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Die Welt will betrogen werden

Re-Paper
John T. Jost2018

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Geschrieben von Dennis Yücel

Bei te.ma veröffentlicht 24.05.2024

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/xmbe-1b49

Geschrieben von Dennis Yücel
Bei te.ma veröffentlicht 24.05.2024
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/xmbe-1b49

Auf Kritik des eigenen politischen Systems reagieren viele Menschen mit Rechtfertigung – selbst jene, die darin offensichtlich benachteiligt werden. Warum suchen so viele Menschen scheinbar Halt im Status Quo? Der Psychologe John T. Jost erforscht die marxistische Theorie des „falschen Bewusstseins“ mit sozialpsychologischer Methodik. 

Seine wissenschaftliche Karriere, sagt der Psychologe Jost, werde seit Jahrzehnten von den gleichen Fragen angetrieben: Warum lehnen viele arme Menschen die Umverteilung von Reichtum ab? Warum zeigen sich Minderheiten oft feindselig gegenüber ihresgleichen? Warum bleiben Menschen immer wieder bei ihren gewalttätigen Partnern? Und warum ist es so schwierig, bei diesen Themen nachhaltige Veränderungen auf den Weg zu bringen?

Die Fragen, die Jost sich stellt, lassen sich unter einem Problem subsumieren, das seit den Anfängen der marxistischen Theorie diskutiert wird und bis heute eine grundlegende Schwierigkeit linker Politik darstellt: Das Problem des „falschen Bewusstseins“ – also die Frage, warum so viele Menschen scheinbar an Glaubenssätzen festhalten, die ihre eigene Unterdrückung legitimieren. Heute stellt sich diese Frage etwa in Hinblick auf arbeitslose oder gering bezahlte Menschen, die AfD wählen – obwohl die Partei keinen Hehl aus ihrer Verachtung für sozial benachteiligte Menschen macht und Sozialleistungen massiv kürzen möchte. Oder die Frage, warum sich in den USA immer mehr Menschen aus schwarzen und latino Communities Donald Trump zuwenden – trotz seiner rassistischen Rhetorik und Politik. 

Als Jost in den 1990er Jahren beginnt, sich mit Problemen des  „falschen Bewusstseins“ auseinanderzusetzen, findet er in der sozialpsychologischen Literatur der Zeit keine Antworten. Fragen über Gruppenprozesse und Stereotypen werden damals vor allem entlang der bis heute einflussreichen Theorie der sozialen Identität von Henri Tajfel und John C. Turner aus dem Jahr 1979 diskutiert. Die daraus entstehenden Arbeiten können überzeugend darlegen, wie und warum Menschen in vielen Situationen ihre eigene soziale Gruppe aufwerten (In-Group Favoritism), um ihr persönliches Selbstwertgefühl zu stärken — nicht aber, warum in vielen Fällen auch das genaue Gegenteil einzutreten scheint (Out-Group Favoritism), Menschen negative Stereotypen über ihre eigene Gruppe pflegen und andere soziale Gruppen aufwerten, selbst wenn sich diese ihnen gegenüber dominant und/oder ungerecht verhalten. 

„Falsches Bewusstseins“ – nicht nur passiv

Gemeinsam mit seinem Kollegen Mahzarin R. Banaji macht sich Jost deshalb daran, die sozialpsychologische Forschung mit marxistischer Theorie über das falsche Bewusstsein anzureichern. Entstanden ist daraus die System Justification Theory, die in den letzten 30 Jahren zu einem der einflussreichsten Konzepte in der politischen Psychologie avanciert ist. 

Grundlegend besagt die Theorie, dass Menschen aufgrund bestimmter psychologischer Mechanismen nicht nur die Tendenz zeigen, sich selbst und ihre eigene Gruppe zu verteidigen und zu rechtfertigen, sondern auch das soziale, wirtschaftliche und politische System, in dem sie leben. Anders gesagt: psychologische Bedürfnisse drängen Menschen zu einem unbedingten Glauben, dass die bestehende soziale Ordnung legitim und gerechtfertigt ist, selbst wenn sie in Wahrheit ausgebeutet werden. 

