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Wird Europas Sicherheit immer noch am Hindukusch verteidigt?

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Nasir Ahmad Andisha2020
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Wird Europas Sicherheit immer noch am Hindukusch verteidigt?

»Neutrality and Vulnerable States«

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Intro

Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 02.10.2023

te.ma DOI 10.57964/h00j-vd85

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 02.10.2023
te.ma DOI 10.57964/h00j-vd85

Neben den Krisen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ist die Europäische Union auch in Konflikte fernab der eigenen Grenzen involviert. Das Beispiel Afghanistans lässt die Schwierigkeiten eines langfristigen Engagements der Union in der globalen Sicherheitspolitik erkennen: Zwar soll auch nach dem Rückzug westlicher Truppen die „Entwicklung eines stabilen, friedlichen und prosperierenden Landes“ unterstützt werden. Nasir Ahmad Andisha zufolge würde jedoch Neutralität Afghanistan am meisten nützen.

Andishas Buch über das Konzept und die Praxis der Neutralität am Beispiel Afghanistans geht davon aus, dass die Instabilität des Landes weniger das Resultat interner, sondern externer Machtkämpfe um die Vorherrschaft auf afghanischem Boden ist.1 Den Ausweg aus dem Teufelskreis von externer Intervention und interner Instabilität sieht Andisha, der neben seiner wissenschaftlichen Publikationstätigkeit selbst jahrelang afghanischer Diplomat war, in einer „ständigen“, also international garantierten und dauerhaften Neutralität.2

Die Stabilität Afghanistans stellt auch für die EU eine globale sicherheitspolitische Herausforderung dar. So sprach 2002 der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck davon, dass die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt werde. Zwischen 2001 und 2021 beteiligten sich die EU-Staaten an der Sicherheits- und Wiederaufbaumission und der Ausbildung afghanischer Polizei- und Sicherheitskräfte unter Nato-Führung. Seit der erneuten Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 hat sich die Lage in Afghanistan wieder erheblich verschlechtert. Doch nach wie vor hält die EU offiziell an ihrem Ziel eines stabilen Afghanistans fest: Dies sei im Interesse der gesamten internationalen Gemeinschaft, um regionale Instabilität zu verhindern.

Andisha befürchtet, dass Afghanistan nach dem Abzug der Nato-Truppen erneut zu einem geopolitisch umkämpften Hinterhof für die USA, China und Russland wird. Unter diesen Umständen könne eine international vereinbarte und garantierte permanente Neutralität die Sicherheit und Stabilität Afghanistans am besten garantieren. Für ein eingeschlossenes und ehemals als „Pufferstaat“ behandeltes Land wie Afghanistan dränge sich Neutralität als Ausweg geradezu auf, so der Diplomat.

In seiner Studie stützt sich Andisha auf bekannte Fälle wie die Schweiz, Österreich und Laos, um die Herausforderungen und Chancen einer ständigen Neutralität für Afghanistan zu analysieren. Neutralität definiert er dabei als Nichtbeteiligung an Konflikten anderer. Damit diese erfolgreich funktionieren könne, müsse eine Reihe von Bedingungen gegeben sein: Vor allem müsse es eine geopolitische Lage geben, in der ein regionales Mächtegleichgewicht und eine militärische Pattsituation herrschten. Zudem brauche man den Konsens und die Zustimmung wichtiger Nachbarstaaten sowie innenpolitische Stabilität und ein Grundmaß an militärischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten. 

Besonders interessant ist, dass Andisha auf die weit zurückreichende Geschichte des Neutralitätsdiskurses in der afghanischen Politik aufmerksam macht. Einer der ersten Versuche, Neutralität als Lösung für die Krise in Afghanistan anzuwenden, war beispielsweise eine von den USA unterstützte und von Großbritannien geleitete Initiative unmittelbar nach der sowjetischen Militärinvasion 1979. Die Initiative sah vor, mithilfe eines Abkommens über die Neutralität Afghanistans nach dem Vorbild Österreichs die sowjetische Besatzung zu beenden und den Weg für einen gesichtswahrenden Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Afghanistan zu ebnen. Sie wurde jedoch sowohl von der sowjetischen Führung als auch dem damals herrschenden kommunistischen Regime in Kabul mit der Begründung abgelehnt, es handele sich um eine Verschwörung des Westens.

