Roberto Simanowski hat stets darauf hingewiesen, wie bedeutsam die Unterscheidung ist, ob unter „Medienbildung“ eine Mediennutzungskompetenz, also das Lernen mit „neuen Medien“, oder eine Medienreflexionskompetenz, also das Lernen über die „neuen Medien“ verstanden wird.
Die Realität, so zeigt Simanowski in jedem der insgesamt sieben Essays, sieht jedoch anders aus. Entgegen aller sicherlich ernst gemeinten Verlautbarungen hat sich an der konzeptionellen Steuerung und konkreten Impulsen für die Unterrichtsgestaltung kaum etwas verändert. Sie sei zu stark auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet und würde in einem „verkehrspolizeilichen Geist“ operieren. Simanowski meint hiermit eine Medienbildung, die sich um die „Vermittlung von Umgangsregeln“ kümmert, „um Unfälle im Digitalen zu vermeiden“. Dazu passen semantisch ihre Zertifikate, etwa für die Lehrkräfte, die von Bundesland zu Bundesland nur geringfügig wechselnd als „Surfschein” oder „Medienführerschein'' bezeichnet werden. Nach Simanowski ist das keine Medienbildung, sondern eine Medienkunde (Verkehrskunde) im Sinne eines „handlungsorientierten und zweckrationalen Verfügungswissens“. Dieses Verfügungswissen ist ganz klar auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet, wo sich der Nutzen dieser so verstandenen Medienkompetenz er- und beweisen müsse.
An diesen Trends des letzten Jahrzehnts, so Simanowski, hat sich auch während der Corona Pandemie kaum etwas verändert. Im Gegenteil: die zuständigen Ministerien in Bund und Ländern haben unisono signalisiert, den Anforderungen der Digitalisierung jetzt zügig und umstandslos gerecht werden zu wollen, anstatt diese je nach Themenfeld und zugrunde liegenden Prämissen sorgsam zu prüfen. Die Maßnahmen und deren Finanzierung wurden während Corona nochmals deutlich verstärkt - zu Ungunsten der Medienreflexionskompetenz. Es war die Stunde der technikbegeisterten Digitalisierungsoptimisten und sie kreierte insbesondere für Aus- und Weiterbildungsinstitute sowie kommerzielle Softwareanbieter das lang ersehnte - gewinnverheißende - Momentum: ein Szenario wie aus einem längst vergangenen Wahlkampf: „Digitalisierung First, Bedenken Second.“
Simanowski spricht sich keineswegs dagegen aus, Mediennutzungskompetenz zu erwerben. Sie sollte nur dem Erwerb der Medienreflexionskompetenz nicht entgegenstehen oder gar mit ihr verwechselt werden. Es ist notwendig und auch möglich, beide zu verbinden, aber diese Verknüpfung geschieht nicht von selbst. Es müssten strukturelle und schulorganisatorische Voraussetzungen durch die Schulverwaltungen geschaffen werden sowie auch finanzielle Ressourcen für die Lehrkräfte zur Verfügung stehen, damit diese mit einer guten didaktischen Ausbildung sowie individuellem Geschick beide Dimensionen in Szene setzen können. Die Lehrkräfte sind es, die zwischen den Welten vermitteln und sie sollten unmissverständlich die Risiken der Technik und Digitalisierung thematisieren und gemeinsam mit den Schülern die Worst-Case Szenarien durchspielen - nicht, um Angst und Schrecken zu verbreiten, sondern, weil diese Risiken reell bestehen, seien es ethische Fragen zum autonomen Fahren, seien es die Verwerfungen von Plattformwirtschaft, Datafizierung und Social Media.
Insofern vertritt Simanowski einen nachhaltigen, nicht-funktionalisierten Bildungsbegriff. Bildung darf für ihn nicht nur auf das individuelle „Werte- und Leistungsportfolio“ eines zukünftigen Arbeitsmarktes abzielen, sondern muss auch auf die Folgen in der Gesellschaft ausgerichtet sein. Darauf müssten konsequenterweise auch die Inhalte angepasst werden, die im Unterricht zu vermitteln seien. Am Beispiel des verpflichtenden Informatikunterrichts, den er grundsätzlich begrüßt, zeigt sich dieses Spannungsverhältnis. Der Informatikunterricht müsse sich neben der Vermittlung informatischen Grundwissens eben auch mit Technikfolgen befassen. Bisher sei diese Ausrichtung aber alles andere als abgesichert und solange „die geisteswissenschaftliche Erweiterung technischer Fächer eine bloße Zukunftsidee bleibt, ist man gut beraten, auf die Kompetenzen der geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer zu setzen. […] Die Aufgabe dieser Fächer liegt in der Vermittlung von Fertigkeiten, die in umfassender und nachhaltiger Weise auf die Herausforderungen der Digitalisierung reagieren: zum einen durch die Diskussion der gesellschaftlichen Konsequenzen der digitalen Medien, zum anderen durch die Sicherung jener alten analogen Kompetenzen, die unter den Kommunikationsbedingungen der digitalen Medien gefährdet sind: vom geduldigen Zuhören über die konzentrierte Lektüre komplexer Texte bis zur ergebnisoffenen, sachlichen, toleranten, selbstkritischen Diskussion.“