Anfang 2024 gaben die Klimaaktivisten der Letzten Generation bekannt, dass sie fortan davon absehen wollen, den Verkehr auf bundesdeutschen Straßen durch Sitzblockaden lahmzulegen. Ungehorsam wollen sie aber bleiben, in Zukunft allerdings in Versammlungsform und nicht länger auf der Straße klebend. Was aber heißt es, in liberalen Demokratien zivil ungehorsam zu sein? Und warum sollten Demokratien zivilen Ungehorsam aushalten, wenn sie nicht ins Autoritäre kippen wollen?
Mit diesen Fragen hat sich Jürgen Habermas bereits Anfang der 1980er-Jahre auseinandergesetzt. Sein Aufsatz entstand vor dem Hintergrund der sogenannten
Um diese Frage beantworten zu können, ist es zunächst wichtig zu verstehen, was Habermas unter zivilem Ungehorsam versteht. Im Anschluss an den US-amerikanischen Moralphilosophen John Rawls definiert er zivilen Ungehorsam als einen Protest, der moralisch begründet ist und in der Öffentlichkeit stattfindet. Die Protestierenden verzichten dabei auf Gewalt, übertreten aber wissentlich einzelne Rechtsnormen, ohne dabei die gesamte Rechtsordnung infrage zu stellen. Ihre Aktionen zielen auf eine Beeinflussung der öffentlichen Meinung, nicht darauf, nicht revidierbare Fakten zu schaffen. Außerdem sind die Protestierenden dazu bereit, für ihre Taten einzustehen. Sie lassen sich im Zweifelsfall also vom Staat zur Rechenschaft ziehen, um ihr Anliegen auch im Rahmen der etablierten Rechtsordnung zu verteidigen. Schon mit Blick auf diese Charakteristika wird deutlich, was der zivile Ungehorsam gerade nicht ist: Terrorismus oder eine sonstige Form der untergründigen Kriminalität. Denn Terroristen und Kriminelle sind beispielsweise nicht dazu bereit, für die rechtlichen Folgen der begangenen Taten einzustehen.
Dass der zivile Ungehorsam ein „Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“ ist, erläutert Habermas aus einer rechtsphilosophischen Perspektive. Er möchte also keine juristische Prüfung der jeweiligen Protestformen vornehmen, sondern ihren Sinn und Zweck innerhalb der Verfassungsordnung offenlegen.
Anders als in autoritären Systemen sollen die Bürger:innen demokratischer Rechtsstaaten die Rechtsordnung nicht aus Angst vor möglichen Strafen akzeptieren, sondern aus Überzeugung. Dass sie das in aller Regel tun, hängt wesentlich damit zusammen, dass das Verfahren der Rechtserzeugung für legitim gehalten wird. Bürger:innen glauben also beispielsweise – und vereinfacht ausgedrückt – daran, dass die von ihnen gewählten Abgeordneten ihre Interessen vertreten und in ihrem Sinne Gesetze auf den Weg bringen, gegen die sie im Zweifelsfall Klage einlegen können.
Nun wird dieser Glaube regelmäßig erschüttert, etwa durch Korruptionsaffären oder einen ungezügelten Lobbyismus. Kurz: Selbst wenn Verfahrenswege eingehalten werden, gibt es keinen absoluten Schutz gegen moralische Verfehlungen Einzelner. Gerade mit Blick auf die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert ist das mehr als offensichtlich. Rein institutionell kann dem laut Habermas kein Einhalt geboten werden. Was es braucht, seien urteilsfähige und risikobereite Bürger:innen, die im Ernstfall dazu bereit sind, „aus moralischer Einsicht auch ungesetzlich zu handeln.“
So einfach ist es nicht. Zwar müssen die Einzelnen am Ende nach einer genauen Prüfung des Sachverhalts und ihrer Beweggründe entscheiden, ob sie zivilen Ungehorsam ausüben wollen. In letzter Instanz liegt es aber nicht an ihnen, darüber zu befinden, ob ihr Anliegen Anklang bei der Masse der Bürger:innen findet. Diese zu adressieren – und zum Nachdenken zu bringen – ist das einzig legitime Ziel des Protests, dem Habermas deshalb einen rein symbolischen Charakter zuschreibt. Das ist einer der Gründe für Habermas’ Forderung, dass sich die Regelverletzer:innen bereit zeigen müssen, für die rechtlichen Folgen ihrer Taten einzustehen. Sie dürfen sich also gerade nicht über die Rechtsordnung stellen, sondern lediglich versuchen, durch wohltemperierte Grenzübertretungen auf diese Ordnung einzuwirken.
Ebenso wohltemperiert hat sich Habermas zufolge allerdings auch die jeweilige Mehrheitsgesellschaft zu verhalten. Gerade weil die Verhältnisse immer in Bewegung sind, können sich Habermas zufolge temporäre Mehrheiten niemals zu sicher sein, dass ihre Positionen auch in Zukunft die richtigen sind. Es bedarf auf ihrer Seite eines Misstrauens gegen die eigenen Überzeugungen, die sich immer wieder irritieren lassen müssen. Wer wollte dem widersprechen, angesichts einer Rechtsordnung, die Vergewaltigungen in der Ehe erst 1997 unter Strafe gestellt hat
Fehlt die Bereitschaft zur Selbstbefragung, droht der demokratische Rechtsstaat laut Habermas ins Autoritäre zu kippen, genauer gesagt in einen „