SPECIAL INPUT: Tilman Santarius

„Wachstum und nachhaltige Entwicklung sind nicht miteinander vereinbar.“ Ein Gespräch mit Tilman Santarius

In den meisten Ländern der industrialisierten Welt, so auch in Deutschland, herrscht das Narrativ vor, Wachstum und nachhaltige Entwicklung ließen sich miteinander vereinbaren. Tilman Santarius, Professor für nachhaltige Digitalisierung, erklärt, warum dies ein Irrtum ist und warum KI-Anwendungen zwar das Potential haben, zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen, dies aber häufig nicht tun. 

KI und Nachhaltigkeit

Die Fragen stellten Matthias Karlbauer (Kurator) und Eva von Grafenstein (Redakteurin) aus dem Kanal „KI und Nachhaltigkeit“. 

Matthias Karlbauer: Wie sind Sie in Ihrer Arbeit zum Thema Digitalisierung und Nachhaltigkeit gekommen? 

Tilman Santarius: Da könnte ich in meine Kindheit zurückgehen. Meine Eltern waren beide naturbegeistert. Sie waren keine modernen Umweltschützer, sondern eher Naturliebhaber und haben mich auf einige Kundgebungen mitgenommen. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Demonstration in den 70er Jahren gegen eine Bundesstraße, die bei uns durchs Naturschutzgebiet gebaut werden sollte. Die Volksfeststimmung auf dieser Demo fand ich toll. Ich habe bis heute Bilder davon vor Augen. 

Nach der Schule wollte ich in die sogenannte Entwicklungszusammenarbeit gehen, habe aber schnell gemerkt: Der größte Beitrag für eine Entwicklung der Länder des globalen Südens besteht darin, bei uns zu Hause die Ressourcenansprüche zurückzubauen. Nur so können wir auf diesem begrenzten Planeten Raum für die Bedürfnisse der Milliarden Menschen lassen, die noch nicht in Wohlstand und Würde leben. So war für mich klar, dass die beste Entwicklungszusammenarbeit Nachhaltigkeitspolitik im globalen Norden ist. 

Der größte Beitrag für eine Entwicklung der Länder des globalen Südens besteht darin, bei uns zu Hause die Ressourcenansprüche zurückzubauen.

Meinen ersten Job nach der Uni habe ich beim Wuppertal Institut angefangen. Ich war damit im Bereich der angewandten Nachhaltigkeitsforschung, die ich bis heute als einen Beitrag zum politischen Agenda-Setting sehe. 

In den Jahren 2014 bis 2016 gab es in der öffentlichen Debatte einen Hype um das Thema Digitalisierung der Arbeitswelt. Mir ist damals aufgefallen, dass sich viele Länder Digitalstrategien zulegen, um wettbewerbsfähiger zu werden. Auch in der EU und in Deutschland war das der Fall. Ich habe dabei den Aspekt der Nachhaltigkeit vermisst und gedacht, dass wir den Megatrend der digitaleren Konsum- und Produktionsmuster dringend vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeitsziele diskutieren müssten. 

Eva von Grafenstein: Wie schätzen Sie die aktuellen Bemühungen der Bundesregierung ein, auf der einen Seite das Wirtschaftswachstum voranzutreiben und auf der anderen Seite die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen? Sind beide Bemühungen miteinander vereinbar? 

TS: Nein, das ist hochproblematisch. Leider haben wir in den meisten Ländern der industrialisierten Welt, so auch in Deutschland, immer noch das fatale Narrativ, Wachstum und Umwelt ließen sich miteinander vereinbaren. Das ist wissenschaftlich aber nicht belegt. Seit den 70er Jahren gibt es eine Diskussion über die Grenzen des Wachstums. Der Vorschlag der Befürworter*innen eines weiteren Wachstums lautet, dass man nur Technologie-Revolutionen ins Werk setzen müsse, um bei weiterem Wirtschaftswachstum gleichzeitig drastisch verringerte Ressourceninputs und Emissionen zu erzielen. Dieser Vorschlag einer absoluten Entkopplung von Wachstum und Naturverbrauch hat sich bis heute jedoch nicht realisiert. Wir haben im Grunde seit 40 Jahren ein Realexperiment, diese absolute Entkopplung zu erzielen. Es gibt kein Beispiel, wo das in hinreichendem Maße gelungen ist, zumindest nicht, was Indikatoren wie Energie, CO2-Emissionen und Materialverbräuche betrifft. 

