Jede Psyche eine radikale Zelle

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Jede Psyche eine radikale Zelle

»The Three Pillars of Radicalization«

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Geschrieben von Tobias Müller

Bei te.ma veröffentlicht 09.05.2024

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/czyz-6f51

Geschrieben von Tobias Müller
Bei te.ma veröffentlicht 09.05.2024
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/czyz-6f51

Sind arme Menschen radikaler als Reiche? Befördert politische Instabilität Extremismus? Alles möglich, sagen die Psychologen Arie W. Kruglanski und Jocelyn J. Bélanger sowie der Friedens- und Konfliktforscher Rohan Gunaratna. Radikalisierung hänge letztlich aber von Entscheidungen einzelner Menschen ab. Wie diese zustandekommen, verrate ein Blick in die Psyche. 

Radikalisierungsprozesse sind keine Naturgesetze. Instabile politische Systeme bieten ebenso einen Nährboden für Radikalisierung wie soziale Abstiegsängste, Persönlichkeitsstörungen oder materielle Armut. Aber: Nicht jeder Mensch, der sorgenvoll in die Zukunft schaut, narzisstische Charakterzüge aufweist oder am Rande des Existenzminimums lebt, wird radikal. Radikalisierung, darauf hat auch Susanne Pickel in ihrem Gastbeitrag hingewiesen, ist immer das Resultat individueller Entscheidungen – so prozesshaft und langwierig diese auch sein mögen. Das gilt für Radikalisierungsprozesse im politischen Feld ebenso wie für radikale Ernährungsumstellungen oder das Vorhaben, das eigene Leben fortan dem Ultramarathon zu verschreiben.

Als psychologischen Kern jedes Radikalisierungsprozesses machen die Autor*innen ein „motivationales Ungleichgewicht“1 aus. Menschen, so die Autoren, richten ihr Leben so ein, dass ihre Grundbedürfnisse befriedigt werden können. Als physische Grundbedürfnisse gelten beispielsweise Hunger oder Schlaf und als psychische Grundbedürfnisse etwa Sicherheit, Zugehörigkeit, Kompetenz oder Autonomie. Welche Mittel gewählt werden, variiert, aber alle spezifischen Mittel dienen letztlich dem Erreichen universaler Ziele – eben der Befriedigung der Grundbedürfnisse. Kann Zugehörigkeit in religiös geprägten Gesellschaften beispielsweise über ein frommes Leben sichergestellt werden, so werden Menschen in säkularen Gesellschaften andere Wege beschreiten (müssen).

Unabhängig von den gewählten Mitteln balancieren sich die Grundbedürfnisse im Normalfall gegenseitig aus. Ein Beispiel, das diese Balance bereits im Namen trägt, ist die Work-Life-Balance. Schematisch ausgedrückt wird dem Bedürfnis nach Kompetenz im Arbeitszusammenhang nachgegeben und dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit in der Freizeit, etwa durch familiäre oder freundschaftliche Bande.

Wir können alle radikal werden

Laut Kruglanski, Bélanger und Gunaratna kann diese Balance jedoch aus dem Gleichgewicht geraten. Das ist dann der Fall, wenn ein Bedürfnis so übergewichtet wird, dass es alle anderen trumpft. Die unmittelbare Konsequenz solcher Verschiebungen ist, dass Verhaltensweisen denk- und lebbar werden, die vorher ausgeschlossen waren. Wird, um beim obigen Beispiel zu bleiben, das Bedürfnis nach Kompetenz übergewichtet, dann wird ein Arbeitspensum für möglich erachtet, das vorher ausgeschlossen war, weil es zu Lasten der familiären und freundschaftlichen Beziehungen gegangen wäre. Diese hatten bis zur Übergewichtung des Kompetenzbedürfnisses das Bedürfnis nach Zugehörigkeit befriedigt. Wird das Bedürfnis nach Kompetenz jedoch übergewichtet und das nach Zugehörigkeit folglich abgewertet, dann müssen Handlungen nicht mehr beide Bedürfnisse befriedigen. In der Konsequenz werden extreme(re) Verhaltensweisen zur Option, beispielsweise viele Überstunden, permanente Erreichbarkeit oder Arbeit am Wochenende. 

Für den politischen, gewalttätigen Extremismus ist nach Auffassung der Autoren vor allem ein Grundbedürfnis ausschlaggebend, und zwar das Streben nach Bedeutung (quest for significance). Für Kruglanski, Bélanger und Gunaratna liegt dieses Bedürfnis anderen sozialwissenschaftlichen Erklärungen für radikales und extremes Verhalten zugrunde, etwa einem Streben nach Rache oder der Wiederherstellung von Ehre. Für die Autoren sind solche Motive keine ersten Ursachen, sondern mögliche Manifestationen des Bedürfnisses nach Bedeutung. Letzteres ist universal, also nichts, was politischen Extremist*innen eigen wäre. Was politische Radikalisierungsprozesse jedoch ermöglicht, ist, dass dieses Bedürfnis übergewichtet wird. Drei mögliche Ursachen einer solchen Übergewichtung sind denkbar: Entweder haben Menschen tatsächlich einen Bedeutungsverlust erfahren; sie fürchten einen solchen zu erleiden; oder sie sehen die Möglichkeit, einen plötzlichen Bedeutungszuwachs zu erlangen. 

