Die Zukunft gewaltlosen Protests

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Erica Chenoweth2020
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Die Zukunft gewaltlosen Protests

»The Future of Nonviolent Resistance«

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Geschrieben von Dennis Yücel

Bei te.ma veröffentlicht 08.03.2024

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/27pd-cw61

Geschrieben von Dennis Yücel
Bei te.ma veröffentlicht 08.03.2024
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/27pd-cw61

Die Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth ist Expertin für gewaltlosen Widerstand. Ihre Daten zeigen ein Paradox: Niemals zuvor in der Geschichte gab es so viel Protest wie im vergangenen Jahrzehnt. Doch gleichzeitig gelingt es immer weniger politischen Bewegungen, ihre Ziele zu erreichen. Warum?

Unter gewaltlosem Widerstand (non-violent resistance) versteht Chenoweth sämtliche Formen des Protests, bei denen sich Menschen friedlich und kollektiv einem Gegner entgegenstellen, um politische Ziele zu erreichen. Das sind nicht nur Demonstrationen, sondern etwa auch Streiks oder andere Formen der Verweigerung. Der Fokus ihrer Forschungsarbeit liegt dabei auf sogenannten maximalistischen Kampagnen. Dazu zählt sie Bewegungen, die nicht nur für einzelne politische Forderungen eintreten (beispielsweise die Rechte von LGBTQIA+), sondern einen politischen Wandel insgesamt einfordern. Bewegungen also, die sich gegen ein politisches Regime in seiner Gesamtheit richten, gegen eine militärische Besatzungsmacht oder für nationale Unabhängigkeit kämpfen. Dabei geht es Chenoweth um progressive Bewegungen, die sie als zentrale Akteure im Kampf für Demokratie und Menschenrechte weltweit sieht. 

Chenoweths Arbeit ist empirisch ausgerichtet. Als Grundlage ihrer Analyse dienen Daten des von ihr mitverantworteten Nonviolent and Violent Campaigns and Outcomes (NAVCO) Projekts der Harvard University. Von 1900 bis 2019 zählt NAVCO 628 maximalistische Bewegungen weltweit, wovon etwas mehr als die Hälfte (325) als gewaltlos eingestuft werden. Anhand der Daten postuliert Chenoweth nun verschiedene Makro- und Mikrotrends. Zum einen kann sie zeigen, dass gewaltsamer Widerstand seit den 1970er Jahren stark abgenommen hat (mit Ausnahme der 1990er Jahre), während die Zahl an gewaltlosen Widerstandsbewegungen insbesondere ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark angewachsen ist. 

Erstaunlich ist vor allem eines: Ab dem Jahr 2010 schießen die Zahlen für gewaltlosen Widerstand plötzlich in die Höhe. Chenoweths Daten zufolge hat kein anderes Jahrzehnt seit 1900 eine ansatzweise vergleichbare Anzahl an friedlichen Protestbewegungen gesehen, wie die 2010er Jahre. Sie zählt 96 maximalistische gewaltlose Bewegungen in diesem Jahrzehnt.

Ab dem Jahr 2010 schießen die Zahlen für gewaltlosen Widerstand plötzlich in die Höhe.

Dies deutet Chenoweth gleichzeitig als Zeichen politischen Fortschritts wie Niedergangs: Einerseits scheinen immer mehr Menschen die Vorteile friedlichen Widerstands als Mittel politischen Engagements zu erkennen. Andererseits scheinen immer mehr Menschen die Notwendigkeit zu sehen, gegen ihre Regierung auf die Straße zu gehen – und Institutionen immer weniger in der Lage, gesellschaftliche Konflikte und Ungerechtigkeiten erfolgreich anzugehen. Einen der Hauptgründe für das „Jahrzehnt des Protests“ sieht Chenoweth im Erstarken des Autoritarismus weltweit – als Beispiele nennt sie Ägypten, die Türkei, Ungarn, Polen, Brasilien und die Vereinigten Staaten

Über die vergangenen 120 Jahre kann Chenoweth zeigen, dass gewaltlose Bewegungen statistisch gesehen rund doppelt so erfolgreich sind wie gewaltsamer Protest (51 Prozent gegenüber 26 Prozent). Als Erfolg gilt dabei das Erreichen der maximalistischen Zielsetzung einer Bewegung innerhalb eines Jahres nach Erreichen des Höhepunktes der Mobilisierung. Also etwa ein erfolgreicher Umsturz der Regierung oder die Erreichung nationaler Unabhängigkeit. 

Außerdem lagen die Chancen auf eine nachhaltige, demokratische Stabilisierung und bessere Lebensqualität nach erfolgreichen gewaltlosen Bewegungen höher als nach erfolgreichen gewaltsamen Kampagnen. 

