Künstliche Intelligenz ist momentan die Wette auf die Zukunft. Landes- und Bundesregierung, EU, Privatwirtschaft und Stiftungen setzen große Summen auf die Erforschung der Technologie und treiben damit einen Strukturwandel voran. Über diesen Plänen schwebt die Vorstellung einer Utopie, deren technologische Grundlage die Forschungen zum maschinellen Lernen sind, die darüber hinaus aber aus einem dichten Netz aus Erwartungen und Befürchtungen, Bildern und Narrativen sowie politischen und ökonomischen Strukturen gewebt ist.
Der Strukturwandel lässt sich an vielen Orten beobachten. Ganz konkret vollzieht er sich unter anderem in der Universitätsstadt Tübingen, in der ein Forschungsverbund entstanden ist, der sich in verschiedenen öffentlichen Institutionen manifestiert. Für sie hat sich das Label „Cyber Valley“ etabliert, das sich zwischen Stuttgart und Tübingen ausbreitet. Aber der Strukturwandel betrifft Tübingen nicht nur institutionell. Er steht auch paradigmatisch für eine sich wandelnde Kleinstadt, die ihre Identität einst vor allem auf Kunst, Kultur und die Geisteswissenschaften gründete.
Deshalb stoßen die Wachstumsbemühungen von Universität und Stadtverwaltung immer wieder auf Kritik, die in diesem Zusammenhang vor allem die Wohnraumproblematik der Stadt thematisiert. Denn mit steigenden Mieten werden immer mehr geringverdienende Menschen aus der Stadt gedrängt, z.B. von Wissenschaftler_innen und Softwareentwickler_innen mit höheren Einkommen. Die Zukunft liegt also in einem Wachstum, das günstige Mieten garantiert, nachverdichtet und keine weiteren Flächen versiegelt.
Tübinger Technologiepolitik als Voraussetzung für die KI-Forschung
Das Tübingen, in dem Politik und Wirtschaft die Zukunft vermuten, liegt hoch über der Altstadt. Dort thronen die Kliniken und die naturwissenschaftliche Fakultät der Universität – und, mit bester Aussicht ins Tal, die Forschungsinstitutionen im Technologiepark Tübingen-Reutlingen (TTR) auf der Oberen Viehweide. Ein Ort, der paradigmatisch für den sichtbaren strukturellen Wandel steht, an dem im Wochenrhythmus ein Gebäude nach dem anderen aus dem Boden schießt.
Doch zunächst zurück zum Anfang: Am 25. September 2000 beschloss der Tübinger Gemeinderat, ein rund zwei Hektar großes Areal auf der Oberen Viehweide als „städtebaulichen Entwicklungsbereich“ auszuweisen, um die rechtlichen Rahmenbedingungen für den „Wissenschafts- und Technologiepark Obere Viehweide“ zu schaffen. Dieser sollte Wissenschaft und Industrie „im Bereich der Hochtechnologie“ zusammenbringen, um die wirtschaftliche Zukunft der Stadt zu sichern und den Absolvent_innen der lokalen Universität Arbeitsplätze vor Ort zu bieten.
Doch der Technologiepark war zunächst keine Erfolgsgeschichte. Die Stadt investierte viel Geld, um Räume für Start-Ups und die Voraussetzungen zur Ansiedlung großer Unternehmen v.a. der Medizintechnik und Biotechnologie zu schaffen, von denen man sich ein enormes Wachstum versprach. Während der Gründerzeit des TTR aber platzte die sogenannte
Das
Die Geburt des Cyber Valley
Die Idee eines großen Standorts der KI-Forschung in Tübingen und Stuttgart entwickelte sich um das Jahr 2010 in der Max-Planck-Gesellschaft, die der Frage nachging, ob sie Grundlagenforschung in den Zukunftsfeldern „Autonome Systeme/Robotik“ betreiben solle. Schon damals war der Transfer der Forschungsergebnisse in Produkte und Anwendungen Teil der Idee. Die künftigen Direktoren – Bernhard Schölkopf und Joachim Spatz, später auch Stefan Schaal und Michael Black – legten schließlich den Schwerpunkt eines neuen Instituts (als Nachfolger des MPI für Metallforschung) auf künstliche oder biohybride Systeme, die sich selbständig an ihre Umgebung anpassen, ihr „Verhalten“ entsprechend adaptieren und sich eigenständig optimieren. Entscheidend ist die „Emergenz“ des Lernprozesses, das heißt die nicht vorhersehbaren Adaptionen und Lösungsstrategien, die das System von selbst entwickelt. Die Entwickler_innen jedenfalls können sie nicht programmieren, sondern das System muss sie lernen.
