Warum wir uns mit Science-Fiction aus dem Globalen Süden beschäftigen sollten
Science-Fiction-Filme sind Teil eines breit geführten öffentlichen Diskurses um die technologische Gegenwart und Zukunft. Als Massenmedien, die potenziell ein großes Publikum erreichen, prägen Filme in erheblichem Maße unsere Vorstellungen von der Realität. Zugleich können Fiktionen, in den Worten des hispanoamerikanischen Regisseurs Alex Rivera, auch Motoren für künftige technologische Entwicklungen sein: „Fiktion ist keine Flucht vor der Realität, sie ist der erste Entwurf der Realität.“
Der Kanon der international vertriebenen Filme, die sich mit KI befassen, ist jedoch von mangelnder Diversität geprägt. Der überwältigende Großteil stammt aus den USA oder anderen westlichen Industrienationen. Die Länder des sogenannten
auf die Qualität des Diskurses um KI, der unvollständig und verzerrt bleibt, was zur Überbetonung bestimmter Aspekte und teils unbegründeter Ängste (z.B. einer Machtübernahme der KI
4 ) sowie zur Unterbelichtung von wahrhaftigen Herausforderungen (z.B. dem hohen Energieverbrauch digitaler Kommunikationstechnologien einschließlich intelligenter Systeme5 ) führen kann,auf die Entwicklung von Zukunftsvisionen, welche durch einseitig geführte Diskurse in ihrem Horizont begrenzt bleiben,
auf die Teilhabe- und Gestaltungsmöglichkeiten der Menschen aus dem Globalen Süden, deren Belange und Ideen nicht wahrgenommen werden.
Um zu einem umfassenderen Bild von KI zu gelangen, erscheint es zielführend, den Blick auf unterrepräsentierte Perspektiven zu richten. Dank der Arbeiten kritischer und
KI im lateinamerikanischen Film – Gesellschaft und Individuum zwischen Kontrolle, Ausbeutung und Widerstand
Mit dem Ziel, die bestehenden Forschungslücken zu verkleinern und zugleich die Sichtbarkeit von Filmschaffenden aus dem Globalen Süden zu erhöhen, habe ich eine Studie über die Darstellung von KI im lateinamerikanischen Film durchgeführt. Die Untersuchung basiert auf einem
Die qualitative Auswertung
Zu den prägenden Lebensrealitäten in Lateinamerika gehört die anhaltende Erfahrung von Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt durch autoritäre Regime
Nach Darstellung der lateinamerikanischen Filme werden intelligente Technologien einerseits eingesetzt, um die Bevölkerung von außen, etwa mittels datenbasierter Überwachungstechnologien, zu kontrollieren. Dies ist beispielsweise im experimentellen Kurzfilm La paradoja de Arrow der Fall, der den Einfluss allgegenwärtiger Vermessung und
Die von den Mächtigen ausgeübte Kontrolle dient je nach Kontext unterschiedlichen Zwecken:
der Manipulation von Erinnerung und politischer Handlungsfähigkeit (etwa im animierten Kurzfilm Control Z, in dem Hinterbliebene von Opfern der politischen Gewalt in Kolumbien gezwungen werden, ihre verschwundenen Angehörigen zu vergessen),
der vollständigen Kontrolle von Lebensstrukturen und zwischenmenschlichen Beziehungen (z.B. in De día y de noche, in dem die Einwohnenden von Mexiko City zu Tag- bzw. Nacht-Menschen programmiert werden, um der Überbevölkerung Herr zu werden),
der territorialen Grenz- und Einwanderungskontrolle (in Sleep Dealer, in dem mexikanische Fabrikarbeiter:innen ihre Arbeitskraft mittels Computerschnittstellen in die USA transferieren, während ihre Körper hinter der unüberwindbaren Grenzmauer verweilen – ganz gemäß dem Leitspruch der ausführenden Tech-Firma: „Dies ist der amerikanische Traum. […] Die ganze Arbeit – ohne die Arbeiter:innen“
21 ).
