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Das Grundgesetz verstehen

Der gemeinnützige Verein GrundGesetzVerstehen e.V. besucht bundesweit Schulklassen und führt Unterricht zum Grundgesetz und den darin geregelten Grundrechten durch. GrundGesetzVerstehen will damit unter anderem einen praktischen und aktiven Beitrag gegen aktuelle Radikalisierungstendenzen leisten. Aber: Wie funktioniert das? Und: Was haben das Grundgesetz und die Grundrechte mit dem Spannungsfeld „Radikal versus Normal“ zu tun?

Radikal – das neue Normal?

Eigentlich ist die Idee hinter unserer Bildungsarbeit ganz einfach: Alles fing mit einer gewissen Irritation darüber an, dass die Krisen und politischen Geschehnisse des letzten Jahrzehnts viele Menschen zu der Behauptung veranlassten, man dürfe in Deutschland nicht mehr seine Meinung sagen.1 Während der weltweiten Covid-19 Pandemie wurden dann Beschwerden darüber laut, dass die Regierung massiv Grundrechte einschränke. 

Ein Missverständnis ebnet den Weg zur Radikalisierung

Für uns entstand angesichts solcher Äußerungen oftmals der Eindruck, dass die Funktion der Grundrechte in weiten Teilen der Öffentlichkeit mindestens unklar ist, wenn nicht sogar missverstanden wird. Das soll nicht heißen, dass jeder Berufung auf die Grundrechte ein Missverständnis zugrunde liegt. Denn natürlich garantiert das geltende Recht uns bestimmte Freiheiten, auf deren Wahrung und Durchsetzung wir uns auch aktiv berufen können. Ein Missverständnis besteht aber, wenn bestimmte persönliche Freiheitsrechte – etwa mein Recht auf freie Meinungsäußerung, mein Recht, mich frei zu bewegen, und mein Recht, mich mit anderen Personen zu treffen beziehungsweise zu politischen Zwecken zu versammeln – überwiegend individualistisch und absolut ausgelegt werden. Mit einer solchen Auslegung bringen Menschen zum Ausdruck, dass die Berücksichtigung der eigenen Rechte absolute Priorität haben muss und dass jegliche Beschränkung dieser Rechte einen fundamentalen Verstoß gegen die bestehende Ordnung darstellt. Ein solches Verständnis der Grundrechte übersieht, dass auch alle anderen Mitmenschen in unserer Gesellschaft die gleichen Rechte für sich in Anspruch nehmen; und ein solches Rechtsverständnis übersieht, dass in einer freiheitlichen und auf Basis des Grundgesetzes organisierten Gesellschaft Rechte und Freiheiten immer nur so weit reichen, bis deren Ausübung die Rechte und Freiheiten anderer Menschen betreffen oder beeinträchtigen.2 

Deshalb kann es dazu kommen, dass andere Menschen einem mit ihrer abweichenden Meinung entgegentreten, einem widersprechen oder eine Gegendemonstration organisieren. Es kann auch vorkommen, dass bestimmte Äußerungen sogar ganz verboten werden, weil sie die Persönlichkeit oder die Menschenwürde anderer Menschen verletzen. Genauso gut kann es vorkommen, dass eine Versammlung verboten oder aufgelöst wird, wenn die Versammlung oder ihre Teilnehmer die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden. Wer aber immer wieder darauf hinweist, dass „man nichts mehr sagen darf“ oder dass „Grundrechte massiv eingeschränkt werden“ propagiert ein individualistisches und absolutes Grundrechtsverständnis – so, als ob es in jedem Fall ungerechtfertigt wäre, dass die eigene Freiheit überhaupt eingeschränkt wird. Genau diese Annahme ist missverständlich, da Grundrechte gerade nicht in jedem Fall uneingeschränkt und uneinschränkbar gelten.

Aus unserer Sicht besteht zwischen der individualistischen und absoluten Lesart der Grundrechte und den aktuellen Radikalisierungstendenzen eine Art Wechselwirkung: Ein prominenter psychologischer Erklärungsansatz für Radikalisierungsprozesse begreift letztere als Ausdruck eines quest for significance, also des Strebens nach individueller Geltung und persönlicher Bedeutung und Verwirklichung. Einem solchen Geltungs- und Bedeutungsbedürfnis entspricht ein individualistisches Grundrechtsverständnis. Denn, wer ein starkes Bedürfnis nach Geltung zu stillen hat, wird sich ebenso stark dazu veranlasst sehen, die eigenen Grundrechte als gleichsam absolute Prioritäten zu begreifen und auf deren Berücksichtigung und Verteidigung, ohne Rücksicht auf berechtigte entgegenstehende Interessen, zu pochen. Andersherum können Radikalisierungsprozesse durch ein solches Grundrechtsverständnis verstärkt werden. Denn Radikalisierung lässt sich (auch) als Antwort auf Missachtungserfahrungen begreifen. Missversteht ein Mensch die eigenen Grundrechte als Rechte, denen absolute Geltung und unbedingte Priorität zukommt, so kann jede noch so ausgewogene und rechtmäßige Einschränkung dieser Grundrechte unmittelbar als Missachtung gedeutet werden. Ein fehlerhaftes beziehungsweise einseitiges Verständnis der Grundrechte sind somit Wegbereiter für Radikalisierungsprozesse.

