Das BfV ist eine von vielen Stellen in Deutschland, die sich mit radikalisierten Personen beschäftigt. Wenngleich für die Arbeitspraxis des BfV Paragraph 3 des Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) leitend ist – und damit der Fokus auf Aktivitäten, die auf eine Beeinträchtigung oder Beseitigung des staatlichen Grundgefüges hinauslaufen –, arbeiten Mitarbeitende auch mit dem Begriff Radikalisierung. Hierunter wird im BfV ein Prozess verstanden, im Rahmen dessen sich eine Person immer stärker einer Ideologie – beispielsweise dem Rechtsextremismus oder dem Islamismus – zuwendet und das eigene Leben nach dieser Ideologie ausrichtet. Dabei wird die eigene Sichtweise extrem verengt und es kommt zu einer Abgrenzung von all jenen, die die eigenen Überzeugungen nicht teilen. Dieser Prozess kann mitunter in gewalttätigen Handlungen enden, muss es aber nicht
Warum radikalisieren sich Menschen? Faktoren aus BfV-Sicht
Dass es den einen Faktor für Radikalisierungsprozesse nicht gibt, zeigt nicht nur die wissenschaftliche Reflektion des Themas, sondern auch die Arbeit des BfV. Letzteres macht darüber hinaus auch Erfahrungen, die in der Forschung bislang noch unterbelichtet sind. Um die Erkenntnisse aus der Arbeitspraxis festzuhalten, wurden Experteninterviews mit insgesamt vier BfV-Mitarbeitenden geführt: Zwei arbeiten in der Abteilung Islamismus, die anderen beiden beschäftigen sich mit Rechtsextremismus.
So ist aus Sicht des BfV die Herkunftsfamilie ein zentraler Faktor für die Radikalisierung: Häufig werden defizitär ausgefüllte Elternrollen beobachtet, etwa in Form emotionaler Abwesenheit von Vater und/oder Mutter. Betrachtet man die Biografien von radikalisierten Personen, fällt auch immer wieder auf, dass psychische und/oder physische Gewalt in der Familie vorherrschte. Nicht weniger problematisch sind überbehütete Familienverhältnisse, die es den Kindern erschweren, Fuß im Leben zu fassen, beispielsweise weil keine Möglichkeit geboten wird, den Umgang mit Hindernissen zu erlernen.
Systematisch untersucht ist die Rolle verschiedener Erziehungsstile bislang allerdings nicht. Die Forschung beschäftigt sich zwar eingehend mit dem Einflussfaktor Herkunftsfamilie, fokussierte sich hier aber bisher auf andere Aspekte, etwa kritische Lebensereignisse oder Familienmitglieder, die ebenfalls extremistische Denkmuster aufweisen.
Auch gesellschaftliche Entwicklungen haben einen Einfluss auf Radikalisierungsverläufe. Große gesellschaftliche Umbrüche – etwa in Folge der Corona-Pandemie, des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine oder des Klimawandels – und die damit einhergehenden und als negativ wahrgenommenen Veränderungen im persönlichen Leben können Menschen verunsichern.
Daneben gibt es einen Zusammenhang zwischen Alter und Radikalisierung. In Phänomenbereichen wie dem Rechtextremismus und dem Islamismus wird Radikalisierung als Jugendphänomen gesehen: Das heißt, dass sich vor allem Menschen im Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein, aber auch noch im jungen Erwachsenenalter entsprechenden extremistischen Bewegungen und Gruppierungen anschließen: Die Hinwendung zum Extremismus erfüllt oft Funktionen, die im Jugendalter eine besonders große Relevanz haben, wie zum Beispiel die Lösung von Identitätskonflikten.
Ähnliche blinde Flecken gibt es mit Blick auf den Einflussfaktor Geschlecht. Zwar gilt „Gender matters“, beispielsweise weil das Bundesamt mehr Männer als Frauen beobachtet, die sich radikalisieren. Lange Zeit wurden jedoch Phänomene wie der
Eng mit den bereits genannten Faktoren verknüpft sind psychologische Aspekte. Gemeint sind damit nicht primär psychische Auffälligkeiten oder Krankheiten, sondern emotionale Bedürfnisse, deren Befriedigung Menschen erwarten, wenn sie sich extremistischen Gruppierungen anschließen beziehungsweise sich extremistischen Denkmustern hingeben. Menschen, die sich radikalisieren, sind dabei zum Beispiel auf der Suche nach einer Gemeinschaft, Anerkennung oder Bedeutung.
Auch Faktoren im Online-Bereich können für Radikalisierungsverläufe bedeutsam sein. Das Internet bietet niedrigschwellige Einstiegsmöglichkeiten in radikale Lebenswelten. Wenn Menschen in die in Sozialen Medien oder Gaming Plattformen verbreiteten Inhalte einsteigen, laufen sie rasch Gefahr, ins sogenannte Rabbit Hole zu laufen. Dissonante Inhalte erreichen diese Menschen dann häufig nicht mehr,
Gleichwohl scheint es nach wie vor Extremismusphänomene zu geben, bei denen das Internet eine weniger große Rolle spielt. Das kann man zum Beispiel für Organisationen wie die im Islamismus angesiedelte Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) annehmen, wo realweltliche Faktoren – vor allem das Aufwachsen in entsprechenden IGMG-Familien – einen größeren Einfluss auf den Zugang zur und das Verbleiben in der Gruppe haben.
