Vieles müsste eigentlich ganz einfach sein. So gibt es beispielsweise keine ernstzunehmenden Zweifel mehr am menschengemachten Klimawandel. Mit anderen Worten: Fakt ist, dass die Menschheit einen Einfluss auf das Klima hat. Auf Grundlage dessen sollte man handeln – und streiten. Denn welche Strategien zum Wandel des Wandels angewendet werden sollten, ist eine andere Frage. Laut Marietta und Barker fängt das Problem aber schon früher an, und zwar beim Fakt beziehungsweise dessen Wahrnehmung.
Die Autoren argumentieren keinesfalls radikalkonstruktivistisch. Sie bestreiten also nicht, dass es eine Wirklichkeit gibt und Menschen sich der Wahrheit dieser Wirklichkeit etwa über Beobachtungen nähern können. Es gibt, wie sie sagen, keine „parteiischen“ oder „sich bekämpfenden Fakten“ (partisan or dueling facts)
Das liegt den Autoren zufolge daran, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungen Ausdruck konfligierender – und sehr tief sitzender – Wertvorstellungen sind. Wären Menschen als erkennende Wesen lediglich darauf bedacht, Erkenntnis zu optimieren, also die Wirklichkeit möglichst angemessen wahrzunehmen, sähe die Situation anders aus. Laut Marietta und Barker dient menschliche Erkenntnis aber nicht nur – und in vielen Fällen nicht einmal in erster Linie – der Erkenntnis als solcher, sondern erfüllt noch ganz andere Funktionen.
Jedem Erkennen, so die Autoren, liege eine spezifische Motivation zugrunde. Es könne beim Erkennen darum gehen, die Wirklichkeit tatsächlich möglichst akkurat wahrzunehmen. Erkenntnisprozesse könnten aber auch durch den Wunsch nach einem möglichst kohärenten Glaubenssystem (belief coherence) geleitet werden. Und schließlich spiele beim menschlichen Erkennen oftmals soziale Anerkennung eine entscheidende Rolle. Im Alltagsverständnis dürften viele Menschen Erkenntnisprozesse mit einem wissenschaftlichen Ideal assoziieren.
Eben weil akkurate Wahrnehmung der Wirklichkeit keineswegs die einzige Motivation hinter menschlicher Erkenntnis ist, werde die Wirklichkeit häufig sehr selektiv wahrgenommen. Ein Beispiel ist der Erfolg von Menschen, die aus benachteiligten Gruppen stammen, etwa Barack Obama, der als erster Afroamerikaner in der Geschichte der USA zum Präsidenten gewählt wurde. Uneinigkeit entzündet sich nicht an der Tatsache, dass Obama als erster Afroamerikaner ins Oval Office eingezogen ist – oder an der geometrischen Form des Präsidentenbüros –, sondern daran, was diese Tatsache meint. Mit anderen Worten: Wie wird der Fakt – Obama wurde zum ersten afroamerikanischen Präsidenten gewählt – wahrgenommen.
Ich erkenn’ die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt
Dieses Wahrnehmen, so Marietta und Barker, wird vor allem von den fundamentalen Werten der Wahrnehmenden beeinflusst. Ist ein Mensch zutiefst von individualistischen Werten geprägt, dann wird Obamas Erfolg in diesem Lichte wahrgenommen: „Seht, wer sich genug anstrengt, der kann zum mächtigsten Mann der Welt werden, unabhängig von Herkunft und vermeintlicher Benachteiligung.“ Sind für einen anderen Beobachter kollektivistische Werte leitend, wird die Wahrnehmung eine andere sein, etwa: „Als US-amerikanische Gesellschaft haben wir versagt, weil es über 200 Jahre gedauert hat, bis ein afroamerikanischer Präsident möglich wurde.“
Diese wertegeleitete Wahrnehmung, so die Autoren, werde durch die Gruppenzugehörigkeit der Einzelpersonen noch verstärkt. Menschen, so könnte man sagen, erkennen die sie umgebende Wirklichkeit nicht in sozialer Isolation. Vielmehr gehören sie sozialen Gruppen an – und diese sozialen Gruppen teilen häufig ähnliche Grundüberzeugungen. Zugespitzt: Ein linksradikaler junger Mensch wird vermutlich nicht den Großteil der Freizeit mit der Ortsgruppe der Jungen Liberalen verbringen. Damit steigen aber laut Marietta und Barker die Kosten dafür, die Welt jenseits des eigenen Wertekorridors wahrzunehmen. Es ist schmerzhafter, sich gegen die eigene Peergroup zu stellen als die geteilten Werte so auf die Fakten zu projizieren, dass Letztere sich ins eigene Weltbild einfügen.
Diesem Umstand, so die Autoren, wird man auch mit Bildung nicht begegnen können. Für die These führen sie zwei empirisch fundierte Argumente an. Zum einen hätten psychologische Untersuchungen hinreichend häufig gezeigt, dass mehr Bildung eben nicht dafür genutzt werde, unvoreingenommener zu erkennen. Vielmehr besäßen besser Gebildete ein besseres Rüstzeug, um Fakten mit ihren fundamentalen Wertvorstellungen in Einklang zu bringen. Bildung bringt Menschen also, mit anderen Worten, nicht in erster Linie bei, die Welt akkurat zu erkennen. Sie ermöglicht es vor allem, die Welt so zu sehen, dass sie den eigenen Werten entspricht.
Zum anderen, so Marietta und Barker, befänden sich die Bildungsinstitutionen in einer Krise. Ihnen werde von einem Gutteil der US-Amerikaner*innen kein Vertrauen mehr entgegengebracht. Sie würden stattdessen als parteiische Institutionen wahrgenommen. Diese Haltung fände sich vor allem unter Anhänger*innen der Republikaner. Mehr als die Hälfte dieser Gruppe ist der Überzeugung, dass universitäre Forschung zu gesellschaftlich umstrittenen Themen wie Klimawandel und Rassismus vermutlich falsch seien.
Mindestens der letztgenannte Befund lässt sich nicht umstandslos auf andere Länder übertragen, in denen die Wissenschaft teilweise nach wie vor großes Ansehen genießt. Für Menschen, die mehr Bildung als probatestes Mittel gegen Polarisierung und Radikalisierung begreifen, sind die Befunde von Marietta und Barker nichtsdestotrotz alles andere als ein Anlass zur Freude. Wie eine bessere Bildung von denen, die sie genießen, gebraucht wird, können Bildungsinstitutionen nicht beeinflussen. Wenn sich der für moderne Gesellschaften charakteristische Wertepluralismus tatsächlich zu einem Antagonismus zwischen Weltbildern entwickeln sollte, dann besteht sicherlich Grund zur Beunruhigung. In diesem Fall würden die Kosten einer Weltwahrnehmung, die nicht ins Weltbild passt, weiter steigen – und somit die Anreize, die Bildung eher dazu zu nutzen, die eigenen Werte auf die Fakten zu projizieren. Dass dies beinahe immer möglich ist, liegt in der Natur der Sache, denn: Entgegen der landläufigen Meinung sprechen Fakten eben sehr selten für sich.
Das klingt alles sehr düster. Aber statt die eigenen Werte auf die von Marietta und Barker präsentierten Fakten zu projizieren, sollten wir eher innehalten, wenn wir das nächste Mal denken: „Also, so kann man das aber nicht sehen!“