Aktuelle Bildungsreformen zielen maßgeblich auf die Beschleunigung des Digitalpakts ab: Man müsse mehr digitale Unterrichtsmittel wie Smartboards einsetzen, dann würden Schüler motivierter und effizienter lernen. Auch könnten Unterrichtsstunden mittels Videostreams oder digitalen Lernspielen moderner und schüleraktivierender gestaltet werden. Und von den Schülern genutzte Lernprogramme würden es ermöglichen, innerhalb von Sekunden individuelles Feedback, Fehlerkorrektur und Lernstandsanalysen zu erhalten, die ein einzelner Lehrer für eine ganze Klasse kaum in einer ganzen Arbeitswoche erstellen kann.
Michael Felten, der mehr als 30 Jahre Unterrichtserfahrung als Gymnasiallehrer mitbringt, hält diesen Fokus auf Digitalisierung in der Schulbildung für falsch, wie er in seiner pädagogischen Analyse „Unterrichten ist Beziehungssache” schreibt (erschienen in der Reclam-Reihe Bildung und Unterricht, in der methodische und inhaltliche Fragen der Schulbildung verhandelt werden).
Der Autor vertritt die Ansicht, dass sich Lernerfolg nur einstellen könne, wenn eine empathische und motivierende Lehrkraft den Lernprozess initiiere und begleite. Seine These begründet er wie folgt: „Lernen ist eben ein Vorgang, bei dem Menschen Sicherheit und Herausforderung benötigen. Beides liefert ein leibhaftiger Lehrer aber in weitaus stärkerem Maße als jedes unpersönliche Medium [...]: Als fachlich Begeisterter macht er das Thema für den Schüler erst richtig interessant, als Diagnostiker ermutigt er zu Ausdauer und Problemlösung, als Kapitän inszeniert er die Klasse als Sicherheit und Anregung bietende Basis.“
Er kritisiert dementsprechend aktuelle Bestrebungen scharf, die sich auf „entpersonalisierte Selbstlernformen, distanzierte Lernmoderatorbilder und die Omnipräsenz scheinbar bereits allwissender Medien“ fokussieren. Um seine Sichtweise zu legitimieren, skizziert Felten zunächst die Rolle der pädagogischen Beziehung in der Ideengeschichte und belegt anhand von Theorien aus verschiedenen Disziplinen – von der Tiefenpsychologie bis zu den Neurowissenschaften – , dass die Lehrerrolle und eine gute Schüler-Lehrer-Beziehung im Zentrum der pädagogischen Arbeit stehen müsse.
Felten spricht sich nicht gänzlich gegen den Einsatz von IT-gestützten Unterrichtsmitteln aus. Er negiert auch nicht die Wichtigkeit einer guten Unterrichtsmethode oder des Lernarrangements, wie er im Prolog betont. Das Potenzial der Digitalisierung für den Unterricht sieht der Bildungsexperte jedoch vor allen Dingen dort, wo sie helfen können, die Beziehungsebene im Klassenraum zu verbessern – etwa durch die zielgenaue und ressourcenschonende Durchführung einer kollegialen Hospitation. Diese könnte Lehrkräften wichtige Erkenntnisse über elementare Stellschrauben ihrer pädagogischen Arbeit eröffnen. Denn es sei personell kaum zu leisten, so viel Unterricht mit kollegialen Hospitationen abzudecken, dass just in den problematischen Momenten auch ein Beobachter mit fachlicher Expertise zugegen ist. Kontinuierliche Videodokumentation des Unterrichts könne hier effizient unterstützen.
Insgesamt ist Feltens Blick auf den zunehmenden Einfluss der Digitalisierung auf die Bildung und Schüler überaus kritisch. Insbesondere in Hinblick auf die private PC- und Smartphone-Nutzung von Schülern ist er der Ansicht, dass sie ein schulischer Leistungskiller seien und konstatiert, „dass [gemäß seiner Erfahrung] Schulerfolg und die PC-Nutzungsquote im Kinderzimmer umgekehrt proportional zusammenhängen“ und dass sich „die verbreitete Unterhaltungsgewalt in den Jugendmedien [lernhemmend]“ auswirke.
Der Autor schließt dementsprechend seine didaktische Abhandlung mit der eindringlichen Mahnung, dass nicht die digitalen Unterrichtsmethoden, sondern das gute Schüler-Lehrer-Verhältnis gelungenen Unterricht ausmache.
Wenn auch die Potenziale der Digitalisierung für den Unterricht wenig ausgelotet werden, so erfährt der Leser bei Felten dafür, welche konkreten Kompetenzen es sind, die einen versierten Lehrer aus Fleisch und Blut jeder noch so technisch ausgereiften allwissenden VR-Lehrkraft oder einem Lernprogramm überlegen machen und mit welchen Unterrichts- und Reflexionsmethoden Lehrkräfte sich in dieser Hinsicht weiterentwickeln können und auch sollten.