Andishas Buch über das Konzept und die Praxis der Neutralität am Beispiel Afghanistans geht davon aus, dass die Instabilität des Landes weniger das Resultat interner, sondern externer Machtkämpfe um die Vorherrschaft auf afghanischem Boden ist.
Die Stabilität Afghanistans stellt auch für die EU eine globale sicherheitspolitische Herausforderung dar. So sprach 2002 der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck davon, dass die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch verteidigt werde. Zwischen 2001 und 2021 beteiligten sich die EU-Staaten an der
Andisha befürchtet, dass Afghanistan nach dem Abzug der Nato-Truppen erneut zu einem geopolitisch umkämpften Hinterhof für die USA, China und Russland wird. Unter diesen Umständen könne eine international vereinbarte und garantierte
In seiner Studie stützt sich Andisha auf bekannte Fälle wie die Schweiz, Österreich und Laos, um die Herausforderungen und Chancen einer ständigen Neutralität für Afghanistan zu analysieren. Neutralität definiert er dabei als Nichtbeteiligung an Konflikten anderer. Damit diese erfolgreich funktionieren könne, müsse eine Reihe von Bedingungen gegeben sein: Vor allem müsse es eine geopolitische Lage geben, in der ein regionales Mächtegleichgewicht und eine militärische Pattsituation herrschten. Zudem brauche man den Konsens und die Zustimmung wichtiger Nachbarstaaten sowie innenpolitische Stabilität und ein Grundmaß an militärischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten.
Besonders interessant ist, dass Andisha auf die weit zurückreichende Geschichte des Neutralitätsdiskurses in der afghanischen Politik aufmerksam macht. Einer der ersten Versuche, Neutralität als Lösung für die Krise in Afghanistan anzuwenden, war beispielsweise eine von den USA unterstützte und von Großbritannien geleitete Initiative unmittelbar nach der
Ein weiterer Versuch, Afghanistan zu einem neutralen Staat zu machen und sogar zu entmilitarisieren, erfolgte nach dem Abzug des sowjetischen Militärs im Jahr 1988. Diesmal ging die Initiative von Moskau aus, offiziell vorgeschlagen wurde sie aber vom Regime in Kabul. Der damalige Präsident Nadschibullah beauftragte die afghanische Akademie der Wissenschaften mit der Untersuchung der Durchführbarkeit einer Politik der entmilitarisierten ständigen Neutralität. Im Mai 1990 wurde schließlich die Verfassung geändert, in der zum ersten Mal in der Geschichte des Landes der Begriff „ständige Neutralität“ auftauchte.
Auch heute verfolgen die drei großen Akteure USA, Russland und China strategische Ziele in der Region, insbesondere den Zugang zu Militärstützpunkten und natürlichen Ressourcen. Gleichzeitig seien Andisha zufolge die Beziehungen der Großmächte in Afghanistan in den vergangenen Jahren eher kooperativ als konfliktiv gewesen, vor allem da alle drei an regionaler Stabilität interessiert seien. Dieser Umstand stelle eine günstige Ausgangslage für die Umsetzung der Neutralität dar.
Nicht förderlich sei hingegen die Rivalität zwischen Indien und Pakistan in Afghanistan, die in Europa wenig diskutiert wird. Jahrelang haben beide Staaten miteinander verfeindete Parteien in Afghanistan unterstützt und dabei ihre jeweils eigenen (sicherheits-)politischen Interessen verfolgt.
Trotz des Rückhalts, den die Idee einer afghanischen Neutralität unter den großen regionalen Akteuren genießt, bräuchte es Andisha zufolge zusätzlich einen Konsens der afghanischen Elite. Angesichts der Feindseligkeit zwischen dem Westen und Russland in der Ukraine habe allerdings keiner der regionalen Hauptakteure die Bereitschaft oder das nötige politische Kapital, um auf eine solche Einigung hinzuwirken. Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ist eine Einigung umso weniger wahrscheinlich. Während China und Russland in Kabul diplomatisch präsent sind, halten europäische Staaten aufgrund eklatanter Verletzungen der Menschen-, Frauen-, und Mädchenrechte Abstand. Eine koordinierte internationale Strategie zeichnet sich nicht ab.
Andishas Fokus auf externe Einflüsse unterschlägt zuweilen die Bedeutung interner Faktoren. Seit der Unabhängigkeit Afghanistans im Jahr 1919 besteht ein Konflikt zwischen progressiven und konservativen Kräften, der von religiösen und ethnischen Faktoren geprägt ist und mehrfach zu Aufständen und Bürgerkriegen führte. Die Instabilität mag also von außen befeuert werden – zahlreiche Probleme sind aber hausgemacht.
Gleichwohl wäre der Vorschlag des Buches, über eine breit verhandelte Neutralität für Afghanistan politische Stabilität zu erreichen, eine vielversprechende und bisher wenig diskutierte Strategie. Die Analyse des Diplomaten zeigt jedoch auch, dass das Land die meisten Kriterien für eine tragfähige dauerhafte Neutralität bisher nicht erfüllt.