Von wegen Klima-RAF: Warum ziviler Ungehorsam Teil des demokratischen Prozesses ist

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Jürgen Habermas1983
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Von wegen Klima-RAF: Warum ziviler Ungehorsam Teil des demokratischen Prozesses ist

»Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik«

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Geschrieben von Tobias Müller

Bei te.ma veröffentlicht 29.02.2024

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/zbjw-sx49

Geschrieben von Tobias Müller
Bei te.ma veröffentlicht 29.02.2024
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/zbjw-sx49

Bereits in den frühen 1980er-Jahren hat sich Jürgen Habermas mit dem zivilen Ungehorsam auseinandergesetzt und den Umgang mit dieser Protestform zum „Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“ erklärt. Zivilen Ungehorsam gibt es auch heute noch, beispielsweise in Form der Straßenblockaden der Letzten Generation. Habermas’ Text hilft derartige Proteste und ihr Verhältnis zum demokratischen Rechtsstaat einzuordnen.

Anfang 2024 gaben die Klimaaktivisten der Letzten Generation bekannt, dass sie fortan davon absehen wollen, den Verkehr auf bundesdeutschen Straßen durch Sitzblockaden lahmzulegen. Ungehorsam wollen sie aber bleiben, in Zukunft allerdings in Versammlungsform und nicht länger auf der Straße klebend. Was aber heißt es, in liberalen Demokratien zivil ungehorsam zu sein? Und warum sollten Demokratien zivilen Ungehorsam aushalten, wenn sie nicht ins Autoritäre kippen wollen?

Mit diesen Fragen hat sich Jürgen Habermas bereits Anfang der 1980er-Jahre auseinandergesetzt. Sein Aufsatz entstand vor dem Hintergrund der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen, etwa der Umwelt-, Frauen- und Friedensbewegung. Sie waren in Deutschland infolge der außerparlamentarischen Studierendenproteste der 1960er-Jahre entstanden. Häufig griffen die Bewegungen auf illegale Aktionsformen zurück – beispielsweise vorübergehende Blockaden von Baustellen oder auch Hausbesetzungen –, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Den Umgang mit diesen Ausprägungen zivilen Ungehorsams erklärt Habermas zum „Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“. Hier zeige sich, wie es um die politische Kultur in der Bundesrepublik bestellt ist. Warum räumt Habermas dem Umgang mit dem zivilen Ungehorsam einen solch hohen Stellenwert für die Beurteilung des demokratischen Rechtsstaats ein? 

Um diese Frage beantworten zu können, ist es zunächst wichtig zu verstehen, was Habermas unter zivilem Ungehorsam versteht. Im Anschluss an den US-amerikanischen Moralphilosophen John Rawls definiert er zivilen Ungehorsam als einen Protest, der moralisch begründet ist und in der Öffentlichkeit stattfindet. Die Protestierenden verzichten dabei auf Gewalt, übertreten aber wissentlich einzelne Rechtsnormen, ohne dabei die gesamte Rechtsordnung infrage zu stellen. Ihre Aktionen zielen auf eine Beeinflussung der öffentlichen Meinung, nicht darauf, nicht revidierbare Fakten zu schaffen. Außerdem sind die Protestierenden dazu bereit, für ihre Taten einzustehen. Sie lassen sich im Zweifelsfall also vom Staat zur Rechenschaft ziehen, um ihr Anliegen auch im Rahmen der etablierten Rechtsordnung zu verteidigen. Schon mit Blick auf diese Charakteristika wird deutlich, was der zivile Ungehorsam gerade nicht ist: Terrorismus oder eine sonstige Form der untergründigen Kriminalität. Denn Terroristen und Kriminelle sind beispielsweise nicht dazu bereit, für die rechtlichen Folgen der begangenen Taten einzustehen.

Dass der zivile Ungehorsam ein „Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“ ist, erläutert Habermas aus einer rechtsphilosophischen Perspektive. Er möchte also keine juristische Prüfung der jeweiligen Protestformen vornehmen, sondern ihren Sinn und Zweck innerhalb der Verfassungsordnung offenlegen. 

Anders als in autoritären Systemen sollen die Bürger:innen demokratischer Rechtsstaaten die Rechtsordnung nicht aus Angst vor möglichen Strafen akzeptieren, sondern aus Überzeugung. Dass sie das in aller Regel tun, hängt wesentlich damit zusammen, dass das Verfahren der Rechtserzeugung für legitim gehalten wird. Bürger:innen glauben also beispielsweise – und vereinfacht ausgedrückt – daran, dass die von ihnen gewählten Abgeordneten ihre Interessen vertreten und in ihrem Sinne Gesetze auf den Weg bringen, gegen die sie im Zweifelsfall Klage einlegen können. 

