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Aus meinen eigenen – episodischen – Beobachtungen in meinem mehrsprachigen Umfeld erscheint mir so eine nüchtern-ambivalente Einschätzung von Mehrsprachigkeit plausibel.

Was mir an allen Studien und Positionen, die ich bisher gesehen habe, fehlt: Eine Bewertung der literarischen Sprachkompetenz. Dass ein Kind in mehreren Sprachen eine gute mündliche Kommunikationsfähigkeit entwickelt und ggf. auch als Erwachsener beibehält, lässt sich sicher oft beobachten. Aber wie ist es mit der Fähigkeit, sich in beiden Sprachen dann auch schriftlich inhaltlich und stilistisch sicher zu fühlen und Texte auf einem ähnlichen Niveau und mit ähnlicher Leichtigkeit wie die Monolingualen zu produzieren?

Das ist natürlich eine Anforderung, die nur diejenigen betrifft, die in entsprechende intellektuelle Berufe oder Lebenskontexte gehen, kann aber in diesem Fall sehr entscheidend für den Erfolg und die persönliche Zufriedenheit sein.

Ich habe Beispiele vor Augen von inzwischen erwachsenen zweisprachigen Kindern, die sich in beiden Sprachen nie ganz ebenbürtig fühlten, und sehe auch an meiner eigenen Quasi-Zweisprachigkeit, die ich allerdings später erworben habe, den Unterschied zwischen meinen mündlichen und meinen schriftlichen Fähigkeiten. Dazu kommt, dass gewissermassen die „psychische Tiefe“ der Sprachen jeweils eine unterschiedliche sein kann: Etwas niederzuschreiben, hat ja nicht nur eine informative, sondern auch eine intellektuell konstitutive, manchmal sogar eine therapeutische Wirkung. Das scheint bei der Sprache, die enger mit dem tiefen Unterbewussten verbunden ist, viel stärker in Erscheinung zu treten.

Kurz: Ich frage mich, ob man diese „literarische Kompetenz“, oder wie auch immer man es nennen will, auch einmal in Hinblick auf Multilingualität untersucht hat – und ob und wie das überhaupt machbar wäre.

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Meine Situation: Mit 6 Jahren nach Deutschland gekommen, Russisch Mutter- und Familiensprache, Zweitsprache Estnisch im Kindergarten. Ich bin im Russischen auch ziemlich sicher: Verfasse viele Posts auf Facebook, früher auch ein wenig auf ЖЖ (aka LiveJournal, eine zentrale russischsprachige Plattform, um die sich in den 00er und der ersten Hälfte der 10er Jahre die russischsprachige Blogosphäre gebildet hat).

Aber was andere, formalere Ressorts angeht (wissenschaftliche Arbeiten, Aufsätze, Artikel, formale Briefe u. ä.) fühle ich mich mit Deutsch definitiv sicherer, was natürlich mit meiner deutschen Schulbildung zu tun hat: Ich hab in der Schule nun mal hoch und runter gelernt wie man Aufsätze, Argumentationen u.ä. verfasst, während ich nie Russischunterricht in irgendeiner Form hatte.

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Ich fühle mich in beiden Sprachen auch literarisch gleichermaßen wohl und nutze beide als ”Arbeitssprachen”, aber anhand der Erfahrung mit meinen beiden Kindern möchte ich einige Beobachtungen teilen:

(1) Bilingualität ist kein Automatismus und auch Kleinkinder lernen Sprachen nicht "von allein, wenn sie nur in die Schule/Kindergarten/ deutschsprachige Umgebung kommen". Das scheint bei vielen Eltern die (total überzogene) Erwartung zu sein.

(2) Meine Tochter ist 11 und in beiden Sprachen gleichermaßen "literarisch" - zum Beispiel schreibt sie ihr Tagebuch in beiden Sprachen - mit großer Kreativität und Ausführlichkeit. Aber richtig literarisch im Russischen ist sie nicht etwa durch die russische Schule geworden, wo sie auch Aufsätze schreiben, sondern durch ein "TikTok-House" und Chats mit ihrer Freundesgruppe aus Russland. (Für Boomer: TikTok-House ist eine Gruppe von Kontentcreatern)

(3) Mein Sohn (wächst im gleichen Haushalt auf und ist ein Jahr jünger) produziert nichts Schriftliches auf Russisch (wenn er nicht muss). Aber er produziert überhaupt sehr wenig Schriftliches (nur im schulischen Kontext und dann so knapp, wie möglich)

Das ist also in unserem Fall eine Frage der Sozialisierung und auch des Typs.

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Und dann spricht Martin davon, dass es oft vorkommt, dass ein Kind in mehreren Sprachen eine gute mündliche Kommunikationsfähigkeit entwickelt und sie auch als Erwachsener beibehält, aber sich unsicher fühlt, wenn Texte verfasst werden.

