Das Einzige, was wir sicher über die Zukunft wissen, ist ihre Ungewissheit. Bereits die Entwicklung der heutigen Welt ist durch den Klimawandel, die Digitalisierung und die Globalisierung wesentlich dynamischer, als viele es kommen sahen. Umso wichtiger erscheint es nach Einschätzung der OECD daher, Schüler auf diese Ungewissheit einzustellen und diese als Herausforderungen zu akzentuieren.
Dazu stellt der Lernkompass 2030 sieben Handlungsfelder vor, die schulisches Lernen zukünftig prägen. Sie werden auf 120 Seiten erläutert und mit Praxis- und Unterrichtsbeispielen veranschaulicht. Auf diese Weise will man Handlungsimpulse für die Akteure der strukturellen Ebene von Schulverwaltung wie für den praktischen Schulunterricht setzen.
Zuerst wird „Student Agency” als zentrales Selbstkonzept eingeführt. Es bezeichnet die individuelle Gestaltungs- und Handlungsfähigkeit der Schüler dem eigenen Leben gegenüber und muss vermittelt werden. Sie soll durch „Co-Agency” ergänzt werden, indem Vereine, Familie, Freunde und auch Lehrer diese Selbstwirksamkeit in sozialen Kontexten erfahrbar machen.
Das zweite Element des Bildungskompasses stellen die sogenannten „Transformationskompetenzen“ dar. Damit werden drei Kompetenzen benannt, die Schüler brauchen, um „eine erwünschte Zukunft gestalten zu können”. Dazu zählt erstens die Kompetenz, neue Werte zu schaffen, um auf eine Welt mit neuen Arbeitsplätzen, Dienstleistungen und Wissensformen vorbereitet zu sein. Als zweite Kompetenz gilt das Ausgleichen von Spannungen und Dilemmata, um in einer dynamischen und internationalen Welt konfliktfähig und lösungsorientiert agieren zu können. Die dritte Kompetenz ist Verantwortungsübernahme. Als Beispiel dafür wird ein Schulprojekt eines United World Colleges angeführt, bei dem Schüler eigenverantwortlich Gesangsnachmittage mit Kindern mit Down Syndrom organisieren.
Davon ausgehend werden Lerngrundlagen benannt, die den Ausgangspunkt für schulische Curricula bilden sollen. Dazu zählen digitale und datenbezogene Literalität. Für elementar wird aber auch die physische und psychische Gesundheit gehalten. Damit soll etwa der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Faktoren wie Cyber-Mobbing oder übermäßige, suchtartige Online-Aktivitäten Schülergesundheit im digitalen Zeitalter vor immense Herausforderungen stellt.
Was die Formen des Wissens angeht, die in zukunftsfähigen Curricula zentral werden sollten, betont die OECD, dass Fachwissen weiterhin eine Rolle spiele. Der Fächer- und Wissenskanon dürfe aber nicht weiter als Ansammlung von Fakten definiert werden, sondern es gelte, „Fachgebiete nun als zusammenhängende Systeme” zu betrachten. Interdisziplinäres und prozedurales Wissen müssten entsprechend an Bedeutung gewinnen.
Darauf aufbauend werden dann konkrete „Skills” festgelegt, die den Schülern vermittelt werden sollten. Dazu zählen basale Bildungsinhalte wie der Umgang mit Zahlen und Sprache. Gefördert werden sollte zusätzlich kritisches Denken und Kreativität, um der wachsenden ethnischen, kulturellen und sprachlichen Diversität und der Wichtigkeit des lebenslangen Lernens gerecht zu werden. Ein im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Bildung oft vernachlässigter Aspekt sei zudem, laut OECD, das Vermitteln von Haltungen und Werten, um „das Urteilsvermögen im Hinblick auf das Ausmaß, in dem die Technologie zu einer fairen und gerechten Welt beitragen kann oder nicht“ bei Schülern zu stärken.
Zuletzt wird der sogenannte „Antizipations-, Aktions- und Reflexionszyklus“ (AAR-Zyklus) als konkreter Vorschlag für die Unterrichtspraxis vorgestellt. Darunter werden iterative Lernprozesse verstanden, die ganz konkret in der Schule implementiert werden sollen, um die Planungsphasen selbständigen Lernens methodisch einzuüben.
Der OECD gelingt es im Vergleich zur KMK im Papier „Lehren und Lernen in der digitalen Welt” insgesamt, konzeptionell einen Bildungskatalog zu formulieren, das Schüler gezielt befähigen soll, Entwicklungen der Zukunft kritisch zu hinterfragen und mitzugestalten. Die OECD fordert zudem Staaten auf, angesichts der radikalen gesellschaftlichen Umbrüche für die Ausrichtung der Bildung eine „Haltung” und konkrete Werte festzulegen. Somit wird zumindest problematisiert, dass ein Bildungskonzept eine gesellschaftliche Zielsetzung und eine Verständigung über ethisches Handeln benötigt. Zugleich zeigt sich an dieser Stelle auch die Grenze des Papiers. Denn zur konkreten Ausprägung der elementaren „Werte und Normen” positioniert sich die OECD ausdrücklich nicht, da diese von Kultur und Tradition jedes einzelnen Landes geprägt seien. Als Ratgeber für 38 Mitgliedstaaten bleibt man zurückhaltend bei der Entscheidung, welche Bildungsziele und welche allgemeineren gesellschaftlichen Werte verfolgt werden sollen.
Dementsprechend offen positioniert sich die OECD in einem weiteren Papier auch bei der Frage, wie die Gestalt der Schulen von morgen sein sollten und stellt dazu vier unterschiedliche Szenarien vor: Sie reichen vom Status quo über privatisierte und von Technologie geprägte Strukturen bis hin zu experimentellen Bildungslaboren. Auch hier sucht man vergebens konkrete Handlungsempfehlungen und überlässt es den einzelnen Ländern, diese auszudifferenzieren. Entsprechend irritierend wirkt es an einigen Stellen, wenn lediglich Fragen ins Offene gestellt werden, ohne die damit zusammenhängenden konkreten, etwa organisatorischen Konsequenzen für die Schulen zu problematisieren.
Insgesamt formuliert die OECD also viele Fragen und sensibilisiert für die zukünftigen Probleme im Allgemeinen. In der Gesamtschau überwiegt allerdings der Eindruck von Versatzstücken auf unterschiedlichen Strukturebenen, die weder konsistent problematisiert noch zusammen gedacht werden.