Wir haben im Grunde seit 40 Jahren ein Realexperiment, diese absolute Entkopplung von Wachstum und Naturverbrauch zu erzielen. Es gibt kein Beispiel, wo das in hinreichendem Maße gelungen ist.

Ganz im Gegenteil, in den meisten Ländern gibt es nach wie vor eine Kopplung von Wachstum und steigenden Ressourcen- und Energieverbräuchen. In den wenigen Ländern, in denen eine Entkopplung gelungen ist, reicht sie nicht aus. Wie zum Beispiel in Deutschland, wo wir ein langsam steigendes Wachstum in den letzten 20, 30 Jahren hatten, aber eine stagnierende und teils abnehmende Materialintensität und reduzierte Emissionen. Für mich ist deswegen ganz klar: Es fehlt die wissenschaftliche Evidenz, dass Wachstum und nachhaltige Entwicklung miteinander vereinbar sind. Und ich denke, dass die Wirtschaft auf einem begrenzten Planeten nicht exponentiell wachsen kann. 

EG: Haben Sie den Eindruck, dass es in der deutschen Politik ein Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Wachstum und steigenden Ressourcen- und Energieverbräuchen gibt? 

TS: Ja, auf jeden Fall. In der Legislaturperiode 2013 bis 2017, also noch in der Merkel-Ära, gab es sogar eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zur Wachstumsfrage. Sie ist allerdings unentschieden ausgegangen, weil sich wachstumskritische und wachstumsbefürwortende Positionen nicht annähern konnten. Das hat eine klare Umorientierung der Politik von der Wachstumsfokussierung hin zu nachhaltigen Entwicklungszielen vereitelt. 

Solange die Politik vorrangig auf weiteres Wachstum schaut, werden die Ziele der nachhaltigen Entwicklung nicht erreicht. Es ist zum Beispiel nicht plausibel, wie das 1,5-Grad-Ziel erreicht werden soll, wenn die Wirtschaft in den industriellen Ländern weiter wächst. Die Politik müsste sich schlichtweg weniger um Wachstum kümmern und mehr um die sozialen und ökologischen Ziele und es dann als nachrangig betrachten, ob einzelne Wirtschaftssegmente noch wachsen und andere vielleicht schrumpfen. 

MK: Angenommen, die Politik würde den Fokus tatsächlich auf Nachhaltigkeit statt auf wirtschaftliches Wachstum legen. Würde sich dann Ihrer Meinung nach alles andere, wie z.B. die wirtschaftliche und soziale Stabilität, von alleine fügen? 

TS: Die Politik muss sich natürlich kümmern, und das passiert auch. Nehmen wir mal die EU: Im Rahmen des Green Deals gibt es eine starke Orientierung auf Nachhaltigkeitsziele. Dabei geht es auch immer um soziale Fragen (Motto „Leave no one behind“) und wirtschaftliche Fragen. 

MK: Richtet sich der Fokus in Deutschland zunehmend auf die Nachhaltigkeitsziele? 

TS: Ich beobachte in Deutschland einen anhaltenden Dissens. Er hat sich bereits in der letzten Regierung gezeigt und zieht sich bis hin zur heutigen Ampel-Koalition. Dort gibt es Fraktionen, Stimmen, auch Einzelvorhaben, die ganz klar Nachhaltigkeitsziele priorisieren. Sie müssen sich an der Herausforderung abarbeiten, dass diese manchmal mit Kosten für einzelne Wirtschaftssektoren einhergehen. Zugleich gibt es andere Fraktionen und Stimmen, die nach wie vor das alte Totschlagargument bemühen, dass irgendwo Jobs wegfallen könnten. Sie blenden aus, dass in den grünen Bereichen neue Jobs entstehen. Immerhin haben wir jetzt eine Regierung, in der es zumindest bei den Grünen eine klare Favorisierung von Nachhaltigkeitszielen gibt, auch wenn sie nicht so weit gehen, Degrowth oder Postwachstum anzustreben. So weit geht keine Partei und insofern ist da noch viel „Mindset-Arbeit“ zu tun. 