Bei mir gibt es mit der erworbenen Sprache Arabisch das Gegenteil (klar, hat es dann weniger mit einer “natürlichen” Bilingualität zu tun. Im Studium und als ich noch öfter im arabischsprachigem Raum unterwegs war, konnte ich ganz ok sprechen, mittlerweile habe ich einer richtige Barriere entwickelt und es fällt mir leichter meine Gedanken (ggf. mit Wörterbuch:) aufzuschreiben, als auszusprechen. (Aber von literarisch sind wir auch da weit entfernt)

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Anekdotisch kann ich von der gegenteiligen Erfahrung zu @martin_krohs berichten, sowohl bei mir als auch aus meinem multilingualen Umfeld. Gedichte, Lieder und auch emotionsverarbeitende Texte können auch einer Zweitsprache auch leichter fallen. Es gibt weniger “Ballast” in der Fremdsprache, und dieses Mehr an Freiheit kann den kleineren Wortschatz bisweilen aufwiegen. Da stellt sich dann die Frage, wie man forscherisch diese Fähigkeit messen würde: Kreativität per Vokabularpegel zu quantifizieren, trifft es wohl eher nicht.

Ich kenne Menschen, die bewusst Therapie in einer Fremdsprache machen: Es zwingt sie, ihrer eigenen Wahrnehmung nach, zu mehr Direktheit und Ehrlichkeit. Das alles setzt natürlich ein solides Grundniveau voraus. Ich selbst lebe auch in einem trilingualen Haushalt, und das Gros der emotionalen wie logistischen Prozesse findet auf Englisch statt, niemandes Muttersprache, aber unser Mittel für diese Art von Arbeit. Das bemerkt man auch daran, dass häufig sogar zwischen Deutsch-Muttersprachler*innen auf Englisch gewechselt wird, wenn diese Domänen im Alltag auftauchen, zumindest, solange sie mit unserem Haus zu tun haben.

Daran sieht man, denke ich, dass die Wahrnehmung der psychischen und kreativen Sprachtiefe durch den Expositionsfaktor mitbestimmt wird: Englisch ist in Deutschland die Sprache der Popmusik - es leuchtet also meines Erachtens ein, dass man die ersten eigenen Songtexte auch auf Englisch zu schreiben geneigt ist. Und so begibt man sich auf der kreativen Suche auf fremdsprachliches Terrain und kartiert sein Schaffen mit diesen Worten. Das interagiert dann natürlich wieder mit eigenen Ansprüchen, mit der Bedeutung der Zielsprache in der eigenen Lebensrealität, und so weiter.

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Mir scheint, dass das, was du schreibst @julian_andrej_rott, gar nicht so sehr meiner ersten Skizze widerspricht, sondern vor allem einige notwendige Differenzierungen macht. Vermutlich kommt es wirklich auf alles an, auf alle beteiligten Faktoren: auf die konkrete Sprache, auf ihren Ort im „Sprachenkosmos“ des einzelnen Sprechers und auf den Zweck und die Umstände der Sprachverwendung. Das würde denke ich auch mit dem zusammenpassen, was @Valeria_Voelk und @Mark_ThalbergZukov berichten.

Mein oben etwas sorglos und spontan angeführtes Kriterium „literarische Kompetenz“ reicht jedenfalls ganz offensichtlich nicht aus, um diesen unterschiedlichen Rollen der unterschiedlichen Sprachen für die jeweiligen Sprecher auf die Spur zu kommen. Denn dass die Fremdsprache mehr „Ehrlichkeit und Einfachheit“ generieren kann, wie du schreibst, das kenne ich auch und sehe ich auch als ein Plus. Und ja – hier entsteht in der Tat ein Widerspruch zu meinem Aufschlag – das kann auch diesen „therapeutischen“ Effekt vereinfachen, zumindest, was die expressive Dimension angeht, das „Dinge sagen können“.

Die Frage, ob das dann im gleichem Masse transformativ ist, wie eine entsprechende Äusserung in der Muttersprache es wäre, bleibt aber immer noch offen. Ich habe bei mir immer das Gefühl, dass ich, wenn ich wirklich in einer Hinsicht ein anderer werden will durch Sprechen oder v. a. Schreiben, dieses Schreiben in Deutsch stattfinden muss. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass frühe Erfahrungen eben an diese Sprache gebunden sind. Dem gegenüber gibt mir das Russische (oder, wenn ich an meine Uni-Zeit denke, das Französische) zwar die Freiheit, mit weniger Hemmungen zu formulieren, aber ein wenig spreche ich dann auch immer über eine „fremde“ Person, nämlich über eine Person mit deutschsprachiger Kindheit. Der existenzielle Impact ist grösser, wenn ich das gleiche Thema auf Deutsch „konfrontiere“. Alles persönlich-episodische Erfarhungen, natürlich.

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