Da sich nun in den letzten Jahrzehnten und insbesondere seit 2010 eine starke Verlagerung hin zu friedlichen Aktionen zeigt, könnte man annehmen, dass auch die Erfolgsquote von politischen Bewegungen deutlich steigt. Doch erstaunlicherweise scheint das Gegenteil der Fall: Friedliche Bewegungen sind ab den 2010er Jahren zwar immer noch deutlich effektiver als gewaltsame Aktionen – ihre Effektivität ist gegenüber den friedlichen Bewegungen der Jahre 1960-2000 allerdings deutlich zurückgegangen. Die NAVCO-Daten zeigen für friedliche Bewegungen in den 1990er Jahren eine Erfolgsquote von über 65 Prozent. Doch in den 2010er Jahren ist diese Zahl auf 34 Prozent gesunken (8 Prozent für gewaltsame Bewegungen). 

Friedliche Bewegungen sind ab den 2010er Jahren zwar immer noch deutlich effektiver als gewaltsame Aktionen – ihre Effektivität ist gegenüber den friedlichen Bewegungen der Jahre 1960-2000 allerdings deutlich zurückgegangen.

Chenoweth spricht in diesem Zusammenhang von einem „besorgniserregenden Paradox“: Just in dem Moment, als ziviler Widerstand zum politischen Mittel der Wahl werde, werde gewaltloser Protest – zumindest unmittelbar – immer ineffektiver. Die Gründe für diese Entwicklungen sieht Chenoweth vor allem in den Bewegungen selbst.

Erstens würden politische Bewegungen immer kleiner. Dramatisierende Bilder von mobilisierten Millionen täuschten über die gesamtgesellschaftliche Realität hinweg. NAVCO-Daten zufolge beteiligten sich an friedlichen Protestkampagnen in den 1990er Jahren durchschnittlich 2,7 Prozent der Bevölkerung – in den 2010er Jahren waren es nur noch 1,3 Prozent. Dabei zeige sich, dass Größe und gesellschaftliche Diversität der Anhängerschaft einen zentralen Faktor für den Erfolg einer politischen Bewegung darstellen. 

Zweitens würden sich zeitgenössische Bewegungen zu sehr auf Demonstrationen als Mittel des Protests verlassen. Andere Formen des friedlichen Protests, wie etwa Streiks und massenhafter ziviler Ungehorsam, würden vernachlässigt. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, seien politische Bewegungen allerdings darauf angewiesen, Machtinstitutionen nicht nur symbolisch, sondern beispielsweise auch ökonomisch unter Druck zu setzen.

Genau dies gelinge aber immer weniger, und zwar auch, weil sich drittens die Organisation von Protest immer mehr ins Digitale verlagere. Dies habe zwar den Vorteil, dass sich Massen viel spontaner zusammenfinden und ausdrücken könnten – erschwere jedoch die gewissenhafte Planung und politische Verständigung. 

Die ersten drei Punkte von Chenoweths Argumentation lassen sich also mitunter wie folgt zusammenfassen: Der Erfolg zeitgenössischer friedlicher Protestbewegungen sinkt, weil sie sich zu früh und unorganisiert ins Rampenlicht setzen – ohne wirkliches politisches Kapital in Form von gesamtgesellschaftlicher Breite, politischer Vernetzung und ökonomischen Druckmaßnahmen. 

Doch Chenoweth nennt noch einen vierten Punkt: zunehmende Gewalt an den Rändern. Von den als friedlich eingestuften Bewegungen der NAVCO-Datenbank wurden zwischen 1970 und 2010 immerhin 30 bis 35 Prozent von gewaltsamen Ausschreitungen flankiert. Ab 2010 stieg der Prozentsatz auf über 50 Prozent. Selbst wenn die überwiegende Anzahl der Protestierenden friedlich bliebe, argumentiert Chenoweth, schmälerten gewaltsame Ausbrüche, beispielsweise gegenüber der Polizei oder Gegendemonstrant*innen, statistisch gesehen die Chance auf Erfolg. Denn: Gewaltsame Proteste ließen sich von Machthabern unkompliziert als Bedrohung für die öffentliche Ordnung ausweisen – dies gebe ihnen die Möglichkeit, repressiver gegen die Bewegungen vorzugehen, während es dieser gleichzeitig immer schwerer Falle, sich in der Öffentlichkeit als unschuldige Opfer staatlicher Gewalt zu zeichnen. 

Was Machthaber wirklich fürchten, schließt Chenoweth, sei die massenhafte Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten, die durch unerschütterlich friedlichen Protest die Aura staatlicher Unverwundbarkeit infrage stellen. 

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