Ein epochales Ereignis nach fünfzehn Jahren harter wissenschaftlicher Arbeit – so hatte sich eine erlesene Gruppe von Geologen den nächsten Weltkongress ihrer Disziplin Ende August im südkoreanischen Busan vorgestellt. Dort wollten sie vor Tausenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine neue Zeitrechnung offiziell vorstellen: das Anthropozän. Es sollte das aktuelle
Schon seit 2009 haben die 33 Mitglieder der sogenannten
Doch aus der geplanten Epochen-Verkündung wird bis auf Weiteres nichts. Denn die Empfehlung der AWG, die neue Erdepoche auszurufen, stößt bei den höheren Gremien der Geologie auf Granit. Die Führungsspitzen der Organisationen, die die Erdgeschichte in Kapitel und Unterkapitel einteilen, lehnen den Anthropozän-Vorschlag ab. In der Erdwissenschaft ist ein erbitterter Streit ausgebrochen. Was steckt dahinter?
Der Mensch als geologische Kraft
Angefangen mit Alexander von Humboldt versuchen Wissenschaftler schon seit Jahrhunderten, den Einfluss des Menschen auf die Erde zu erfassen. Ende des 19. Jahrhunderts tauchte erstmals die Idee auf, die menschlichen Umweltveränderungen könnten so gewaltig sein, dass sie einen Platz auf der langen Zeitskala der Geologie verdienen. Damals schrieb der Biologe Ernst Haeckel von einer anbrechenden „Menschenzeit“ und der italienische Geologe Antonio Stoppani von einer „anthropozooischen Ära“.
Crutzen saß noch der Schock in den Gliedern, dass die Menschheit mit den
Geologische Spuren unseres Lebens fand die Anthropocene Working Group rund um die Welt: Wir Menschen schaffen Städte aus Gestein, Metall und Glas, die sich über immer größere Teile der Landmasse erstrecken. Wir synthetisieren Mineralien sowie neuartige radioaktive Isotope und Elemente, die sich in Gesteinsschichten ablagern. Wir legen Hunderttausende Kilometer Straßen, Eisenbahnstrecken und Kabel an, die aus langlebigen Materialien bestehen, und bohren Zehntausende Kilometer Tunnel in Berge. Zu den Hinterlassenschaften unserer Zeit zählen auch riesige Mengen Fossilien – die Knochenrückstände von Hühnern, Rindern und Schweinen, deren Biomasse längst die der wildlebenden Landwirbeltiere um ein Vielfaches übersteigt, ebenso wie „Technofossilien“, also die Überreste von Milliarden Maschinen. Die Geologen errechneten, es sei bereits so viel Beton hergestellt worden, dass auf jeden Quadratmeter Erde ein Kilogramm kommt, und so viel langlebiges Plastik, um die Erde einmal in Folie einzuwickeln.
Dass der menschengemachte Klimawandel die nächste Eiszeit verhindern dürfte und Millionen von Arten zu verschwinden drohen, macht unser heutiges Handeln vollends zum Langzeitphänomen. Wer glaubt, die Menschheit kratze nur ein bisschen an der Oberfläche des Planeten, liegt demnach falsch: „Die Erde hat nicht nur durch den Klimawandel, sondern durch eine Vielzahl zusammenwirkender Faktoren einen völlig neuen Zustand erreicht, den es vorher noch nie gegeben hat und der sich von der ganzen bisherigen Erdgeschichte fundamental unterscheidet“, sagt der britische Geologe Jan Zalasiewicz, der die Untersuchungen initiiert hat. Er warnt: „Wir regieren im Moment so tief in die Zukunft hinein, wie das noch nie zuvor Menschen gemacht haben.“
Kritik an der Anthropozän-Idee
Die Anthropozän-Idee traf allerdings schon von Anfang an auf Widerstand. Die Kritik von Geologen richtete sich schon länger dagegen, nach wenigen Jahrzehnten der Veränderung eine neue Erdepoche auszurufen. Erdwissenschaftler haben bisher fast ausschließlich in die Vergangenheit geschaut und Schicht um Schicht freigelegt, was sich über Millionen Jahre auf der Erde getan hat. Sie beschäftigen sich zwar auch mit tagesaktuellen Ereignissen – von der Eignung einer Region zum Ölbohren über die Vorhersage einer Vulkanexplosion bis zur Erforschung von Tsunamis. Doch der Einfluss des Menschen hat bisher in der geologischen Zeitrechnung keine große Rolle gespielt. Nicht wenige Geologen denken, dass sich das menschliche Tun noch nicht zu einem so gewaltigen Signal summiert, dass es eine Epoche rechtfertigen würde.
