Wie die EU den Rüstungsmarkt steuern kann

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Kaija Schilde2023

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Geschrieben von Lucas Hellemeier

Bei te.ma veröffentlicht 04.09.2023

te.ma DOI 10.57964/s8ed-1m53

Geschrieben von Lucas Hellemeier
Bei te.ma veröffentlicht 04.09.2023
te.ma DOI 10.57964/s8ed-1m53

EU-Mitgliedstaaten wollen ihre Rüstungsindustrie vor dem Zugriff der EU bewahren. Dennoch haben EU-Initiativen Einfluss auf den europäischen Rüstungsmarkt. Wie es der EU gelingt, regulatorische Macht auszuüben, zeigt Kaija Schilde: Rüstungsunternehmen versprechen sich durch EU-Gesetze einen sicheren Absatzmarkt. Ist dieser gegeben, würden sie einen höheren Anteil ihrer Gewinne in Forschung und Entwicklung investieren.

Die Bereitstellung von Sicherheit und Verteidigung gilt weithin als öffentliches Gut und damit traditionell als eine der Kernaufgaben von Staaten. Der Sozialwissenschaftler Charles Tilly etwa hat aufgezeigt, wie die Entwicklung moderner Staatlichkeit eng mit innerer und äußerer Sicherheit verknüpft ist.1 Die EU hingegen ist Schilde zufolge ein „moderner regulatorischer Staat“, der Sicherheit und Verteidigung als öffentliches Gut bereitstelle, ohne über direkte politische Autorität in diesen Bereichen zu verfügen. 

Für die Bereitstellung von Sicherheit und die Produktion der notwendigen materiellen Mittel seien oftmals nicht-staatliche Akteure – Rüstungsunternehmen – verantwortlich. Diese würden allerdings durch staatliche Regulierung in ihren Investitionsentscheidungen beeinflusst. Kaija Schilde geht der Frage nach, inwiefern die EU einen regulatorischen Einfluss auf die Investitionsentscheidungen der europäischen Rüstungsunternehmen ausübt und somit als „moderner Sicherheitsstaat“ verstanden werden kann.

Der Beitrag greift die akademische Literatur zur Institutionenökonomik (institutional economics oder auch new institutional economics) auf.2 Darin wird untersucht, wie Unternehmen auf die politische Regulierung von Märkten reagieren. Wenngleich solche Maßnahmen, so eine Annahme dieser Forschung, kurzfristig Unsicherheit bei Unternehmen auslösen, reduzieren regulatorische Institutionen (rule-maker) langfristig die Unsicherheit von Unternehmen (rule-taker) und kreieren dadurch Investitionsanreize.3

Den Rüstungsmarkt beschreibt Schilde grundsätzlich als stark relationalen Markt. Damit meint sie die besondere Beziehung zwischen Staat und Rüstungsunternehmen. Der Staat sei oft nicht nur der einzige Abnehmer, sondern habe auch eine stark regulierende Wirkung durch die Autorität über Exportlizenzen, die Finanzierung von Forschung und Entwicklung (F&E), Patente beziehungsweise geistiges Eigentum oder die Kontrolle über Firmenkonsolidierungen und Technologietransfers. Auch würden Staaten darüber entscheiden, welche Akteure überhaupt am Marktgeschehen teilnehmen dürfen. Unternehmen hätten grundsätzlich ein Interesse an einem protektionistischen Markt, da dieser sie vor ausländischer Konkurrenz schütze. Im Gegenzug seien sie bereit, mehr Regulierung auch im Preisrecht zu akzeptieren, obwohl dies einen negativen Einfluss auf ihre Profite habe. Dieser negative Effekt würde aber durch mehr Planbarkeit aufgrund eines „sicheren“ Marktes aufgewogen.

Ein Meilenstein der EU-Regulierung des Rüstungsmarkts, so Schilde, waren die Gründung der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) 2004, die Beschaffungsdirektive von 2009 sowie die Ankündigung des Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) 2016 und die Initiierung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) 2017. Schilde beobachtet, dass die Unternehmen nach 2004 anfingen, eigene finanzielle Mittel in Forschung und Entwicklung zu investieren. Zuvor kamen die F&E-Mittel aus den Verteidigungshaushalten der Nationalstaaten. Die Unternehmensausgaben seien nominal und relativ immer weiter gewachsen, so dass die Unternehmen ab 2012 mehr für F&E ausgaben als ihre nationalen Regierungen und ihre US-amerikanische Konkurrenz. Ab 2017 führten die F&E-Ausgaben bei einigen Unternehmen zu defizitären Budgets, 2020 investierten die europäischen Unternehmen fünfmal so viel in F&E wie ihre US-Wettbewerber. Diese quantitativen Beobachtungen unterlegt die Autorin mit Statements der Rüstungsunternehmen, wonach diese EU-Regulierungen begrüßen, sofern sie ihnen einen verlässlichen Absatzmarkt sichern. 

Wie Schilde betont, hat dieser Zusammenhang wichtige Implikationen: Die Regulierung des Rüstungsmarkts durch die EU sei eine Ausübung relationaler Macht, die wiederum Anreizstrukturen für Rüstungsunternehmen forme. Die Regulierung verringere die Marktunsicherheit dieser Unternehmen, was an deren gestiegenen Investitionen zu beobachten sei. Insofern blieben zwar die EU-Mitgliedstaaten nach wie vor die zentralen Akteure in der europäischen Rüstungswirtschaft, die EU selbst könne aber indirekten regulatorischen Einfluss auf den europäischen Rüstungsmarkt ausüben.

Fußnoten
3

Charles Tilly: War Making and State Making as Organized Crime. In: Peter B. Evans, Dietrich Rueschemeyer und Theda Skocpol (Hrsg.). Bringing the State Back In. Cambridge University Press, Cambridge 1985, ISBN0521313139, S. 169–191. Zur Kritik dieses Ansatzes in der EU-Forschung siehe das te.ma-Interview mit Frank Schimmelfennig: https://te.ma/art/puvmer/eu-integration-schimmelfennig/

Douglass C. North: Institutions. In: Journal of Economic Perspectives. Band 5, Nr. 1, 1991, S. 97–112. https://doi.org/10.1257/jep.5.1.97

Claus Wiemann Frølund: Institutions, uncertainty, and entrepreneurial judgment. In: Journal of Institutional Economics. Band 17, Nr. 6, 2021, S. 913–923. https://doi.org/10.1017/S1744137421000485

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