Der Schweizer Germanist Kaspar H. Spinner gehört zu den wichtigsten Impulsgebern für die Deutschdidaktik. Seine Aufsätze zum Umgang mit literarischen Texten haben Generationen von Lehrkräften geprägt, da sie literaturwissenschaftliches Wissen mit einer schüler:innenorientierten Methodik verbinden, um Bildung im Sinne von Selbstentfaltung und Mündigkeit zu fördern. Den hier vorliegenden Beitrag hielt er als Rede anlässlich der Entgegennahme des Erhard-Friedrich-Preises für Deutschdidaktik im Jahr 2004. In seinem Aufsatz setzt sich Spinner kritisch mit der durch Wirtschaftsorganisationen wie der
Im Zuge einer Standardisierung von Lerninhalten und der auf Strategietrainings reduzierten Unterrichtsmethoden würden letztlich die Schüler:innen selbst vereinheitlicht und standardisiert, um einen sogenannten Outcome und maximale wirtschaftliche Verwertbarkeit zu erzeugen: „Für das Verhalten von Schülerinnen und Schülern kann sich der beschriebene Mechanismus dahingehend auswirken, dass nur noch das bei der Beschäftigung mit einem Text interessiert, was sich als Kompetenzbeschreibung in den Standards wiederfindet. Deshalb kann man sagen, dass auch der Schüler standardisiert wird. Und bei Lehrkräften droht entsprechend die Gefahr, dass sie einen Text in seiner Widerständigkeit und ambigen Mehrdeutigkeit [...] nur noch durch die Brille der Kompetenzen, die an ihm erworben werden können, wahrnehmen und dass sie umgekehrt die Kompetenzen auf das in einer Aufgabenstellung Nachweisbare zurechtstutzen (S. 7).
Eine solche Bildungsauffassung intendiere einen Schüler, der folgendem Menschenbild entspricht: „Es ist der planende, seine Verhaltensweise kontrollierende, metakognitiv sich steuernde, sich seiner Zielsetzungen bewusste und über einsetzbare Strategien verfügende Mensch.” (S. 10). Statt ein flexibel funktionierender Baustein in einer (heute: durch digitale Medien) vorstrukturierten Welt zu werden, sollten Schüler:innen sich aber durch Situationen des Staunens, des selbstvergessenen Lesens und des intuitiven, kreativen Schreibens als mündige Bürger:innen ein eigenes Bild von Welt und Selbst erschließen können.
Der Beitrag von Kaspar H. Spinner gehört zur Diskussion um die Digitalisierung von Bildung, weil jener bereits 2004 antizipierte, dass die immer weiter ausufernde Standardisierung von Lernleistungen im Unterricht fatale Folgen für die Bildung von Individuen hat, nämlich: die Reduktion von Komplexität, das Umkippen von Subjektivität in (vermeintliche) Objektivität und die Verkehrung von selbständigem Lernen in angeleitetes Training (S. 13).