Die Bio- und Lebenswissenschaften waren direkte Inspirationsquellen für die hier avisierte Technologie, die versuchte, das Gehirn und seine neuronalen Netze künstlich nachzubauen. Für Tübingen als Standort sprach, dass mit den beiden Max-Planck-Instituten für Evolutionsbiologie und biologische Kybernetik und den universitären Forschungsinstituten im und um den TTR ein dichtes bio- und neurowissenschaftliches Forschungsnetzwerk in direkter Nachbarschaft existierte. 2011 wurde schließlich das Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme (MPI IS) gegründet, das 2017 seinen Neubau im TTR bezog. Mit diesem MPI wurde die Vision eines umfassenden „KI-Ökosystems“ in Tübingen konkret. Hier reiften die Ideen für einen groß angelegten Forschungsverbund im Neckar-Becken zwischen Stuttgart und Tübingen.
Der so entstandene KI-Standort – das Cyber Valley wurde im Dezember 2016 gegründet – setzt auf drei Versprechen: Die Ausbildung des Nachwuchses, um die Firmen und Forschungsinstitute in Baden-Württemberg mit Fachleuten für maschinelles Lernen zu versorgen. Die Förderung neuer Firmengründungen im Bereich der KI, um die Zukunft des Industrielandes Baden-Württemberg zu sichern. Die Entwicklung neuer Formen der Zusammenarbeit jenseits institutioneller Trennungen, um auch international wettbewerbsfähig zu sein und Forscher_innen in Europa zu halten.
Zukunftserwartungen
In der Politik ist der Wille groß, Europa, Deutschland und Baden-Württemberg zu starken Standorten der KI-Forschung aufzubauen. Die Erwartungen sind gewaltig, die Investitionen hoch. Getrieben von der Sorge, zu spät zu sein, als Technologiezentrum nachzulassen und sich geopolitisch von den USA oder China bei kritischer Infrastruktur abhängig zu machen, liegen von der EU bis zur Landesregierung KI-Strategiepapiere vor.
Die Europäische Kommission setzt mit ihrem 2020 veröffentlichten „Weißbuch zur Künstlichen Intelligenz“ auf Exzellenz und Vertrauen. Der europäische Weg respektiert Europas Grundwerte und rechtsstaatliche Prinzipien – im Gegensatz zu den USA mit ihrem marktgetriebenen Tech-Sektor und China mit seinen Algorithmen im Dienste eines autoritären Überwachungsregimes. Inzwischen hat die EU mit der Datenschutzgrundverordnung (in Deutschland seit 2018 in Kraft), dem Digital Service Act (2022) oder dem gerade entstehenden AI Act Exempel für eine regulierte KI statuiert. Auch die Bundesregierung hat eine „Nationale KI-Strategie“, die auf die Expert_innenausbildung in KI-Kompetenzzentren setzt und Forschungsergebnisse schnell in die Anwendung bringen will. Den Mittelstand mit KI-Technologie zu versorgen und Start-Ups zu fördern, bildet einen Schwerpunkt des Programms.