Die System Justification Theory geht also davon aus, dass „falsches Bewusstsein“ nicht lediglich passiv entsteht, etwa weil Menschen von demagogischen Eliten verführt werden. Sie geht davon aus, dass Menschen den Status quo aus eigenem Antrieb zu legitimieren suchen. So werden sie überhaupt der Theorie nach erst für demagogische Botschaften empfänglich. Die Welt will, einem berühmten Sprichwort nach, betrogen werden. 

In den vergangenen Jahrzehnten ist die ursprüngliche Theorie von Jost und Banaji hundertfach experimentell überprüft und weiterentwickelt worden. Zum einen konnten zahlreiche Effekte von Out-Group Favoritism gezeigt werden. Ob Angehörige niedriger Kasten in Indien, Schwule und Lesben in Chile, Frauen in Deutschland, Schwarze in den USA oder Südafrika – in vielen Fällen äußerten Menschen negative Stereotypen gegenüber ihrer eigenen Gruppe und positive gegenüber dominanten Gruppen. 

Zum anderen zeigten diese Studien, dass Menschen in vielen Fällen bereit waren, die bestehende Ordnung als sinnvoll und gerecht zu legitimieren, und zwar gerade, wenn sie mit Infragestellungen und Widersprüchen konfrontiert waren. Menschen, die etwa Artikel über einen drohenden Zerfall der amerikanischen oder israelischen Gesellschaft oder die Diskriminierung von arabisch-kanadischen Menschen lasen, argumentierten in einer Reihe von Experimenten deutlich für die bestehende Ordnung und zeichneten mehr diskriminierende Stereotypen als Kontrollgruppen. 

Sicherheit durch Rechtfertigung

Jost geht davon aus, dass Menschen die bestehende soziale Ordnung legitimieren, um Wissen, Existenz und Beziehungen abzusichern. Simpel gesagt: In der Überzeugung, dass das System und seine Institutionen legitim sind, finden Menschen Sicherheit. Sie fühlen sich in ihren Überzeugungen, ihrem physischen Wohlbefinden und ihren persönlichen Beziehungen bestärkt. 

Jost spricht daher auch von einer „palliativen Funktion“ der Systemrechtfertigung. Tatsächlich konnte die sozialpsychologische Forschung in einer Reihe von Experimenten nachweisen, dass Menschen, die von der Gerechtigkeit des politischen Systems überzeugt sind, höhere subjektive Zufriedenheit und weniger emotionalen Stress erfahren – Konservative scheinen in einer Reihe von Experimenten glücklicher als Liberale oder Linke. Umgekehrt scheinen sich Menschen verstärkt systemrechtfertigenden Positionen anzuschließen, je mehr sie unter Stress geraten. 

Für Menschen aus begünstigten Gruppen steht die Systemrechtfertigung dabei im Einklang mit den Motiven der Ich- und Gruppenrechtfertigung. Bei Menschen aus benachteiligten Gruppen ist die Lage komplexer. Die Rechtfertigung des Status quo ist für sie paradoxerweise sowohl eine Bedrohung als auch eine Möglichkeit, mit dieser Bedrohung umzugehen. Mehrere Studien mit homo- und bisexuellen sowie transgender Menschen zeigten etwa, dass Diskriminierung mit verstärkten Symptomen von Angst und Depressionen einherging – betroffene Menschen, die diese Diskriminierung verharmlosten und selbst mehr negative Stereotypen an den Tag legten, schienen davon jedoch in Bezug auf ihre eigene psychische und physische Gesundheit zu profitieren. 

Um zu verdeutlichen, was auf dem Spiel steht, lenkt Jost den Blick auf gegenteilige Lebensweisen. Menschen, die die bestehende Ordnung herausfordern, sich etwa an nachhaltigen und tiefgreifenden Formen des Protests beteiligen, sind der System Justification Theory nach enorm hohen sozialen und psychischen Kosten ausgesetzt. Sie müssen ein hohes Maß an Unsicherheit in Kauf nehmen: das Risiko einer Entfremdung von Freunden, Familie und Mehrheitsgesellschaft sowie potenzielle Bedrohungen für die eigene Sicherheit.

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