Bereits im Jahr 2004 sprach Mudde von einem „populistischen Zeitgeist“ in Europa. Als es in den folgenden Jahren tatsächlich zu einem rasanten Aufstieg links- und rechtspopulistischer Parteien kam, ging seine Theorie um die Welt. Heute gehört Mudde zu den meistzitierten Autoren in der Populismusforschung. Kaum ein Text kommt ohne seine berühmte Minimaldefinition von Populismus als sogenannte „dünne Ideologie“ aus. Den Kern der populistischen Ideologie bildet demnach die Vorstellung einer Spaltung der Gesellschaft in zwei homogene Lager, die sich als Feinde gegenüberstehen: das moralisch reine, wahre Volk auf der einen Seite, die korrupte Elite auf der anderen Seite.
„Dünn“ ist diese Ideologie deshalb, weil sie – anders als andere politische Ideologien wie etwa der Konservatismus oder der Sozialismus – nach Mudde keine normative Vorstellung darüber besitzt, wie die Gesellschaft gestaltet sein sollte. Stattdessen verbindet sich für Mudde die dünne Ideologie des Populismus mit verschiedenen „Wirts-Ideologien“. Bei rechtspopulistischen Parteien wie der AfD ist das etwa der
Mudde versieht seine Theorie an dieser Stelle mit einer Einschränkung, die in der Diskussion um sein Modell häufig zu kurz kommt: In der Regel stelle die populistische, dünne Ideologie lediglich den kleineren Anteil des politischen Programms dar. Das heißt: Parteien wie die ungarische Fidesz oder die AfD sind in der Lesart Muddes in erster Linie nativistische und erst in zweiter Linie populistische Parteien. Dies kann als Hinweis gelesen werden, sie nicht als bloße „Protestparteien“ zu verstehen – und Gründe für ihren Wahlerfolg nicht nur in ihrer populistischen Strategie zu suchen, sondern ihren tatsächlichen ideologischen Programmatiken. Parteien wie die italienische Fünf-Sterne-Bewegung, bei denen tatsächlich Populismus und nicht spezifische ideologische Projekte im Vordergrund stehen, bilden nach Mudde eine Ausnahme.
Illiberale Demokratie gegen undemokratischen Liberalismus
Als Forscher konzentriert Mudde sich jedoch darauf, Populismus als politisches Phänomen zu erklären – die „dünne Ideologie“ und nicht bestimmte politische Projekte, die sich mit ihr verbinden. Er führt den Aufstieg des europäischen Populismus in den vergangenen 20 Jahren dabei auf strukturelle Gründe in der politischen Landschaft zurück. Seiner zweiten berühmten These nach stellt Populismus eine „illiberale demokratische Antwort auf einen undemokratischen Liberalismus“ dar.
Demokratie in Reinform, argumentiert Mudde, bedeutet zunächst lediglich Volkssouveränität und Mehrheitsherrschaft – es wird die Politik umgesetzt, die die Mehrheit der Bevölkerung gewählt hat. Eine liberale Demokratie allerdings ist mehr als Herrschaft der Mehrheit. Ergänzend kommen die Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Minderheitenrechten hinzu. Der Herrschaft der Mehrheit werden also zugunsten von universellen Grundrechten Grenzen gesetzt – und diese Grundrechte kann die Mehrheit nicht einfach einschränken oder abschaffen.
In der Demokratieauffassung des Populismus gelten diese Einschränkungen jedoch nicht. Denn, so Mudde: „Wenn man glaubt, dass das Volk homogen ist und dass die einzige andere Gruppe die Elite ist, die korrupt ist, dann gibt es keine legitimen Minderheitenrechte, weil es keine legitime Minderheit gibt. Und wenn die Politik ‚der allgemeine Wille des Volkes‘ sein soll, dann kann nichts darüber stehen, nicht einmal ein Oberster Gerichtshof.“ Derartige Argumentations- und Handlungsmuster lassen sich heute etwa bei der AfD erkennen.