Unter dem Motto „Für alle digital. Digital LÄND“ aktualisierte auch die Landesregierung im Oktober 2022 ihre Digitalisierungs- und KI-Strategie. Schon im Vorwort erwähnen Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Innen- und Digitalminister Thomas Strobl das Cyber Valley an erster Stelle: „Für das Cyber Valley, Europas größtes Forschungsnetzwerk für Künstliche Intelligenz (KI), wurden schon insgesamt rund 372 Millionen Euro bereitgestellt. Hier wird exzellente Grundlagenforschung mit interdisziplinärer und industrieller Forschung und einer lebhaften Gründerszene zu einem Innovationsökosystem zusammengeführt.“
Für Tübingen schließlich ist KI zum kommunalpolitischen Thema geworden. Weil dem Wachstum auf städtischen Gewerbe- und Industrieflächen enge Grenzen gesetzt sind, kooperiert die Stadt seit den 1990er Jahren mit Reutlingen, um den Transfer von Forschungsergebnissen in der Biotechnologie und Medizintechnik in wirtschaftliche Anwendungen zu unterstützen. Das Cyber Valley konnte auf diesen Strukturen aufbauen. Beide Kommunen erweiterten ihre Gründungsförderung auf die Technologiebranche in der Hoffnung auf zukünftige Arbeitsplätze und Gewerbesteuern am Ort.
Zukunftssorgen
Während EU, Bundes- und Landesregierung, Oberbürgermeister und Gemeinderat zukunftsfroh auf künstliche Intelligenz setzten, regte sich in Teilen der Tübinger Stadtgesellschaft Widerstand gegen das Cyber Valley. Konkreter Auslöser war der US-Konzern Amazon, der im Oktober 2017 bekannt gegeben hatte, ein Forschungszentrum in Tübingen bauen zu wollen. In der Folge fand sich
Ab Sommer 2018 führte das Bündnis in loser Reihenfolge Aktionen durch. Die Stadtöffentlichkeit erreichte das Thema, als überwiegend studentische Aktivist_innen Ende November 2018 einen Hörsaal im Kupferbau der Universität besetzten und ihre Argumente kurz vor Weihnachten mit Vertrer_innen der Universität auf einem Podium diskutierten. Vor allem die Kritik an Amazon war in der Stadtöffentlichkeit anschlussfähig und findet sich in Form von Aufklebern in Gestalt eines Verbotsschildes mit dem Schriftzug „amazno“ bis heute auf Bänken, Laternen und Regenrinnen in der Altstadt. In der Diskussion um den US-Konzern lag eine Grundsatzkritik: Sie misstraute einer Technologie, mit der die aufklärerische Idee eines freien und selbstbestimmten Individuums zur Farce zu werden droht, wenn private und intime Daten im Netz ausgespäht werden, um mit ihnen jene Algorithmen zu trainieren, die Menschen manipulieren. Kapitalismuskritischere Aktivist_innen fürchteten eine Gesellschaft, in der das Gemeinwohl hinter privaten Geschäftsinteressen zurücksteht. Amazon stand in den Augen vieler für eine globalisierte Tech-Industrie im Dienste dieses „Überwachungskapitalismus“, die nun in das beschauliche Tübingen einzufallen drohte. Unabhängig von den konkreten Forschungen vor Ort symbolisierte der US-Konzern einen überdrehten Neoliberalismus amerikanischer Provenienz, der sich wenig um Arbeitnehmerrechte schert und Steuern vermeidet, wo er kann.
Am 14. November 2019 entschied der Gemeinderat schließlich über den Grundstücksverkauf an Amazon. Die Sitzung wurde kritisch begleitet von Aktivist_innen, die später des Saales verwiesen wurden, weil ein geordneter Ablauf nicht mehr möglich war. Die Gemeinderät_innen waren hin- und hergerissen zwischen dem Misstrauen gegenüber Amazon und der Ermöglichung potentieller Arbeitsplätze. Am Ende stimmten sie für die Ansiedlung von Amazon. Nach der Gemeinderatsentscheidung war das konkrete Ziel des Protests, Amazon in Tübingen zu verhindern, nicht mehr existent. Die Aktivitäten der Cyber-Valley-Gegner verebbten weitgehend, wofür auch der Corona-Lockdown verantwortlich war.