Immer jünger, immer radikaler – Einblicke in aktuelle Entwicklungen
Sowohl im Bereich Rechtsextremismus als auch im Bereich Islamismus wurde in jüngerer Zeit beobachtet, dass vor allem die Menschen, die im Internet erstmals auffallen, immer jünger und zugleich immer radikaler werden. Auch früher gab es 13- oder 14-Jährige, die zu Gewalt aufgerufen oder sie selbst angewandt haben. Doch quantitativ und qualitativ ist diesbezüglich eine Steigerung zu beobachten. Diese jungen Menschen fragen zum Beispiel nach Anleitungen zum Bau einer Bombe oder tauschen Anschlagsfantasien aus.
Darüber hinaus ist auffallend, dass diese Personen vor allem im Bereich Islamismus ideologisch entkoppelt sind. Sie sind also keiner konkreten Szene zuzuordnen – und verfügen häufig nur über rudimentäres Wissen über ideologische Zusammenhänge oder Feinheiten.
Das Internet könnte auch in diesem Zusammenhang eine hervorgehobene Rolle spielen: So ist es erstens möglich, dass das Internet und die Dauerverfügbarkeit von extremistischen Inhalten zu einer beschleunigten Radikalisierung führen. Zweitens kann es aber auch sein, dass diese jungen Menschen, um die es hier geht, primär gewaltaffin sind und im Internet auf Konzepte treffen, die ihnen einen legitimen Rahmen für Gewaltanwendung bieten.
Das BfV stellt diese Entwicklung vor verschiedene Herausforderungen. So kann die vollständige Verlagerung des Radikalisierungsgeschehens in die virtuelle Welt dazu führen, dass Personen weniger auffallen: Zuweilen ist eine Trennung zwischen analoger und digitaler Welt zu beobachten – die jungen Menschen führen ein Doppelleben. Radikalisierungstendenzen können in diesem Kontext durch konventionelle soziale Kontrollmechanismen, wie Schulen oder auch das soziale Umfeld, wesentlich schwerer erkannt werden. Darüber hinaus ergeben sich mit Blick auf besonders junge Personen ganz praktische Herausforderungen: Das BfV darf personenbezogene Daten von Minderjährigen unter 14 Jahren im verbundeigenen Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) nicht speichern – zugleich muss aber zum Beispiel auch ein 12-Jähriger bearbeitet werden, wenn er sich über jihadistische Anschlagsfantasien austauscht.
Deradikalisierung: Warum und wie sich Menschen wieder in die Mitte der Gesellschaft zurückbewegen
Häufig wird das BfV nur Zeuge der fortschreitenden Radikalisierung einer Person. Die Gegenbewegung, also der Abstieg von der Radikalisierungstreppe, sieht die Behörde nur selten – auch das hängt mit dem Arbeitsauftrag zusammen. Wenn, dann kommt dies in der Regel im Zusammenhang mit der Ausstiegsberatung vor. Dabei sind die Vorbehalte bei den Ausstiegswilligen, sich beim BfV zu melden und um Hilfe zu bitten, groß: Als staatlicher Akteur und als Sicherheitsbehörde zählt es häufig zu den zentralen Feindbildern von radikalisierten Personen. Gleichwohl verzeichnet das BfV in den letzten Jahren einen Zuwachs von Anfragen in diesem Bereich.
Die Menschen, die sich beim Ausstiegsprogramm melden, stehen in der Regel an einem Wendepunkt in ihrem Leben. Zum Beispiel, weil sie enttäuscht sind von der extremistischen Szene, der sie angehörten – sie fühlen sich von der extremistischen Gemeinschaft im Stich gelassen. Mitunter können auch Gewalterfahrungen, zum Beispiel durch Angriffe vom politischen Gegner, zum Willen führen, auszusteigen. Auch staatliche Exekutivmaßnahmen gehören als einschneidendes Erlebnis dazu. Einige wollen sich reinwaschen. Und manchmal hängt der Ausstiegswille mit einer Familiengründung zusammen: Kommen Kinder ins Spiel, wollen sich manche Extremisten wieder der Mitte der Gesellschaft annähern.
Doch der Wille allein reicht nicht. Ausstiegsprozesse dauern lange, sind zäh und bauen auf zwei Säulen auf. Zunächst einmal müssen die Ausstiegswilligen eine soziale Stabilität erreichen. Das bedeutet vielleicht, eine Wohnung oder einen Job zu finden. Zuweilen müssen sich Ausstiegswillige zum Beispiel im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthalts erst einmal um ihre psychische Gesundheit kümmern. Ist eine gewisse soziale Stabilität erreicht, kann die eigentliche ideologische Distanzierungsarbeit beginnen. Eines der Ziele ist dabei, anzuerkennen, dass die Radikalisierung eine bewusste Entscheidung war: Denn in der Regel ist Radikalisierung kein Strudel, der Menschen mitreißt. Auch wenn externe Faktoren eine Rolle spielen – die Verantwortung für Ein- und Ausstieg liegt bei jeder und jedem Einzelnen.