Umgekehrt ist nach Mudde undemokratischer Liberalismus, wenn zwar die Grundpfeiler einer liberalen Gesellschaft bestehen bleiben, beispielsweise Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit sowie Menschen- und Minderheitenrechte, die demokratische Willensbildung allerdings ausgehöhlt wird. Mudde bespricht hier Entwicklungen, die oftmals unter Begriffen wie „Technokratie“ oder „Post-Demokratie“ verhandelt werden. Er kritisiert, dass die europäischen Bevölkerungen in den vergangenen Jahrzehnten bei einer Reihe von wegweisenden politischen Entscheidungen nicht genug eingebunden worden seien.
Beispiele sind etwa der Prozess der Europäischen Einigung oder Migration. Mudde führt an, dass diese Entscheidungen zwar von demokratisch gewählten Volksvertreter*innen getroffen wurden, jedoch ohne dass eine öffentliche Debatte darüber stattgefunden hätte. Stattdessen hätten Politiker*innen darauf verwiesen, dass diese Entscheidungen alternativlos seien oder angesichts bestimmter Sachzwänge die einzig vernünftige Entscheidung darstellen. So bleiben zwar die Grundpfeiler der liberalen Gesellschaft erhalten – doch die Demokratie leidet unter einer Entpolitisierung der Öffentlichkeit.
Dies ist für Mudde besonders fatal vor dem Hintergrund einer parallelen Entwicklung, die er als Veränderung in der Beziehung zwischen politischen Entscheidungsträgern und der Bevölkerung charakterisiert. Auslöser dafür ist für ihn der schwindende Einfluss von sozialen Institutionen wie der Kirche, Massenmedien oder Gewerkschaften. Anton Jäger und Arthur Borriello sehen im Niedergang derartiger Einrichtungen vor allem die Auflösung des sozialen Zusammenhalts und eine Krise von Identität und Repräsentation. Mudde ist in der Bewertung kritischer. Für ihn ist das gesellschaftliche Klima der Nachkriegszeit vor allem durch Paternalismus geprägt – eine Politik der Bevormundung –, in dem Eliten den Massen bestimmte Lebensentwürfe nahelegten und politische Entscheidungen vorwegnahmen.
Ab den 1960ern seien die Massen in Westeuropa dann nicht nur wohlhabender, sondern auch selbstbestimmter geworden. Doch gerade in dem Moment, in dem sich weite Teile der europäischen Bevölkerung politisiert hätten, habe gleichzeitig eine neue Professionalisierung und Segregation des politischen Betriebs stattgefunden: Nicht nur Verwaltungen, sondern auch Parteien rekrutierten ihr Personal aus einem zunehmend kleineren, akademischen Bevölkerungskreis.
Kurz gesagt: Laut Mudde haben in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr Menschen politisch mitbestimmen wollen, während sie es gleichzeitig immer weniger konnten.
Populismus ist für Mudde dahingehend nicht die Ursache der gegenwärtigen Krise der liberalen Demokratie, sondern ihr Symptom. Die entscheidende Frage ist für ihn daher nicht, wie der Populismus bekämpft, sondern wie die liberale Demokratie gestärkt werden kann. Dies kann für Mudde nur durch eine „Repolitisierung der Politik“ gelingen. Gefragt sind für Mudde hier vor allem die anderen Parteien. Demokratische Kräfte stehen für ihn in der Pflicht, ihr „ideologisches Vakuum“ zu füllen, erneut eigene ideologische Projekte zu formulieren und mit Argumenten zu verteidigen. Statt einhelligen Verweisen auf vermeintlich alternativlose Entscheidungen gilt es ein pluralistisches Angebot zu schaffen, mit grünen, sozialdemokratischen, konservativen oder liberalen Positionen – damit Menschen wieder eine echte Wahl haben.