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Haltung zeigen in der politischen Bildungsarbeit

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Tim Engartner2020
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Haltung zeigen in der politischen Bildungsarbeit

»Politische Bildung als Verfassungsvoraussetzung«

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Geschrieben von Luisa Heinrichs Lukas Schlegel

Bei te.ma veröffentlicht 10.06.2024

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/eehe-t158

Geschrieben von Luisa Heinrichs Lukas Schlegel
Bei te.ma veröffentlicht 10.06.2024
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/eehe-t158

Schule spielt als die einzige obligatorische Bildungsinstanz eine enorm wichtige Rolle, wenn es darum geht, demokratische Inhalte und Werte an junge Menschen zu vermitteln. Doch es stellt sich mehr und mehr die Frage, ob beziehungsweise wie politische Bildung in der Schule dazu in der Lage ist, junge Generationen mit einem demokratischen „Gemeingeist“ hervorzubringen. Dieser Frage geht Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Tim Engartner nach und ermutigt Lehrkräfte zu mehr „Haltung statt Zurückhaltung“ für die Demokratie.

In den vergangenen Jahren ist die Situation für Lehrkräfte nicht einfacher geworden. Auf der einen Seite eilen radikale und populistische Kräfte von Erfolg zu Erfolg, was sich auch in einer teilweisen Verrohung der öffentlichen Debatte zeigt. Auf der anderen Seite steht das Postulat der staatlichen Neutralität im Schulkontext. Aus dieser Gemengelage ergeben sich eine Reihe von Fragen: Dürfen Lehrkräfte im Unterricht klar gegen rechtspopulistische Ansichten eintreten? Und wie viel politische Haltung ist im Unterricht erlaubt? Tim Engartner, Professor für Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln, entwickelt Antworten auf diese Fragen.

Demokratie kann sich selbst nicht garantieren

Seine Überlegungen setzen bei dem demokratietheoretischen Dilemma schlechthin an: Dem „Böckenförde-Dilemma“. Es besagt, dass die Demokratie überhaupt nicht dazu in der Lage ist, selbst zu garantieren, dass die Gesellschaft demokratisch bleibt. Prominent gemacht wurde dieses Dilemma bereits in den sechziger Jahren durch den Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde, der bemerkte, dass„[d]er freiheitliche, säkularisierte Staat [...] von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann.“1 Laut Böckenförde ist dies „das große Wagnis, das er [der Staat; L.S.], um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus […] zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben […].“2

In den Zusammenhang des aktuellen politischen Tagesgeschehens übersetzt hieße das, dass die Demokratie sich selbst möglicherweise nur schwer gegen undemokratische Radikalisierungstendenzen aus dem rechtsextremen Spektrum wehren kann. Beispielhaft wird das an den Debatten über ein Verbot der AfD deutlich.

Ohne Verständigung keine Demokratie

Vor diesem Hintergrund kommt der politischen Bildung in der Schule laut Engartner eine besondere Bedeutung zu. Mit dem Begriff der politischen Bildung bezeichnet er sowohl den Fachunterricht – etwa in den Bereichen Sozialkunde, Politik oder Wirtschaft – als auch die fächerübergreifende Gestaltung von Unterricht an sich und die Verankerung demokratischer Prinzipien in der Schulstruktur.3 Diese politische Bildung im weiteren Sinne komme vor allem deshalb als Mittel zur Stärkung des demokratischen Bewusstseins „von innen her“4 in Frage, weil Schule die „einzige obligatorische Bildungsinstanz“5 sei. Schule biete die Möglichkeit, politische Bildung stärker zu organisieren und weniger von Zufälligkeiten abhängig zu machen. Deshalb könne politische Bildung als Mittel eingesetzt werden, um junge Menschen zu befähigen, sich demokratisch zu verständigen und auf dieser Basis gemeinsam politisch zu handeln. Unter diesen Voraussetzungen könne die Gesellschaft in die Lage versetzt werden, aus sich selbst heraus einen „Gemeingeist“6 zu erzeugen, der regulierend gegen Radikalisierungstendenzen in der Gesellschaft wirken kann.

Laut Engartner steht dem auch das staatliche Neutralitätsgebot, das eine staatlich-institutionelle Beeinflussung von Wählerinnen zugunsten oder zuungunsten einer Partei verbietet, nicht entgegen. Dies ergebe sich insbesondere aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts7, wonach das staatliche Neutralitätsgebot für den Bereich des politischen Wettbewerbssystems der Parteien untereinander gelte, nicht aber für den Bereich der politischen Bildung. Denn politische Bildung spiele sich nicht in dem vom Neutralitätsgebot erfassten institutionellen, auf den politischen Wettbewerb bezogenen Rahmen ab, sondern sei ein individuelles Geschehen. Auf ein solches individuelles Geschehen im Kontext von schulischer politischer Bildung erstrecke sich das staatliche Neutralitätsgebot aber gerade nicht.

