(K)ein Problem der Wissenschaft?

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(K)ein Problem der Wissenschaft?

»Die Osteuropawissenschaft ist kein Pop-up-Store«

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Geschrieben von Hera Shokohi

Bei te.ma veröffentlicht 26.04.2023

Geschrieben von Hera Shokohi
Bei te.ma veröffentlicht 26.04.2023

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 diskutiert die Osteuropawissenschaft über die Geschichte, Paradigmen und Untersuchungsgegenstände der eigenen Disziplin. Während einige der Meinung sind, diese habe versagt, stellt Katja Makhotina fest: Es war die Politik, die versagt hat, da sie sich jeglicher Fachberatung entzogen hat.

Die deutsche Osteuropaforschung habe eine lange Tradition, so Katja Makhotina: 1913 wurde von Otto Hoetzsch die Deutsche Gesellschaft zum Studium Russlands gegründet, und die bis heute existierende Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) ist ihr Nachfolger. Im Nationalsozialismus war das Fach völkisch-ideologisch ausgerichtet und sollte dazu dienen, den „Feind“ zu erforschen. Mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch des Kommunismus kam es zur Schließung vieler Institute und Lehrstühle „nach dem Prinzip: Ist der Feind nicht mehr da, müssen wir auch nicht über ihn forschen.“

Gleichzeitig war das Ende des Kommunismus auch ein Meilenstein für die Osteuropaforschung, so Makhotina: Offene Grenzen und offene Archive ermöglichten eine neue Art der Forschung. Von besonderer Relevanz war auch die Gründung der Deutsch-Russischen Historikerkommission durch Helmut Kohl und Boris Jelzin 1998. Makhotina bewertet diese bilaterale Organisation jedoch als verpasste Chance: Man hätte in den 1990er Jahren auch andere postsowjetische Staaten miteinbeziehen und die wissenschaftlichen Beziehungen stärken sollen, dann hätte man heute auch eine vielfältigere Expertise. 

Im Gegensatz zu Gerhard Simon blickt Katja Makhotina optimistischer auf den Stand der Ukraineforschung. Diese stehe nicht in ihren Anfängen. Bereits in den 1990er und 2000er Jahren hätten einige renommierte Wissenschaftler zur Geschichte der Ukraine geforscht – darunter auch Gerhard Simon selbst, der einer der führenden deutschen Experten für ukrainische Geschichte ist, nun aber von einem „Versagen der Osteuropaforschung“ spricht. Makhotina betont ausdrücklich, dass mit Ausnahme der russischen Sowjetrepublik die Ukraine am besten von allen ehemaligen Sowjetstaaten erforscht sei.

Die Neuorientierung des Fachs, für die viele Forschende nun plädieren, sei nicht auf die Entdeckung der Ukraine als Untersuchungsgegenstand ausgelegt, sondern vielmehr auf die Analyse des Landes als „Subjekt und Akteur in Verflechtungs-, Vergleichs- und Transfergeschichte.“ Während die Ukraine bereits in der Forschung angekommen sei, sehe es in der Öffentlichkeit anders aus: Es gebe eine große Wissenslücke zu dem Land, der Kultur und der Sprache, so Makhotina – und die Öffentlichkeit würde sich am meisten dafür interessieren, ob man in der Ukraine Stepan Bandera wirklich verehrt und ob Ukrainisch eine eigenständige Sprache ist. 

Makhotina kommentiert in ihrem Aufsatz politische Entscheidungen, die ihrer Ansicht nach zu diesen Zuständen des Unwissens geführt haben: Die Politik entdecke die Relevanz der Osteuropaforschung erst in Krisenzeiten und dies werde durch den medialen und politischen Umgang mit dem Krieg in der Ukraine, aber auch mit dem Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, besonders deutlich. Dieses kurzfristig aufkommende Interesse der Politik und der Öffentlichkeit an der Osteuropa-Expertise sei das größte Problem, denn:

„Osteuropawissenschaft ist kein Pop-up-Store, den man schließen kann, wenn er sich nicht mehr rentiert“, so Makhotina. Jetzt sei es an der Zeit, plädiert sie abschließend, das Potential der geflüchteten ukrainischen und regierungskritischen russischen Wissenschaftler:innen zu nutzen und sie in die Wissenschaftsstrukturen in Deutschland einzubeziehen.

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