Ein weiterer Versuch, Afghanistan zu einem neutralen Staat zu machen und sogar zu entmilitarisieren, erfolgte nach dem Abzug des sowjetischen Militärs im Jahr 1988. Diesmal ging die Initiative von Moskau aus, offiziell vorgeschlagen wurde sie aber vom Regime in Kabul. Der damalige Präsident Nadschibullah beauftragte die afghanische Akademie der Wissenschaften mit der Untersuchung der Durchführbarkeit einer Politik der entmilitarisierten ständigen Neutralität. Im Mai 1990 wurde schließlich die Verfassung geändert, in der zum ersten Mal in der Geschichte des Landes der Begriff „ständige Neutralität“ auftauchte.3 Nach 2001 blieb die afghanische Regierung ein aktives Mitglied der Bewegung der Blockfreien Staaten und nahm regelmäßig an ihren Treffen teil. Sie verzichtete jedoch darauf, den Begriff Neutralität in ihren offiziellen Erklärungen zu verwenden. 

Auch heute verfolgen die drei großen Akteure USA, Russland und China strategische Ziele in der Region, insbesondere den Zugang zu Militärstützpunkten und natürlichen Ressourcen. Gleichzeitig seien Andisha zufolge die Beziehungen der Großmächte in Afghanistan in den vergangenen Jahren eher kooperativ als konfliktiv gewesen, vor allem da alle drei an regionaler Stabilität interessiert seien. Dieser Umstand stelle eine günstige Ausgangslage für die Umsetzung der Neutralität dar. 

Nicht förderlich sei hingegen die Rivalität zwischen Indien und Pakistan in Afghanistan, die in Europa wenig diskutiert wird. Jahrelang haben beide Staaten miteinander verfeindete Parteien in Afghanistan unterstützt und dabei ihre jeweils eigenen (sicherheits-)politischen Interessen verfolgt.4 Russland sei der einzige große regionale Akteur, der die Neutralität Afghanistans zu seiner offiziellen politischen Position erklärt habe. Die am 4. Juli 2023 veröffentlichte Abschlusserklärung des Gipfeltreffens der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) zeigt jedoch, dass mittlerweile alle SOZ-Mitglieder, zu denen neben Russland und China auch Indien und Pakistan gehören, die Entwicklung Afghanistans zu einem unabhängigen, neutralen und geeinten Staat befürworten. 

Trotz des Rückhalts, den die Idee einer afghanischen Neutralität unter den großen regionalen Akteuren genießt, bräuchte es Andisha zufolge zusätzlich einen Konsens der afghanischen Elite. Angesichts der Feindseligkeit zwischen dem Westen und Russland in der Ukraine habe allerdings keiner der regionalen Hauptakteure die Bereitschaft oder das nötige politische Kapital, um auf eine solche Einigung hinzuwirken. Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ist eine Einigung umso weniger wahrscheinlich. Während China und Russland in Kabul diplomatisch präsent sind, halten europäische Staaten aufgrund eklatanter Verletzungen der Menschen-, Frauen-, und Mädchenrechte Abstand. Eine koordinierte internationale Strategie zeichnet sich nicht ab. 

Andishas Fokus auf externe Einflüsse unterschlägt zuweilen die Bedeutung interner Faktoren. Seit der Unabhängigkeit Afghanistans im Jahr 1919 besteht ein Konflikt zwischen progressiven und konservativen Kräften, der von religiösen und ethnischen Faktoren geprägt ist und mehrfach zu Aufständen und Bürgerkriegen führte. Die Instabilität mag also von außen befeuert werden – zahlreiche Probleme sind aber hausgemacht.

Gleichwohl wäre der Vorschlag des Buches, über eine breit verhandelte Neutralität für Afghanistan politische Stabilität zu erreichen, eine vielversprechende und bisher wenig diskutierte Strategie. Die Analyse des Diplomaten zeigt jedoch auch, dass das Land die meisten Kriterien für eine tragfähige dauerhafte Neutralität bisher nicht erfüllt.

Fußnoten
4

Überblickswerke zur Geschichte Afghanistans sind Thomas Jefferson Barfield: Afghanistan. A Cultural and Political History. Princeton University Press, Princeton 2012, ISBN 9780691154411 und Jonathan L. Lee: Afghanistan. A History from 1260 to the Present. Reaktion Books, London 2018, ISBN 9781789140194.