Andere Kritik kam aus den Geisteswissenschaften – gegen die Verallgemeinerung, von einer Erdepoche „des Menschen“ zu sprechen. Schließlich besteht die Menschheit aus Milliarden Individuen, die in Tausenden von Kulturen, Sprachräumen und Traditionen leben. Kann „der Mensch“ als solcher überhaupt Akteur der Erdgeschichte sein? Auch die Verantwortung für den Klimawandel ist extrem ungleich verteilt. Ein Großteil früherer CO2-Emissionen kam aus Europa und Nordamerika. Noch heute sind die Unterschiede riesig, wenn ein durchschnittlicher Amerikaner oder Europäer das Vielfache der Emissionen eines durchschnittlichen Inders oder Äthiopiers verursacht. Millionen Menschen in indigenen Völkern leiden unter den brutalen Folgen des westlichen Konsums, wie im Amazonas oder auf Borneo, wo vor ihren Augen der Regenwald als Lebensgrundlage verschwindet.
Alle diese Menschen sind auch „anthropos“, aber sie sind nicht für die großen globalen Probleme verantwortlich. Das Wort „Anthropozän“, wenden Kritiker ein, schiebt allen „anthropos“, allen Menschen, die gleiche Mitschuld an den heutigen Problemen in die Schuhe. So betrachtet, würde der Begriff den armen Slumbewohner in Indien, der ums Überleben kämpft, in eine Art globale Sippenhaft für das verschwenderische Verhalten vor allem von Amerikanern und Europäern und neuerdings Chinesen nehmen. Definiert man das Anthropozän nur als Summe aller Umweltfrevel, müsste man konsequenterweise vom „Westozän“ oder „Kapitalozän“ sprechen, für den amerikanisch-westlichen Lebensstil, der einen Großteil der Probleme verursacht, forderten Kritiker.
Eine weitere Form der Kritik am Anthropozän kommt vor allem von Umweltschützern. Bei vielen von ihnen grassiert die Angst, die Anthropozän-Idee könnte einer gefährlichen Technokratie Vorschub leisten und im Kern anthropozentrisch sein, also die Welt allein vom Menschen her betrachten und sie seinen Bedürfnissen unterordnen.
Der deutsche Biologe und Buchautor Andreas Weber schreibt: „Die anthropozäne Position teilt mit der Idee der grünen Wirtschaft die zugrunde liegende anthropozentrische Annahme – dass wir von einem einzigartig menschlichen Standpunkt aus beginnen können (oder sogar müssen), um mit den Problemen der Nachhaltigkeit fertig zu werden. (…) Im Denken des Anthropozäns hat sich die Kluft zwischen Natur und Kultur aufgelöst, nicht weil die Menschen zu einem anderen Verständnis des Lebens und ihrer Rolle darin gekommen sind, sondern weil ihre Technologie die Natur verschluckt hat.“
Die Soziologin Eileen Crist von der Virginia Tech sieht in der Anthropozän-Idee eine ungute Fixierung auf den Menschen: „…dieser Name ist weder ein nützlicher konzeptueller Schachzug noch ein empirischer Denkanstoß, sondern vielmehr eine Reflexion und Verstärkung der anthropozentrischen handlungsorientierten Weltsicht, die das ‚Anthropozän‘ – mit all seinen drohenden Notlagen – überhaupt erst hervorgebracht hat.“
Paul Crutzen ist an dem Vorwurf, das Anthropozän sei möglicherweise eine technokratische und anthropozentrische Idee, nicht ganz unschuldig. In seinem Nature-Artikel Geology of Mankind von 2002 hat er formuliert: „Den Wissenschaftlern und Ingenieuren steht eine gewaltige Aufgabe bevor, um die Gesellschaft in der Ära des Anthropozäns zu einem ökologisch nachhaltigen Management zu führen. Dies wird ein angemessenes menschliches Verhalten auf allen Ebenen erfordern und kann durchaus international akzeptierte, groß angelegte
Ist die Anthropozän-Idee also vielleicht wirklich ein Vehikel für eine undemokratische Gelehrtenherrschaft oder sogar für eine weitere Erscheinungsform menschlichen Größenwahns? Würde eine „Menschenzeit“, unterrichtet in allen Schulen der Welt, nicht das Gefühl verstärken, dass die Erde unser Eigentum ist und wir damit tun und lassen können, was uns gerade einfällt?
Später ging Crutzen zu seinen Geoengineering-Äußerungen auf Distanz. Er wolle nur sichergestellt wissen, dass es für den absoluten Katastrophenfall Techniken gäbe, die Erde schnell abzukühlen, beteuerte er. Entscheidend seien eine Reduktion der CO2-Emissionen und ein maßvoller Lebensstil.
Chancen des Anthropozäns
Alle Kritikpunkte adressieren wichtige Fragen – aber es entsteht ein anderes Bild, wenn man die neue Erdepoche nicht nur als Summe aller Umweltprobleme definiert und als Fortsetzung alter Zeitbegriffe, sondern als ergebnisoffene Einladung, all dies zu hinterfragen, ja als kollektives Gestaltungsprojekt. Dann ergibt sich eine neue Perspektive. „Das Anthropozän ist ein Prozess, der über sich selbst reflektiert“, sagte der Historiker Jürgen Renn vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte.