MK: Kann uns KI dabei unterstützen, nachhaltiger zu werden, oder sehen Sie in ihr eher einen Beschleuniger von Ressourcenverbräuchen?

TS: Beides. Wir haben vier Faktoren identifiziert, wie digitale Anwendungen zu einer absoluten Entkopplung von Wachstum und nachhaltiger Entwicklung beitragen könnten. Diese sind Effizienz, Substitution, Information und Innovation. Mithilfe von digitalen Tools kann die Effizienz gesteigert werden. Warenkonsum kann zum Beispiel durch ressourcenleichtere Dienstleistung substituiert werden. Des Weiteren können für Produzent*innen und Konsument*innen Informationen dazu bereitgestellt werden, wie sie sich nachhaltiger verhalten können. Und es können soziale Innovationen wie etwa kollaboratives Konsum-Sharing vorangebracht werden. 

Ein Beispiel für die Effizienzsteigerung durch KI sind sogenannte Smart Factories. Es gibt Pilotprojekte, die zeigen, dass mit der Maschinenkommunikation in diesen Fabriken eine bessere Vernetzung, auch ein Stück weit eine Substitution von Arbeitskraft, vor allen Dingen aber eine bessere Steuerung der Produktion mit deutlicher Ressourceneffizienzsteigerung einhergeht. Allerdings bergen die digitalen Effizienzsteigerungen häufig das Risiko, Rebound-Effekte hervorzurufen. Wir sehen nicht, dass Unternehmen mit Smart Factories diese Effizienzsteigerung in eine Drosselung der Produktion überführen, also zum Beispiel die Kostenersparnis für eine Anhebung von Qualität oder für den Einkauf von nachhaltigen Rohstoffen verwenden. Stattdessen stellen wir häufig eine Outputsteigerung fest. Die Effizienz-Fortschritte, die in Smart Factories erzielt werden, werden also häufig in eine bessere Wettbewerbsposition, mehr Output, also letztendlich in Wachstum übersetzt, anstatt in einer Verringerung des Inputs zu münden. 

Das Potential digitaler Werkzeuge zur Substitution wiederum führt häufig zu Add-on-Konsum, anstatt wirklich radikal zu ersetzen. Nehmen wir beispielsweise Verkehrsströme: Anstatt durch Videokonferenzen konsequent ersetzt zu werden, stellen wir fest, dass beides genutzt wird. Wir haben anhaltenden Verkehr plus Videokonferenzen. 

Ein dritter wichtiger Faktor für Nachhaltigkeit ist Information. So können KI-gestützte Tools bestens eingesetzt werden, um Nachhaltigkeitsinformationen nach vorne zu bringen. Ein Beispiel ist Ecosia, die grüne Suchmaschine, wo versucht wird, im Moment der Suche nach Produkten nachhaltigkeitsrelevante Informationen oder gar direkt nachhaltigere Produkte anzubieten. Gleichzeitig ist festzustellen, dass alle möglichen Plattformen Milliarden für KI-gestützte Werbung ausgeben. KI ist im Werbebusiness der absolute Renner für die Erkennung von Markttrends, für das bessere Matching von personalisierter Werbung und dergleichen mehr. Hier kann man wieder sehen: Ja, natürlich kann KI etwas leisten. Aber sehen wir uns den gesellschaftlichen Großtrend an, dann wird KI in erster Linie nicht für Nachhaltigkeitsinformationen eingesetzt. 

