Weltweit befinden sich Gesellschaften aktuell in einem Selbstverständigungsprozess über die Ursachen von gegenwärtigen Angriffen auf die Demokratie – und stellen sich die Frage, wie ihnen begegnet werden kann und soll.
In den kommenden sechs Monaten fragen wir uns deshalb, wie viel Radikalität Demokratien brauchen – und wann Radikalisierung demokratische Strukturen bedroht. Wir wollen wissen, wie viel Ungehorsam liberale Rechtsstaaten aushalten müssen und wann aus Protest eine systemische Gefahr wird. Und wir schauen uns an, wie sich Parlamente wandeln, wenn radikale Kräfte Einzug halten, auf welche Weise ihnen begegnet werden kann und sollte. Sind etwa die aktuellen Debatten um den Entzug politischer Rechte einzelner extremer Politiker*innen zielführend? Braucht es gar Parteiverbote? Oder laufen derartige Maßnahmen Gefahr, Demokratien mittelfristig mehr zu schaden als zu nützen?
Gleichzeitig werden wir Radikalisierungsprozesse genauer unter die Lupe nehmen, sowohl aus sozio-ökonomischer, ideologischer und individualpsychologischer Perspektive. Wir schauen uns also verschiedene Erklärungsansätze an, wie und warum Menschen radikal werden. Außerdem fragen wir nach Möglichkeiten der Deradikalisierung – und wie diese in der Praxis aussehen können. Unterstützt und begleitet wird unser Vorhaben von zahlreichen Partner*innen aus der Wissenschaft.
Wir werden in unserem neuen Kanal ganz verschiedene Formen der Radikalität untersuchen: Klimakleber*innen, Gelbwesten und Reichsbürger*innen, Rassist*innen und Islamist*innen, Bäuer*innen, Incels und radikale Künstler*innen. Stets bleibt dabei die Frage im Raum, was „Radikalität“ eigentlich bedeutet – und ob sich diese grundlegend verschiedenen Phänomene überhaupt gemeinsam diskutieren lassen.
Darüber gehen die Meinungen auch in Politik, Medien und Wissenschaft auseinander. Zahlreiche Stimmen warnen derzeit vor einer drohenden „Spaltung“ der Gesellschaft. Ihre Diagnose: Die gesellschaftliche Konsens über grundlegende Fragen des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens zerfalle immer mehr. Als Beispiele gelten die aufgeladenen Debatten über Geschlechtsidentität, Migration oder Klimaschutz. Gleichzeitig vertrauten immer weniger Menschen darauf, dass parlamentarische und rechtsstaatliche Verfahren Konflikte lösen können – und versuchten stattdessen, den politischen Prozess durch radikale Protestaktionen zu beeinflussen. Als zentrale Akteure werden rechtspopulistische Bewegungen ebenso ausgemacht wie Aktivist*innen, die koloniale Monumente stürzen, im Namen des Klimaschutzes Straßen blockieren oder im Mittelmeer private Seenotrettung betreiben.
Ohne Widerspruch bleiben derartige Bestandsaufnahmen nicht. Kritisiert wird beispielsweise, dass einzelne Radikalisierungsdiagnosen zu undifferenziert seien. Der radikale Einsatz für den Klimaschutz oder das Retten von Menschenleben im Mittelmeer lasse sich strukturell nicht mit rechtspopulistischer Agitation gleichsetzen. Andere Stimmen stellen die These von einer generellen „Spaltung“ der Gesellschaft infrage und argumentieren, dass es sich hierbei vor allem um medial vermittelte und/oder politisch konstruierte Phänomene handle. Bestimmte Strömungen der Demokratietheorie gehen noch weiter. Sie plädieren für mehr Radikalität und sind der Ansicht, dass ziviler Ungehorsam und radikaler Protest für Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität mitnichten anti-demokratisch, sondern im Gegenteil, sogar essentieller Bestandteil einer demokratischen politischen Kultur seien. Ohne radikale Forderungen nach Gerechtigkeit, so diese Autor*innen, komme die Demokratie nicht nur zum Stillstand, sie hätte auch niemals das Licht der Welt erblickt.
Wir freuen uns darauf, mit euch zusammen in den nächsten sechs Monaten durch unterschiedliche Disziplinen zu streifen, theoretische Grundlagen ebenso zu diskutieren wie aktuelle Entwicklungen. Vor allem freuen wir uns aber auf eure Kommentare, Beiträge und Denkanstöße – ganz gleich ob normal oder radikal.