Verstehen, wie (Grund-)Rechte „normalerweise funktionieren

Angesichts dessen scheint es uns aktuell mehr denn je geboten, Menschen dabei zu helfen, das Grundgesetz besser zu verstehen. Das heißt vor allem eines: Zu verstehen, dass die Verwirklichung von Grundrechten in einer freiheitlichen und vielfältigen Gesellschaft nur unter Berücksichtigung der Interessen aller betroffenen Personen erfolgen kann und typischerweise nur durch das Herstellen sogenannter „praktischer Konkordanz“ gelingen wird. Der Begriff der praktischen Konkordanz beschreibt ein den Grundrechten innewohnendes Prinzip. Dieses Prinzip besagt, dass miteinander in Konflikt stehende (Grund-)Rechtspositionen so anzuwenden und damit praktisch zur Geltung zu bringen sind, dass gerade nicht die eine oder die andere Position sich unbedingt, vollständig und absolut durchsetzen muss. Vielmehr müssen alle Positionen möglichst weitgehend und sinnvoll, wenn auch möglicherweise nicht vollständig und absolut, berücksichtigt werden.3

Ein klassisches Beispiel für die Anwendung dieses Prinzips ist die sogenannte „Kopftuch-Rechtsprechung“. Die zu entscheidenden Fälle drehen sich um religiöse Kleidungsvorschriften und deren Vereinbarkeit mit dem deutschen Schulsystem. In diesem Kontext stehen sich vor allem die Religionsfreiheit und Religionsausübungsfreiheit der Lehrkräfte und der Schülerinnen und Schüler, Gleichbehandlungsgrundsatz, der staatliche Erziehungsauftrag, die Schulpflicht und das Gebot der staatlichen Neutralität in religiösen Belangen gegenüber. Die Rechtsprechung zielt darauf ab, Lösungen zu finden, die eine religiös begründete Kleiderwahl mit der Durchführung von Schulunterricht vereint. Beispielsweise, indem eine muslimisch-gläubige Schülerin zwar nicht generell vom Schwimmunterricht befreit werden kann, aber immerhin durch das Tragen eines sogenannten „Burkini“ in die Lage versetzt wird, am Schwimmunterricht teilzunehmen.

Die Unterrichtseinheiten von GrundGesetzVerstehen sollen Schülerinnen und Schülern einerseits das wichtige Wissen darüber vermitteln, was das Grundgesetz ist, welche Funktion Grundrechte haben und wann wir uns wie auf sie berufen können. Oftmals sind Schülerinnen und Schüler durchaus überrascht, zu hören, dass es so etwas wie Grundrechte gibt. Je nach Thema konzentrieren sich unsere Einheiten auf ein bestimmtes Grundrecht oder einen bestimmten Aspekt unserer Verfassung und des Rechtsstaatsprinzips. Wir bieten beispielsweise Einheiten zur Meinungsfreiheit, zum Diskriminierungsverbot, zur Versammlungsfreiheit, zu Rundfunk- und Pressefreiheit, zur Religionsfreiheit, zu den europarechtlichen Grundfreiheiten und zur Geschichte unserer Verfassung an.

Andererseits ist der Kernteil unserer Unterrichtseinheiten regelmäßig praktisch und interaktiv gestaltet. Zum Beispiel lassen wir Schülerinnen und Schüler ihren eigenen Demo-Umzug in ihrer Stadt planen und konfrontieren sie dann spielerisch mit bestimmten Schwierigkeiten, die sie bei der Demoplanung berücksichtigen müssen: Eine plötzliche Gegendemo, aufkommende Gewaltbereitschaft einiger Teilnehmender der eigenen Demo, Einwände der Polizei gegen die geplante Route. Die Schülerinnen und Schüler können dann gemeinsam mögliche Lösungen entwickeln, um sowohl das Anliegen der Demonstration als auch die anderen betroffenen Interessen möglichst ausgewogen und verhältnismäßig in Ausgleich zu bringen.