Viertens gehen mit der Digitalisierung soziale Innovationen einher, die allerdings wieder neue Bedürfnisse, neue Konsummuster generieren. Das ist der sogenannte Induktionseffekt.

EG: Was könnte die Politik tun, damit KI-Anwendungen zugunsten von mehr Nachhaltigkeit eingesetzt werden? 

TS: Ich möchte drei Maßnahmen ansprechen, mit denen politisch gesteuert werden könnte. 

Zum einen sollte die energetische Basis bzw. die Ressourcenintensität von KI-Anwendungen in den Blick genommen werden. Wir wissen inzwischen, dass sie viel Datenplatz in Rechenzentren belegen und ihr Training mit erheblichen Energieverbräuchen einhergeht. Hier sollten zum Beispiel Standards entwickelt werden, wie Unternehmen oder Programmierer*innen den Energieverbrauch über den gesamten Entwicklungszyklus von KI messen und verringern können.

Noch wichtiger aber ist die Machtfrage: Welche Motivation steht hinter einer Innovation? Hier gucken wir auf die Unternehmen selbst. Es ist wichtig, dass die Politik Purpose-Unternehmen unterstützt, also jene, die einen übergeordneten Beitrag zum Gemeinwohl leisten und nicht nur auf die eigene Profitoptimierung aus sind. Öffentliche Fördergelder sollten nur an solche KI-Projekte gehen, die Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen. 

Öffentliche Fördergelder sollten nur an solche KI-Projekte gehen, die Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen. 

Und schließlich sollte die Politik den Einsatz von KI in der Werbung regulieren, also dort ansetzen, wo es um Konsum- und Outputsteigerung geht. 

EG: In Ihrem Buch „Smarte grüne Welt?“, das Sie zusammen mit Steffen Lange verfasst haben, sprechen Sie sich für eine digital-ökologische Steuerreform aus.1 Warum?

TS: Hinter der digital-ökologischen Steuerreform steht die Grundidee, den Faktor Arbeit zu vergünstigen, so dass sich Arbeit wieder mehr lohnt, und stattdessen den Faktor Natur, also Energie, Materialien usw. zu verteuern. Dadurch würden technologische Innovationen und unternehmerische Kreativität verstärkt dahin gehen, Ressourcen, Emissionen, Energieverbräuche etc. zu ersetzen und mehr Leute anzustellen. 

Rechenzentren, Stromverbräuche, aber auch die globalen Datenströme werden in allen Szenarien in den nächsten Jahren radikal anwachsen. Sie entstehen vor allem durch den Videokonsum, z.B. durch Videos, die auf Social Media laufen oder die für Werbezwecke aufpoppen. Hier müsste geschaut werden, wie dieser Trend durch eine Globalsteuerung verteuert und somit unattraktiver gemacht werden könnte. Das würde meines Erachtens mit keiner Einschränkung der Lebensqualität einhergehen, sondern einfach nur die digitale Innovation in eine andere Richtung lenken. 

Diese Idee der digital-ökologischen Steuerreform ist in einer Zeit, in der digitale Tools, auch KI, mit dem Risiko einhergehen, Arbeitsplätze zu ersetzen, relevanter denn je. Ich finde interessant zu überlegen, wie ein Anreiz gesetzt werden könnte, diese Tools nicht in erster Linie für den Ersatz von Arbeitsplätzen einzusetzen, sondern von Ressourcen, Energieverbräuchen und Materialien. 

Ich finde interessant zu überlegen, wie ein Anreiz gesetzt werden könnte, digitale Tools nicht in erster Linie für den Ersatz von Arbeitsplätzen einzusetzen, sondern von Ressourcen, Energieverbräuchen und Materialien.

MK: Haben Sie Handlungsempfehlungen, wie sich Individuen verhalten sollten, um die Digitalisierung und KI in einem nachhaltigen Sinne zu nutzen? 