Folgen zeigte der Protest gleichwohl. Er schuf ein öffentliches Bewusstsein, veränderte die interne und externe Kommunikation im Cyber Valley und tangierte die Forscher_innen persönlich. Und so zeigte der Forschungsverbund seinen Willen zum Dialog in zwei Initiativen: dem Public Advisory Board als externem Kontrollgremium für die Vergabe von Forschungsgeldern aus dem Industriefond des Cyber Valley und dem so genannten Public Engagement – eine neue Form der Wissenschaftskommunikation, die auf Austausch, statt auf Vermittlung setzt. Public Engagement will die Öffentlichkeit am wissenschaftlichen Prozess beteiligen.
Zukunftsfragen
Die Diskussionen und Initiativen um KI in Tübingen künden von einem Strukturwandel, den KI und die Digitalisierung ausgelöst haben, und der gleichermaßen innovativ wie „disruptiv“ ist. Er prägt Tübingen baulich, bringt neue Dienstleistungen, Konzerne und Gewerbe in die Stadt und verändert die (Tübinger) Forschungslandschaft massiv. Diese strukturellen Änderungen erleichtern, dass „Wissenschaft zu Wirtschaftskraft“ werden kann. Unklarer werden so aber auch die Grenzen zwischen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Interessen, zwischen Dienstleistung und Grundlagenforschung.
Der Strukturwandel enthält ein Versprechen für die Stadt, die Region, das Land und für Europa: KI ist Eure Zukunft. Für Baden-Württemberg heißt „Zukunft“ zuvorderst: Umbau der (Auto-)Industrie und des Mittelstandes, um international wettbewerbsfähig zu bleiben und das Wohlstandsniveau zu halten. Kurzum: KI in Tübingen ist nicht nur ein wissenschaftliches, sondern ein genuin politisches Projekt. Größer gedacht heißt es, geopolitisch unabhängig zu sein und eine eigene kritische Infrastruktur aufzubauen. Es heißt, KI-gestützte Technologien zu entwickeln, die beispielsweise helfen, medizinische Diagnosen zu verbessern, das Leben bequemer zu machen, Regionen jenseits der Metropolen besser einzubinden oder den Klimawandel zu bremsen.
Allerdings werden in den letzten Jahren auch zunehmend die Probleme dieser schönen neuen Welt deutlich: Monopolstrukturen (etwa der großen Tech-Konzerne), die fairen Wettbewerb verhindern; Unternehmen, die mit ihrem Herrschaftswissen dank ihrer geheim gehaltenen Algorithmen zu politischen Machtfaktoren werden; soziale Medien, die automatisiert Hassbotschaften verbreiten, Filterblasen bilden und die Demokratie aushöhlen; Algorithmen, die Verhalten manipulieren, Menschen ohne ihr Wissen überwachen oder Waffen besonders effektiv und tödlich machen; ein behavioristisches Menschenbild, das menschliches Handeln vor allem als Reiz-Reaktions-Mechanismus wahrnimmt, weil es auf Verhaltensvorhersagen aus ist; etc. KI produziert nicht nur Sieger, sondern auch etliche Verlierer. Diese Probleme sind vielen KI-Forschenden in Tübingen sehr bewusst, und nicht wenige von ihnen arbeiten aktiv daran, sie (technisch) zu lösen.
Hinter jedem dieser Punkte (und noch vielen weiteren) verbergen sich grundsätzliche Fragen, die zeigen, dass KI-Forschung nicht allein eine technische Frage ist, sondern ein Verhandlungsgegenstand, über den sich die Gesellschaft als Ganze verständigen muss. Die Aktivist_innen haben das früh erkannt. Im besetzten Kupferbau hing ein Transparent mit der Frage „In was für einer Welt wollen wir leben?“.
Transparenzhinweis: Die Autoren sind mit der Universität Tübingen affiliiert.
Die laufende Ausstellung „Cyber and the City. Künstliche Intelligenz bewegt Tübingen“ im Stadtmuseum Tübingen gibt noch bis 22. Oktober 2023 einen Überblick über die Entwicklungen, Debatten, Proteste, Akteure und Gegenspieler zum großen Zukunftsthema der künstlichen Intelligenz am Beispiel Tübingens.