Auch hiermit ist freilich kein Automatismus ausgelöst. Aus Sicht der Autoren ist die Übergewichtung des quest for significance jedoch die Bedingung dafür, dass sich Menschen radikalen Angeboten zuwenden und schließlich auch zu radikalem Handeln – beispielsweise Gewaltausübung – bereit sind. Um jedoch ins Handeln zu kommen, braucht es ein vermittelndes Element, das die Autoren als Ideologie bezeichnen. Hiermit meinen sie ein System aus Glaubensüberzeugungen, das Menschen Orientierung gibt. Auch hier gilt, dass Glaubenssysteme nichts sind, was Extremist*innen eigen ist. Alle Menschen strukturieren ihren Blick auf die Welt mit Hilfe solcher Systeme. Wie die Welt wahrgenommen wird, variiert jedoch von Ideologie zu Ideologie. Wo beispielsweise ein liberaldemokratisches Glaubenssystem Mitbürger*innen den gleichen Wert zuweist, hierarchisieren religiöse Fundamentalismen zwischen Personengruppen. 

Die Autoren argumentieren, dass Menschen, deren quest for significance aktiviert wurde, besonders anfällig für Ideologien sind, die klare Orientierung bieten, die Welt ordnen und strukturieren – und auf diese Weise das bedienen, was die Autoren als need for closure bezeichnen, also einen Ausschluss von Ambivalenz und Vieldeutigkeit. Beispiele hierfür sind klare Einteilungen in Gut und Böse oder Freund und Feind. Besonders geeignet seien hierfür kollektivistische Glaubenssysteme, etwa ein radikaler Nationalismus. Solche Glaubenssysteme tilgen aber nicht nur Ambivalenzen, sondern befriedigen auch den need for significance. Durch die Identifizierung mit der (nationalen) Gruppe stabilisiert das Individuum die eigene Bedeutung – und zwar wesentlich in Abgrenzung, Gegnerschaft oder gar Feindschaft zu einer Außengruppe. 

Für Demokratien nicht verloren

Als letzten Faktor der Radikalisierung identifizieren Kruglanski, Bélanger und Gunaratna schließlich das soziale Netz, das Menschen umgibt. Gerade in Lebensphasen, in denen Selbst- und Weltbild ins Wanken geraten, orientieren sich Menschen an vertrauten Personen im näheren Umfeld. Sie fungieren dann häufig als zentrale Referenzgruppe, an deren Glaubenssysteme sich die wankenden Einzelnen ausrichten. Je moderater diese sind, umso unwahrscheinlicher wird es, dass der quest for significance unter Rückgriff auf radikale ideologische Angebote befriedigt wird. Eine Gewähr gegen Radikalisierung bietet ein moderates Nahfeld freilich nicht – teilweise radikalisieren sich Menschen sogar jenseits sozialer Beziehungsgeflechte. Das zeigen nicht nur radikale Einstellungen bei einsamen Menschen, sondern auch prominente Radikalisierungsprozesse, die in weitgehender sozialer Isolation stattgefunden haben, etwa im Fall Ted Kaczynski.

Grundsätzlich, so die Autoren, könne mit Blick auf die identifizierten Faktoren, die zur Radikalisierung von Menschen führen, nur von einem Modell gesprochen werden, weil diese von Fall zu Fall unterschiedlich zusammenhängen. Der quest for significance ist bei Person A beispielsweise schneller aktiviert als bei Person B. Person B ist wiederum weniger vom Wohlwollen ihres nahen sozialen Umfelds abhängig als Person A. Als ausgemacht sehen Kruglanski, Bélanger und Gunaratna jedoch an, dass die Faktoren im Zuge von Radikalisierungsprozessen beobachtbar sind und dass dieser Prozess kein automatisierter ist. So muss der quest for significance zwar bedient werden, aber das kann durchaus auch unter Rückgriff auf prosoziale Angebote geschehen. Denn Menschen können sich nicht nur im Kampf gegen vermeintliche Feinde bedeutsam fühlen, sondern auch indem sie sich für andere engagieren, im Ortsverein, der Kirche oder bei der Tafel.

Fußnoten
1

Arie W. Kruglanski, Jocelyn J. Bélanger, Rohan Gunaratna: The Three Pillars of Radicalization. Needs, Narratives, and Networks. Oxford University Press, New York 2019, ISBN 978-0190851125, S. 36.

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Das Konzept der Grundbedürfnisse stammt aus der Psychologie und wird dort vor allem im Bereich der Motivationstheorien verhandelt. Grundbedürfnisse helfen also dabei zu verstehen, warum Menschen sich in einer spezifischen Art und Weise verhalten.

Was als Grundbedürfnis zu bezeichnen ist, ist nach wie vor umstritten, sodass nicht von einer geschlossenen Theorie gesprochen werden kann.

Allgemein wird zwischen physischen und psychogenetischen Grundbedürfnissen unterschieden. Zu ersteren werden beispielsweise Nahrung und Schlaf gezählt, zu letzteren Autonomie, Zugehörigkeit und Vertrauen.

Theodore John Kaczynski (1942-2023) war ein US-amerikanischer Terrorist, der zwischen 1978 und 1995 mehrere Paketbombenanschläge verübte, bei denen insgesamt drei Menschen getötet wurden.

Kaczynski lebte seit Ende der 1960er-Jahre als sich selbst versorgender Einsiedler in den Wäldern Montanas. Sein terroristisches Tun rechtfertigte er unter anderem mit einer Moderne- und Zivilisationskritik, in der er Naturzerstörung und Technisierung anprangerte.

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