Nun wird dieser Glaube regelmäßig erschüttert, etwa durch Korruptionsaffären oder einen ungezügelten Lobbyismus. Kurz: Selbst wenn Verfahrenswege eingehalten werden, gibt es keinen absoluten Schutz gegen moralische Verfehlungen Einzelner. Gerade mit Blick auf die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert ist das mehr als offensichtlich. Rein institutionell kann dem laut Habermas kein Einhalt geboten werden. Was es braucht, seien urteilsfähige und risikobereite Bürger:innen, die im Ernstfall dazu bereit sind, „aus moralischer Einsicht auch ungesetzlich zu handeln.“1 Stellt Habermas demnach individuelle Überzeugungen über demokratische Mehrheitsentscheidungen?

So einfach ist es nicht. Zwar müssen die Einzelnen am Ende nach einer genauen Prüfung des Sachverhalts und ihrer Beweggründe entscheiden, ob sie zivilen Ungehorsam ausüben wollen. In letzter Instanz liegt es aber nicht an ihnen, darüber zu befinden, ob ihr Anliegen Anklang bei der Masse der Bürger:innen findet. Diese zu adressieren – und zum Nachdenken zu bringen – ist das einzig legitime Ziel des Protests, dem Habermas deshalb einen rein symbolischen Charakter zuschreibt. Das ist einer der Gründe für Habermas’ Forderung, dass sich die Regelverletzer:innen bereit zeigen müssen, für die rechtlichen Folgen ihrer Taten einzustehen. Sie dürfen sich also gerade nicht über die Rechtsordnung stellen, sondern lediglich versuchen, durch wohltemperierte Grenzübertretungen auf diese Ordnung einzuwirken.

Ebenso wohltemperiert hat sich Habermas zufolge allerdings auch die jeweilige Mehrheitsgesellschaft zu verhalten. Gerade weil die Verhältnisse immer in Bewegung sind, können sich Habermas zufolge temporäre Mehrheiten niemals zu sicher sein, dass ihre Positionen auch in Zukunft die richtigen sind. Es bedarf auf ihrer Seite eines Misstrauens gegen die eigenen Überzeugungen, die sich immer wieder irritieren lassen müssen. Wer wollte dem widersprechen, angesichts einer Rechtsordnung, die Vergewaltigungen in der Ehe erst 1997 unter Strafe gestellt hat2?

Fehlt die Bereitschaft zur Selbstbefragung, droht der demokratische Rechtsstaat laut Habermas ins Autoritäre zu kippen, genauer gesagt in einen „autoritären Legalismus3. Wenn zivilem Ungehorsam nur noch mit dem hilflosen Dogma begegnet wird, dass Gesetz eben Gesetz ist, dann entspringt dies Habermas zufolge „derselben Mentalität wie die Überzeugung jenes ehemaligen NS-Marinerichters, der meinte, dass, was einmal Recht war, auch Recht bleiben müsse.“4

Fußnoten
4

Jürgen Habermas: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik. In: Peter Glotz (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/Main 1983, ISBN 978-3-518-11214-4, S. 39.

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Vergewaltigung in der Ehe. Strafrechtliche Beurteilung im europäischen Vergleich (PDF, 123KB). 2008, abgerufen am 15. Februar 2024.

Jürgen Habermas: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik. In: Peter Glotz (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/Main 1983, ISBN 978-3-518-11214-4, S. 51.

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Mit Neuen Sozialen Bewegungen werden in der Geschichte der Bundesrepublik jene Gruppen bezeichnet, die sich im Zuge der Studierendenproteste der 1960er-Jahre bilden und ausdifferenzieren. Mit dem Adjektiv „neu“ werden diese Gruppen von den revolutionären Arbeiter*innenbewegungen abgegrenzt. Arbeit und soziale Gerechtigkeit bleiben auch für die Neuen Sozialen Bewegungen Thema, allerdings tritt der revolutionäre Anspruch in den Hintergrund beziehungsweise verschwindet. Weitere wichtige Themenfelder sind Umweltpolitik, Gleichberechtigung der Geschlechter und die Bekämpfung von Hunger und Armut im sogenannten Globalen Süden.

Unter „autoritärem Legalismus“ versteht Habermas eine Geisteshaltung, die Gesetze allein deshalb für gültig erachtet, weil sie Gesetze sind. Es wird also zu keinem Zeitpunkt geprüft, ob die Gesetze auch moralisch legitim sind. Ein Beispiel für eine derartige Geisteshaltung ist der von Habermas nicht namentlich erwähnte ehemalige NS-Marinerichter und später baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger, der mit Blick auf die Nazizeit gesagt hatte: „Was damals rechtens war, das kann heute nicht Unrecht sein.“

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