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Bei mir entstand beim Lesen hier die Frage: Sind mehrsprachige Menschen weniger ideologisch? Wenn ich an meine eigene "Entwicklungsgeschichte" denke, dann gab es zweimal einen Sprung in eine andere Sprachwelt: einmal mit 23 Jahren ins Französische (Studium an zweisprachiger Uni) und dann mit 26 ins Russische, das seitdem auch meine zweite sprachliche Heimat ist. In beiden Fällen habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich in der anderen Sprache auch anders denke und die die Welt anders erlebe. Das war beim Russischen sehr viel stärker so als beim Französischen, es geschah geradezu ein existenzielles Umkrempeln. Das kann natürlich viele Gründe haben – auch solche ausserhalb der linguistischen Faktoren (kulturelle, lebensweltliche, biographische ...).

Ich würde mich heute als intellektuell hypertolerant und hyperempathisch bezeichnen, allerdings sicher nicht als indifferent oder unpositioniert. Ich kann aber so gut wie alle Positionen und Einstellungen anderer Menschen nachvollziehen, seien sie politisch oder wissenschaftlich-theoretisch, solange sie sich in einem Korridor genereller Vernünftigkeit und Menschlichkeit bewegen. Was ganz und gar nicht heisst, dass ich sie alle gutheisse: Ich habe oft sehr klare Präferenzen und halte vieles, das anderen als "selbstverständlich wahr" erscheint, für äusserst zweifelhaft und oft für schlichtweg falsch und habe selbst eine ganze Reihe von unpopulären Ansichten, von denen ich tief überzeugt bin. Aber es ist mir fast immer klar, wie andere zu ihren gegenlautenden Ansichten kommen, und der Satz, der mir bei Diskussionen am häufigsten im Kopf rumgeht, ist vermutlich: "Klar, kann man so sehen."

Hat diese Entstehung der "Hypertoleranz ohne Indifferenz" etwas mit meinen beiden Fremdsprach-Immersionen zu tun? Das könnte man ja wenigstens vermuten, angesichts diese Papers bzw. seines Intros. Zitat: "Warum sind Bilinguale anscheinend weniger vom „egocentric bias“ betroffen als Monolinguale? [...] Andererseits ist es auch möglich, dass die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, früher und öfter trainiert wird, da Bilinguale regelmäßig anhand der Sprachkenntnisse des Gegenübers entscheiden müssen, welche Sprache sie im Gespräch verwenden."

Ich kann mir schon vorstellen, dass da etwas dran ist. Nicht nur, weil man sich als Mehrsprachler oft der Muttersprache des Gegenübers anpasst, sondern weil man selbst ständig als eine Art "Doppelperson" lebt, deren konstituierende Hälften einen recht unterschiedlichen Blick auf die Welt haben können. Im Laufe der Zeit entsteht dann eine Art "hybrider Erkenntnismodus", der gegenüber inneren Divergenzen und Widerstreiten sehr tolerant sein muss, und diese Toleranz äussert sich dann vielleicht auch in Hinblick auf die Standpunkte von anderen Menschen. Was meint ihr? Geht es euch ähnlich?

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