Ein häufiges Motiv innerhalb des Kontroll-Topos ist die Ausbeutung in Arbeitskontexten. Eindrücklich wird das Thema in Sleep Dealer behandelt, wo die kognitiven und motorischen Fähigkeiten der technisch erweiterten mexikanischen Arbeiter:innen gemeinsam mit deren Lebensenergie durch eine Computerschaltung in Roboter fließen, welche jenseits der US-Grenze klassische Hilfsarbeiten (etwa beim Bau oder der Obsternte) verrichten. Dabei handelt es sich um eine filmische Metapher für die realen Arbeitsbedingungen sogenannter click- oder ghost-worker
Die mit KI assoziierten Technologien werden in den lateinamerikanischen Filmen einhellig als Systeme präsentiert, die die Menschen hörig und zugleich abhängig machen. So dient auch der implantierte Computerchip in I am oder Obediencia nicht nur der Kontrolle der Arbeiter:innen, sondern auch deren Belohnung und Bindung an das System: „Die Vorstellung von der Funktionsweise [des Chips] war folgende: Es war etwas, das direkt in den Körper eingreift und Impulse und ein gewisses Wohlgefühl auf einer mentalen Ebene erzeugt [...]. In Wirklichkeit funktioniert dieses Gerät, dieser Interventionschip, nicht nur als Zugang zu etwas, sondern erzeugt auch ein gewisses Maß an Abhängigkeit“
In Analogie zur (Ab-)Lenkung durch Soziale Medien ist auch der Umstand zu deuten, dass die Ausgebeuteten in vielen Filmen den status quo nicht hinterfragen. Ricardo Sosa begründet so das unterwürfige Verhalten des ausgebeuteten Familienvaters in seinem Kurzfilm Obediencia: „Es ist, als ob die Figur tief im Inneren wüsste, dass sie im Unrecht ist. Aber [...] sie ist so sehr davon überzeugt, dass man innerhalb des Systems sein und gehorchen muss, dass die Vorstellung, außerhalb zu sein, unvorstellbar ist.“
Doch nicht alle Protagonist:innen der Filme teilen den angesprochenen Technologie- bzw. Systemgehorsam. In El paseo de Teresa beispielsweise setzt sich die kolumbianische Familie, die den US-amerikanischen KI-Prototypen testen soll, über die Intentionen der Herstellerfirma hinweg, indem sie das System namens Teresa zu einem Mitglied ihrer als typisch kolumbianisch gezeichneten Familie („zu einer weiteren Tochter“
Auch Memo, der Protagonist in Sleep Dealer, schlägt am Ende des Films gegen seine übermächtigen Unterdrücker zurück: Gemeinsam mit Freunden kapert er eine ferngesteuerte Drohne des US-Militärs, indem er sich über seine Computerschnittstellen mit dieser verbindet, und übt Rache. Dieselbe Technologie, durch die er körperlich und mental ausgebeutet wurde, hilft ihm schließlich dabei, sich von Bevormundung und Knechtschaft zu befreien und sich ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen – jenseits des kapitalistischen und zutiefst hierarchischen Systems der Tech-Industrie, das in Sleep Dealer auf vielschichtige Weise angeprangert wird.
Was wir vom lateinamerikanischen Film über KI lernen können
Die lateinamerikanischen Science-Fiction-Filme zeichnen ein gänzlich anderes Bild von KI und damit assoziierbaren Technologien als die US-amerikanischen bzw. europäischen Vertreter des Genres. Sie lenken unseren Blick auf in westlichen Diskursen unterrepräsentierte Aspekte wie die Gefahr des Machtmissbrauchs und der Manipulation sowie die real existierende, institutionalisierte Praxis der Ausbeutung. Durch die Betonung dieser Aspekte machen sie darauf aufmerksam, dass Menschen im Globalen Süden einen hohen Preis für die technologischen Errungenschaften des Nordens zahlen – und verhältnismäßig wenig davon profitieren.
Zugleich zeigen die Filme – direkt oder indirekt – Wege auf, wie eine fairere technologische Zukunft für alle erreicht werden könnte: durch eine Begrenzung der Monopolstellung der
Ein paar der Filme verweisen außerdem auf die Möglichkeit alternativer Lebensentwürfe, von low tech
Transparenzhinweis: Die Autorin Anne Burkhardt ist mit der Universität Tübingen affiliiert.