Dies entspreche auch dem sogenannten Beutelsbacher Konsens, der die Rahmenbedingungen für politische Bildung an Schulen vorgibt. Das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses erfordere, so Engartner, eine kritische und kontroverse Befassung mit politischen Positionen. Darin komme der Gedanke zum Ausdruck, dass Politik stets einen Konflikt- und Diskurscharakter habe. Deshalb müsse den Schülerinnen und Schülern auch im schulischen Bildungskontext ein Bewusstsein vermittelt werden, dass Kontroverse, Meinungsverschiedenheit und Pluralität als Normalfall politischer Entscheidungsprozesse aufträten. 

Engartner wird sogar noch deutlicher: Die Rahmenbedingungen des Beutelsbacher Konsenses würden es auch zulassen, antidemokratische Haltungen als solche klar zu benennen und kritisch zu würdigen. Es bestehe keine Verpflichtung zur Toleranz gegenüber demokratiefeindlichen Positionen. Denn solche Positionen könnten sich weder hinter dem Neutralitätsgebot verstecken noch könnten sie selbst eine gleichberechtigte Rolle als kontroverse Meinung im öffentlichen Diskurs beanspruchen, wenn sie die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung selbst nicht respektierten. Ein Standpunkt, der beispielsweise abweichende Meinungen ausschließen und damit die öffentliche Debatte zu einem Thema abschaffen will, kann also nicht beanspruchen, selbst gleichberechtigter Teil dieser Debatte zu sein.

Trotzdem ist die Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Ansichten kein Selbstläufer, sondern erfordert eine aktive und gezielte Identifizierung von und sachliche Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Ansichten. Durch die damit eingenommene Haltung können Lehrkräfte mehr und mehr eine demokratische Praxis, ein praktisches Bewusstsein für politische Bildung und ein demokratisches Selbstverständnis im Sinne des Beutelsbacher Konsenses ausbilden.

Fußnoten
7

Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders.: Staat. Gesellschaft. Freiheit. Studien zu Staatstheorie und Verfassungsrecht. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1967, S. 60.

Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders.: Staat. Gesellschaft. Freiheit. Studien zu Staatstheorie und Verfassungsrecht. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1967, S. 60.

Das dürfte auch dem einflussreichen Ansatz der sogenannten kategorialen Bildung in der bildungstheoretischen Didaktik nach Wolfgang Klafki entsprechen, nach der sowohl die inhaltich-fachlichen (materialen) als auch die subjektbezogenen und persönlichkeitsbildenden (formalen) Aspekte der Bildung miteinander verbunden sein müssen, um eine effektive individuelle und allgemeine Bildung von Schülerinnen und Schülern zu bewirken. Vgl. Wolfgang Klafki: Zur Unterrichtsplanung im Sinne kritisch-konstruktiver Didaktik. In: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beltz, Weinheim u.a. 2007, S. 270 – 284.

Ernst-Wolfgang Böckenförde (Fn. 1), S. 60:

Tim Engartner, Der Staat 59 (2020), S. 4.

Tim Engartner, Der Staat 59 (2020), S. 4 mit Verweis auf Joachim Detjen, Die Werteordnung des Grundgesetzes, 2009, 274.

Vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27.03.2018, Az. 2 BvE 1/16.

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Nach dem Beutelsbacher Konsens dürfen Schülerinnen und Schüler nicht mit einer politischen Meinung überwältigt werden (Überwältigungsverbot), ihnen müssen kontroverse politische Inhalte auch im schulischen Kontext kontrovers dargestellt werden (Gebot der Kontroversität) und sie müssen im Unterricht die Möglichkeit haben, verschiedene politische Standpunkte sachlich zu analysieren und Wege zu erkennen, sich am politischen Diskurs zu beteiligen (Gebot der  Schülerorientierung).

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Ich bin nicht sicher, ob Engartner das Problem nicht lediglich verschiebt, statt es in seiner Komplexität zu adressieren. Unterm Strich setzt das emphatische Plädoyer für eine umfassende politische Bildung mitsamt der Betonung von Konflikt im rechtsstaatlich-pluralistischen Rahmen ja voraus, das klar ist, wer der Feind ist und wo er steht.

Genau das scheint aber nach wie vor unklar zu sein. Dass die AfD jenseits der freiheitlich-demokratischen Grundordnung anzusiedeln sei, ist, Stand jetzt, wahlweise eine Möglichkeit oder eine politische Meinung aber (noch) keine gerichtlich festgestellte Tatsache. Und dafür, dass eine solche Feindbestimmung nicht von politischen Mehrheiten unternommen wird, gibt es in gewaltenteilig organisierten Demokratien gute Gründe. Wenn es also heißt, dass bestimmte (, die freiheitliche Grundordnung nicht akzeptierende) Positionen keine “gleichberechtigte Rolle als kontroverse Meinung im öffentlichen Diskurs beanspruchen” können, dann bleibt die Frage offen, wer darüber verfügt, welchen Positionen dieses Etikett angeheftet wird.

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