Die russische Invasion der Ukraine hat über sieben Millionen Ukrainer:innen aus dem Land vertrieben und damit eine deutlich größere Fluchtbewegung nach Europa ausgelöst als 2015/16. In Politik und Gesellschaft wird diese Fluchtbewegung jedoch selten als „Migrationskrise“ bezeichnet. Insgesamt geht die Krise mit einer positiveren Stimmung in der Bevölkerung gegenüber Geflüchteten einher. Im öffentlichen Diskurs wird dies schnell mit einer kulturellen Nähe der Ukrainer*innen zu Europa erklärt, was den Vorwurf des Rassismus nach sich gezogen hat.
Alexandru Moise, James Dennison und Hanspeter Kriesi haben auf der Grundlage repräsentativer Daten untersucht, welche Faktoren zur ungleichen Bewertung von Geflüchtetengruppen führen. Konkret verglichen sie die Einstellungen von Menschen in Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien und Polen gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine, Somalia und Afghanistan. Dazu haben sie zu zwei Zeitpunkten – im März/April und im Juli 2022 – insgesamt 22.600 Interviews durchgeführt. Bei 12.676 Interviews handelt es sich um Doppelbefragungen von 6.338 Personen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten.
Tatsächlich untermauert die Studie den Eindruck ungleicher Standards. In allen europäischen Ländern und in beiden Befragungswellen zeige sich eine deutlich höhere Aufnahmebereitschaft gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine als gegenüber jenen aus Somalia und Afghanistan. Aus den Daten gehe hervor, dass die im Vergleich positiveren Einstellungen gegenüber Ukrainer:innen weniger durch allgemeine Positionen zur Migration und stärker durch die Wahrnehmung des Krieges beeinflusst sind.
Mit anderen Worten: Aus mittel- und westeuropäischer Perspektive erscheint der Krieg in der Ukraine nicht nur geographisch nah. Er definiert auch Opfer und Täter sehr klar, was der ukrainischen Zuwanderung offenbar eine höhere Legitimität verleiht. Im Vergleich dazu zeige sich, dass eine europäische Identität und persönliche Kontakte relativ unwichtig für die höhere Aufnahmebereitschaft sind. Lediglich Polen bilde eine Ausnahme: Hier sei der persönliche Kontakt ausschlaggebend für die Unterstützung ukrainischer Geflüchteter.
Trotz der insgesamt hohen Aufgeschlossenheit gegenüber ukrainischer Migration zeige sich in allen Ländern mit der Zeit ein Rückgang der Unterstützung, was mit der veränderten Wahrnehmung des Krieges zusammenhänge. Den Autoren zufolge ist es wahrscheinlich, dass zu Beginn der Schock über die Invasion stärker wog als die Berücksichtigung der möglichen Kosten der Geflüchtetenaufnahme sowie der steigenden Energiepreise infolge der Sanktionen.
Die Studienergebnisse zeigen, dass sich die Einstellungen gegenüber Fluchtmigration verändern können und keineswegs starr sind. Vielmehr hängt es von der weiteren Dynamik des Krieges ab, ob die hohe Aufnahmebereitschaft gegenüber Ukrainer:innen erhalten bleibt oder wie 2016 ein abruptes Ende der „Willkommenskultur“ einsetzt.
Gleichzeitig betont das Autorentrio, dass sich die große Aufnahmebereitschaft gegenüber ukrainischen Geflüchteten langfristig auch positiv auf andere Flüchtlingsgruppen auswirken könnte. So zeigten sich im Untersuchungszeitraum sogenannte „Spill-Over-Effekte“, also die Zunahme positiver Einstellungen gegenüber afghanischen und somalischen Flüchtlingen als Folge der Zunahme positiver Einstellungen gegenüber ukrainischen Flüchtlingen.
Auch wenn die Studie von Moise, Dennison und Kriesi keinen statistischen Nachweis für mögliche Mechanismen liefert, plausibilisiert sie doch, dass die Empathieerfahrung gegenüber Ukrainer:innen auch zu mehr Empathie gegenüber anderen Geflüchteten geführt haben könnte. Ihre Vermutung: Die positiver werdende Einstellung gegenüber Geflüchteten aus Afghanistan und Somalia könne mit einer „kognitiven Dissonanz“ der Befragten zu tun haben, also mit einer kritischen Selbstreflexion darüber, dass sie gegenüber Ukrainern eine höhere Aufnahmebereitschaft gezeigt hätten als gegenüber anderen Flüchtlingen.
Die Studie bietet somit eine plausible Erklärung dafür, warum trotz der im Vergleich zu 2015/16 siebenmal größeren Fluchtmigration nach Europa keine europäische „Flüchtlingskrise“ ausgerufen wurde. Bemerkenswert ist vor allem, dass am Beispiel der Ukraine gezeigt werden kann, dass Positionen zu Fluchtmigration dynamisch sind und nicht nur mit der Migration selbst zu tun haben, sondern in breitere politische Kontexte eingebettet sind, aus denen sich unterschiedliche Vorstellungen von Bedürftigkeit ergeben.