonte Selenskyj die Multikulturalität des Landes. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern verfolgte er einen integrativen politischen Kurs, der ihn letztlich auch in der Zivilgesellschaft enorm populär machte.2

Fußnoten
2

Gwendolyn Sasse: Ukrainische Sprachpolitik als Sicherheitspolitik? IN: ZOiS Spotlight, 09.05.2018, URL: ​​https://www.zois-berlin.de/publikationen/ukrainische-sprachpolitik-als-sicherheitspolitik.

Oleksii Viedrov: Selenskyjs “integrativer Populismus”, in: Ukraine-Analysen 228, URL: selensky js-integrativer-populismus.

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