Ein Tool, das die Möglichkeit bietet, politische Proteste rund um den Globus zu verfolgen, ist der Global Protest Tracker des Carnegie Endowment for International Peace. Die Datenbank gibt Auskunft über zivilgesellschaftlichen Protest seit 2017.
Ein Blick in die Daten zeigt, dass Protest in den letzten Jahren in allen Teilen der Welt wirkmächtig war. Selbst in autoritären Staaten wie China führten Proteste zu einer anderen Politik, beispielsweise zu einer Lockerung der äußerst restriktiven Corona-Schutzmaßnahmen im November 2022. Und bereits 2019 hatten Hunderttausende Algerier*innen den damaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika zum Rücktritt gezwungen – auch wenn eine weitreichende Demokratisierung des Staates in der Folge nicht stattgefunden hat.
Auf der anderen Seite liefen allerdings auch viele Proteste ins Leere. Eine direkte Reaktion der Machthabenden – etwa Reformen oder Rücktritte – blieben aus. So protestierten in Spanien im vergangenen Jahr bis zu 250.000 Menschen gegen Privatisierung und Unterfinanzierung des öffentlichen Gesundheitswesens. Geändert hat sich seither jedoch nichts. In insgesamt 439 der 660 registrierten Fälle konnten die Forschenden keine veränderte Politik oder einen Wechsel der politischen Führung feststellen.
Kleinere Proteste in autoritären Staaten können bedeutender sein als Massenproteste in Demokratien
Eingang in die Carnegie-Datenbank finden allerdings nicht alle Proteste, sondern lediglich solche, die sich gegen die jeweils im Amt befindliche Regierung richten – und Proteste, die als „bedeutend“ angesehen werden. Letzteres lässt sich, wie das Carnegie Endowment einräumt, nicht objektiv bestimmen. Die Größe der Proteste, zu der sich in der Datenbank Angaben finden, scheint zwar ein naheliegendes Kriterium zu sein, ist allerdings bei genauerer Betrachtung nur bedingt aussagekräftig. So können kleine Proteste in autoritären und repressiven Systemen eine größere Bedeutung haben als Massenproteste in demokratischen Staaten mit einer gewachsenen Streitkultur. Die Datenbank trägt dem Rechnung, indem sie die Größe der Proteste mit den politischen und sozialen Freiheiten im jeweils betrachteten Land ins Verhältnis setzt. In einem Staat, der diese Freiheiten zumindest teilweise garantiert, werden Proteste von den Forschenden dann als bedeutend betrachtet, wenn sich über 10.000 Menschen beteiligen. Handelt es sich hingegen um ein autoritär regiertes Land, dann genügen bereits mehr als 1.000 Teilnehmer*innen. Die Forschenden behalten sich allerdings vor, auch kleinere Proteste als bedeutend zu bewerten und in die Datenbank aufzunehmen, wenn ein direkter Einfluss auf politische Entscheidungsträger*innen realistisch ist, beispielsweise weil die Protestierenden zwar zahlenmäßig schwach erscheinen mögen, aber gut organisiert sind.
Als Quellen für den Global Protest Tracker dienen englischsprachige Medienberichte. Auch das bringt Probleme mit sich, da nicht alle Weltregionen gleichermaßen von Medien, die auch oder ausschließlich in englischer Sprache berichten, gecovert werden. Diesbezüglich ist die aktuelle Lage allerdings nicht mehr mit der Situation vor 30, 40 oder 50 Jahren vergleichbar, da die großen Medienhäuser immer mehr dazu übergegangen sind, ihre Angebote einem englischsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Eines der prominentesten Beispiele hierfür ist der Sender
Einen engeren thematischen Zuschnitt hat das an der Harvard Universität angesiedelte Mapping Nonviolent and Violent Campaigns and Outcomes (NAVCO)-Projekt. Hier werden lediglich Proteste mit sogenannten maximalistischen Forderungen aufgenommen. Das sind Proteste, die sich nicht auf eine Kritik des Regierungshandelns beschränken, sondern einen Systemwechsel fordern, also beispielsweise die Demokratisierung autokratischer Staaten. Die Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth nutzt diese Daten, um die Wirkmacht von gewaltlosem Protest weltweit zu untersuchen.
Unmittelbare Politik- oder Systemwechsel sind jedoch nicht das einzige Resultat, das Proteste nach sich ziehen können. Gerade in Staaten mit starken obrigkeitsstaatlichen bis autoritären Traditionen können Proteste mittel- und langfristig jenseits der unmittelbaren Ergebnisse dazu beitragen, überhaupt eine Protest- und Streitkultur zu etablieren.
Wo Protest ist, ist Repression nicht weit
Das dürfte einer der Gründe dafür sein, dass die Meinungs- und Versammlungsfreiheit vielerorts nach wie vor massiv eingeschränkt wird, auch wenn die Herrschenden aufgrund der gegebenen Machtverhältnisse keine unmittelbaren Schäden für ihre Position zu fürchten haben. Einen Überblick dazu gibt die Protest Map von Amnesty International. Diese listet diverse Einschränkungen zivilgesellschaftlicher Proteste weltweit auf. Hierzu zählen die Aktivist*innen von Amnesty den Einsatz von Polizeigewalt, Folter und willkürliche Inhaftierungen ebenso wie eine Rahmung von Protest als Gefahr für die öffentliche Ordnung. Insgesamt, so die Menschenrechtsorganisation, sei eine Zunahme repressiver Maßnahmen gegenüber Protestierenden zu verzeichnen. Mit Blick auf Deutschland kritisiert Amnesty vor allem die ihres Erachtens zu einschränkenden Versammlungsgesetze einiger Länder, beispielsweise diejenigen Bayerns und Nordrhein-Westfalens. Darüber hinaus wird das Vorgehen des staatlichen Sicherheitsapparats im Rahmen einzelner Demonstrationen moniert, etwa im Zuge der Klimaproteste in Lützerath.
Die Daten dürften weder dem Carnegie Endowment noch Amnesty in näherer Zukunft ausgehen. In Deutschland gehen seit Wochen Zehntausende gegen Rechtsextremismus auf die Straßen und die Demonstrationen in Folge des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben nicht nur hierzulande neue Diskussionen darüber entfacht, was im Rahmen von Protesten als legitime Meinungsäußerung gelten kann – und was das Fundament der freiheitlich-demokratischen Grundordnung trotz der Wünschbarkeit öffentlicher Beteiligung mittelfristig zu gefährden droht.