„Aha! Es kommt also nicht nur darauf an, dass meine Rechte sich durchsetzen!“

Ein besonders spannendes Beispiel spielen wir mit den Schülerinnen und Schülern in der genannten Einheit zur Versammlungsfreiheit durch. Nachdem die Schülerinnen und Schüler gelernt haben, was genau eine grundrechtlich geschützte Versammlung ist und warum dieses Grundrecht eine wichtige Rolle für die kollektive Meinungsäußerung spielt, planen sie, wie bereits erwähnt, ihre eigene Demonstration. Dann konfrontieren wir sie mit folgendem Szenario: Während des Demo-Umzugs formiert sich eine Gegendemonstration. Die Polizei erkennt, dass einige Teilnehmende dieser Gegendemonstration gewalttätig werden und löst die Demonstration der Schülerinnen und Schüler auf. Zu Recht? Relativ schnell stürzen sich die Schülerinnen und Schüler hier auf zwei Aspekte: Erstens, dass die eigene Demonstration „zuerst“ da war und sich „an die Regeln gehalten“ hat. Zweitens, dass die Gewalt hier nur von der Gegendemonstration ausgeht. Die Schülerinnen und Schüler erkennen also, dass sie hier sowohl ein Recht auf die Fortsetzung der eigenen Versammlung als auch ein Recht auf Schutz gegen Störungen durch die gewalttätigen Gegendemonstrantinnen und -demonstranten haben.

Dann verändern wir den Sachverhalt: Nun bleibt auch die Gegendemonstration friedlich. Allerdings herrscht zwischen Teilnehmenden beider Demonstrationen eine sehr aufgeheizte Stimmung. Es entwickelt sich eine Dynamik, angesichts derer die Polizei mit guten Gründen davon ausgeht, dass es sehr bald zu schweren Auseinandersetzungen und Körperverletzungen kommen könnte, wenn sie nicht zeitnah eingreift. Deshalb löst die Polizei beide Versammlungen auf. Zu Recht? Überraschend für viele Schülerinnen und Schüler ist hier, dass die eigene Demonstration in dieser Konstellation kein Vorrangrecht („wir waren zuerst da“) in Anspruch nehmen kann. Solange beide Demonstrationen friedlich bleiben, gibt es grundsätzlich kein zeitliches Vorrangverhältnis. Die Polizei muss deshalb zwischen dem Versammlungsrecht aller teilnehmenden Demonstrantinnen und Demonstranten und der Wahrung der körperlichen Unversehrtheit abwägen. In dieser Situation kann es für die Polizei rechtmäßig sein, den Schutz der körperlichen Unversehrtheit priorisieren und beide Versammlungen aufzulösen.

Mit solchen praktischen Anwendungen der Grundrechte wollen wir die Schülerinnen und Schüler darauf aufmerksam machen, dass es je nach Einzelfall erforderlich sein wird, verschiedene Interessen, Rechtspositionen und Standpunkte zu berücksichtigen, wenn es darum geht, eine Entscheidung darüber zu treffen, wie die eigenen Grundrechte am besten verwirklicht werden können. Wir hoffen, damit hin und wieder einen gewissen Erkenntnis-Effekt hervorrufen zu können: „Aha! Es kommt also nicht nur darauf an, dass meine Rechte sich durchsetzen!“

Und wenn wir Glück haben, können wir vielleicht ein wenig zu einem Bewusstsein dafür beitragen, dass genau das „normal ist.

Fußnoten
3

Maryam Kamil Abdusalam, Mattis Leson: Die Verfassung wird bei Jugendlichen in guten Händen sein. In: lto.de 26. Mai 2024, abgerufen am 4. Juni 2024.

Vgl. Susanne Pickel: „Kein Mensch wacht morgens auf und ist plötzlich radikal“. In: te.ma 12. April 2024, abgerufen am 4. Juni 2024.

Vgl. zum Begriff der praktischen Konkordanz die Definition der Bundeszentrale für politische Bildung: „Das Prinzip der [praktischen Konkordanz] bezeichnet eine Methode der Verfassungsauslegung, welche die Lösung des Problems der Kollisionen gleichrangiger Verfassungsrechtsgüter (z. B. von Grundrechten des Grundgesetzes) zum Ziel hat. Nach dem Prinzip der [praktischen Konkordanz] ist in solchen Streitfällen zwischen den kollidierenden Rechtsgütern ein Ausgleich zu finden, der allen betroffenen Rechtsgütern die größtmögliche tatsächliche Wirksamkeit verschafft.”. Alexy Lennart et al.: Konkordanz, praktische. In: bpb.de 2023, abgerufen am 4. Juni 2024. 

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Die beiden Autor:innen Lukas Schlegel und Luisa Heinrichs gehen in Ihrem Beitrag auf ein individualistisches Grundrechtsverständnis ein. Diesem würde ein starker Geltungsdrang zugrunde liegen. Fragt sich, ob das mit unserer heutigen Aufmerksamkeitsökonomie auf sozialen Medien und Co. zu tun hat? Ist dieser „quest for significance” gar einer der zentralen Treiber von Radikalität?

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Ich kann mich erinnern, dass Kurator @tobias_müller sich in einem Beitrag die Frage gestellt hat, ob unsere Gesellschaft heute eigentlich radikaler ist als früher: https://te.ma/art/1df5zf/habermas-ziviler-ungehorsam-demokratie/. Im Vergleich zum „zivilen Ungehorsam“ von damals scheint mir aber die Radikalisierung von der Schlegel und Heinrichs sprechen viel individueller, oder?

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