Seit Jahrzehnten wird die ständige Neutralität oder Neutralisierung als eine mögliche politische Lösung für langwierige Konflikte diskutiert, vor allem für kleinere Staaten in den Gebieten, die von Großmächten umkämpft sind. Eine Analyse der Voraussetzungen für die Einführung von Neutralisierung und ihren Funktionen, inklusive historischer Beispiele und Methoden zur Aushandlung der Neutralisierung ist Cyril Black et al.: Neutralization and World Politics. Princeton 1968, ISBN 9780691649078. Efraim Karsh untersucht in seinem Buch die Erfahrungen der neutralen Staaten in Europa während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit und zieht daraus Schlüsse über die Sinnhaftigkeit der Neutralität für kleine Staaten. Efraim Karsch: Neutrality and Small States. Routledge 2011, ISBN 9780203721308. Hanspeter Neuhold definiert folgende wesentliche Voraussetzungen für eine effektive Neutralität: 1) Es muss zumindest ein annäherndes Kräftegleichgewicht zwischen den Opponenten bestehen, in deren Konflikt neutrale Staaten versuchen, einen Mittelweg zu finden, 2) eine geringe Konfliktintensität zwischen den Opponenten und 3) die interne Stabilität des neutralen Staates. Siehe Hanspeter Neuhold: Permanent Neutrality in Contemporary International Relations: A Comparative Perspective. In: Irish Studies in International Affairs. Band 1, Nr. 3, S. 13–26.

In der Verfassung von 1990 ist das Prinzip der „Schaffung günstiger Bedingungen für die Festlegung des rechtlichen Status der dauerhaften Neutralität Afghanistans und seiner Entmilitarisierung“ verankert.

Indien war bestrebt, Afghanistan als Bollwerk gegen militante Islamisten, darunter auch die von Pakistan unterstützten Taliban, aufzubauen, während Pakistan versuchte, dem entgegenzuwirken, was es als indisch-afghanische Bemühung betrachtete, Pakistan zu schwächen. Zu den Strategien und Interessen beider regionaler Akteure in Afghanistan siehe: https://www.usip.org/sites/default/files/2020-01/sr_462-the_india_pakistan_rivalry_in_afghanistan.pdf.

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Im Dezember 2001 wurde die sogenannte International Security Assistance Force (ISAF) eingerichtet. Es handelt sich um eine von der UN mandatierte und von der Nato geführte Sicherheits- und Wiederaufbaumission, an der sich die EU sowie weitere Nicht-EU-Staaten beteiligten. Bis 2014 sollte die Mission Sicherheit und Stabilität gewährleisten. Ab 2015 folgte die Nato-Mission Resolute Support, die die Ausbildung, Beratung und Unterstützung afghanischer Polizei- und Sicherheitskräfte zum Ziel hatte und im September 2021 beendet wurde.

Bei der permanenten Neutralität handelt es sich um ein Prinzip, dem zufolge sich ein Staat nicht nur in einem konkreten Konflikt neutral verhält, sondern Neutralität als Prinzip seiner Außenpolitik in einem Dokument völkerrechtlich festschreibt.

Der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan erfolgte Ende Dezember 1979 zur Unterstützung der kommunistische afghanischen Regierung. Diese befand sich in einem Konflikt mit antikommunistischen muslimischen Guerillas (1978-1992). Die Intervention war das einzige Mal, dass die Sowjetunion in ein Land außerhalb des Ostblocks einmarschierte. Allerdings gelang es nicht, das kommunistische Regime in Kabul aufrechtzuerhalten. 1988 unterzeichnete die Sowjetunion ein Abkommen mit den Vereinigten Staaten, Pakistan und Afghanistan und erklärte sich zum Truppenabzug bereit, der am 15. Februar 1989 abgeschlossen wurde. Afghanistan kehrte daraufhin zum Status eines blockfreien Staates zurück. Der Krieg hat schätzungsweise einer Million Zivilisten und etwa 125.000 afghanische, sowjetische und andere Kombattanten das Leben gekostet. Er richtete nicht nur in Afghanistan selbst verheerende Schäden an, sondern auch in der Sowjetunion, deren Wirtschaft und internationales Ansehen schweren Schaden erlitt. Die Niederlage in Afghanistan wird als einer der Faktoren gesehen, die zum späteren Zusammenbruch der UdSSR beitrugen.

Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) ist eine internationale Organisation mit Sitz in Peking, die am 15. Juni 2001 von China, Russland, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistans und Usbekistan gegründet wurde. Am 9. Juni 2017 wurden Indien und Pakistan als Vollmitglieder aufgenommen. Seit 2023 gehört der Iran der Organisation an.
Außerdem gibt es drei Beobachterstaaten, die an einer Vollmitgliedschaft interessiert sind (Afghanistan, Belarus und die Mongolei) und neun Dialogpartner (Ägypten, Armenien, Aserbaidschan, Kambodscha, Katar, Nepal, Saudi Arabien, Sri Lanka und die Türkei). Der türkische Präsident Erdogan erklärte am 17. September 2022, dass die Türkei ebenfalls eine Vollmitgliedschaft in der SOZ anstrebt. Zudem beginnt aktuell der Prozess zur Aufnahme von Bahrain, den Malediven, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait und Myanmar als neue Dialogpartner.

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