Das Anthropozän könnte demnach eine Art Forum bilden, in dem alle Kulturen gleiche Geltung haben und alle Menschen gleich im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 behandelt werden. Indem die Anthropozän-Idee „den Menschen“ zum Akteur ernennt, würden auch indigene Völker als moderne und gleichberechtigte Akteure definiert, die an der Geologie der Zukunft mitwirken sollten, statt Opfer anthropozäner Veränderungen zu werden.
Indigene Völker würden nicht mehr fälschlicherweise als Anhänger einer angeblich vormodernen, primitiven Lebensweise dastehen, sondern als gleichberechtigte Zeitgenossen. Das könnte sie darin bestärken, dagegen vorzugehen, dass derzeit ein Teil der Menschheit zum Beispiel Klima und Biodiversität für den eigenen Kurzfristnutzen verändert, ohne langfristige und globale Rücksichtnahme auf einen anderen Teil der Menschheit. Das Anthropozän wäre in diesem Sinn mehr als eine rein physische Zustandsbeschreibung, sondern ein ethischer Anspruch und ein Wegweiser, der Beginn eines tiefgreifenden Umdenkens.
Nicht ohne Grund traf Crutzens Vorschlag einen Nerv. Führende Politiker, UN-Organisationen und Wissenschaftler aller Disziplinen begannen, das Wort wie selbstverständlich zu benutzen. Zahlreiche Kulturveranstaltungen, Bücher und Ausstellungen widmeten sich dem Anthropozän, weil es einen neuen Denkrahmen für die Beziehung von Mensch und Natur bietet.
Bisher wird zwischen zwei Formen von „Geschichte“ unterschieden: Da ist die Geschichte der Herrscher, Kriege und Völkerwanderungen. Und dann gibt es die Geschichte aus dem Biologieunterricht, die Erdgeschichte, in der es um die Evolution von Tieren und Pflanzen, um Klimaveränderungen und Gebirgsbildung geht. Die Anthropozän-Idee besagt nun: Menschheitsgeschichte und Erdgeschichte sind eins geworden. Demnach bestimmen wir Menschen von heute die Lebensbedingungen auf der Erde für extrem lange Zeiträume – sind also selbst zur Naturgewalt geworden. Der deutsche Geologe Reinhold Leinfelder, Mitglied der AWG, spricht statt von der „Umwelt“ von einer „Unswelt“ des Anthropozäns. Hier läge eine große Chance des Begriffs.
Das Urteil der geologischen Führungsgremien
Doch zumindest die Geologie hat sich vorerst aus der Debatte verabschiedet. Die Mitglieder der AWG betonten stets, dass sie streng nach geologischen Kriterien vorgehen. Ihnen zufolge ist eine neue Erdepoche davon gekennzeichnet, dass es weltweit zu tiefgreifenden Veränderungen kommt, die für extrem lange Zeiträume messbar sind. Der britische Geologe Colin Waters, seit 2020 Vorsitzender der AWG, zeigt sich überzeugt, dass dies zutrifft: „Es gibt einen eindeutigen, abrupten und weltweit anerkannten Übergang von der bisherigen Erdepoche, dem Holozän, zu etwas Neuem“, sagt er. Es gebe „in Summe ein ausreichendes Level an Veränderungen, um eine neue Erdepoche zu definieren“.
2023 wählte die AWG aus zwölf Kandidaten rund um die Welt den Crawford Lake in Kanada zum Referenzort aus. Weitere Kandidaten waren etwa der Meeresboden der Ostsee, Korallenriffe mit
Doch dann kam alles ganz anders, als es die Forscher der AWG erwartet hatten. Obwohl die Führungsgremien der Geologie sie über viele Jahre ermuntert hatten, die Belege für das Anthropozän zu sammeln, blockierten sie den finalen Vorschlag kurz vor der geplanten Verkündung beim Weltkongress der Geologie im südkoreanischen Busan. Ende März erklärte die International Union of Geosciences (IUGS), das Anthropozän werde „nicht als offizieller geologischer Begriff anerkannt.“
Anthropozän-Forscher Zalasiewicz hält das Nein für einen großen Fehler. Er wirft den Kritikern sogar Trickserei bei einer wichtigen Abstimmung vor. Die Geologie dürfe nicht die Augen davor verschließen, „dass wir die Erde für immer verändern“, fordert er. Die vom Menschen verursachten Umweltveränderungen seien „unabhängig von einer formalen Anerkennung sehr real – und brauchen unser aller Aufmerksamkeit.“
Immerhin zollte auch die IUGS dem Vorschlag Crutzens Respekt. Das Spitzengremium der Geologie erwartet, dass der Begriff Anthropozän „auch in Zukunft nicht nur von Erd- und Umweltwissenschaftlern, sondern auch von Sozialwissenschaftlern, Politikern und Wirtschaftswissenschaftlern sowie von der breiten Öffentlichkeit verwendet wird“, heißt es in der Stellungnahme. Als solcher werde er eine „wertvolle Beschreibung für die Interaktion zwischen Mensch und Umwelt bleiben“.