TS: Diese Frage zu beantworten ist schwierig, weil den User*innen meist gar nicht bewusst ist, in welchen Anwendungen KI steckt. Wenn ich einen Bot auf einer Website habe, weiß ich nicht, ob er klassisch funktioniert, mit statistischer Informatik, oder ob eine KI-gestützte Komponente darin ist. Wie soll ich das als User*in sehen?

Aber nehmen wir mal OpenAI, das aktuell im Trend ist. Als Einzelperson kann man sich natürlich immer fragen, wer die Anbieter sind, die mir eine KI-Anwendung präsentieren, und welche Ziele sie verfolgen. Bei Open AI wissen wir, dass das Unternehmen wie Microsoft und Personen wie Elon Musk sind, die stark kommerzielle Interessen verfolgen. Meine erste Empfehlung lautet also, darauf zu schauen: Wer bietet was an, mit welcher Motivation, und gibt es dazu vielleicht eine Alternative, ein Unternehmen oder Start-up, das ganz klar einen gesellschaftlichen Purpose, d.h. einen gemeinwohlorientierten Zweck verfolgt? 

Meine zweite Empfehlung für Individuen lautet: KI nur, wo es notwendig ist, keinem Hype aufsitzen, nicht denken, dass durch KI alles automatisch besser wird. 

Und drittens: Nur so viel Digitalisierung wie nötig, so wenig wie möglich. Digital Detox ist immer eine gute Idee, wenn man selber das Gefühl hat, dass es einem guttut, langfristig oder auch nur für den Moment manche Sachen analog zu machen oder einfach mal abzuschalten. 

EG: Wie kann man die Menschen mit dieser Botschaft erreichen? 

TS: Ich glaube, man muss da nicht für weniger Digitalisierung appellieren, sondern eher die Frage stellen: Was ist für dich ein gutes Leben? Was bräuchtest du dafür und wie kannst du es erzielen?

Ich beobachte zur Zeit viele Diskussionen im schulischen Kontext, die im Zuge des Lockdowns entstanden sind und in denen sich Gruppen von Menschen – wie etwa die Eltern – fragen, wie der Digitalkonsum für das Gemeinwohl begrenzt, Klassenchats limitiert oder gar eingestampft oder eine Lernplattform sinnvoll eingesetzt werden können. Das sind ja im Grunde alles Diskussionen im Kleinen, die sich um die Frage drehen, wo wir digitale Anwendungen sinnvoll einsetzen können und wo vielleicht aber auch eine Grenze gut wäre.  

MK: So wenig Digitalisierung wie möglich, so viel wie nötig: Wo setzt man die Grenze? 

TS: Limits für Suffizienz im privaten Leben können selten top-down festgeschrieben werden. Diese Debatten hatten wir schon beim Fleischkonsum und bei anderen Themen. Das muss letztendlich jede*r für sich selbst entscheiden. Wir können gesellschaftliche Limits setzen, z.B. das Tempolimit auf Autobahnen oder den Veggieday in der Kantine. So etwas kann sinnvoll sein, aber wir können die Leute nicht verpflichten, am Veggieday in der Kantine zu essen. Jede*r muss selber entscheiden, ob er oder sie dort isst oder woanders hingeht. Das ist beim digitalen Konsum ganz genauso. 

Der Kapitalismus ist unheimlich erfinderisch, um Technologien dafür einzusetzen, neue Produkte oder Dienstleistungen an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Hier stellt sich die Suffizienz-Frage noch einmal neu, nicht nur nach dem quantitativen Maß, sondern auch danach, inwieweit man eigentlich qualitativ bei dieser laufenden Suche nach neuen Konsumformen mitmachen will. Kann man Bedürfnisbefriedigung vielleicht auch in anderen Bereichen finden, mit denen kein Konsum verbunden ist? 

EG: Durch gezielte Werbung im Internet wird das Individuum zum Konsum verführt. Sehen Sie hinsichtlich der Datenerhebung und -verarbeitung bei personalisierter Werbung Reformbedarf? 

TS: Absolut. In unserem Report Digital Reset2 liefern meine Ko-Autor*innen und ich zum Beispiel konkrete Ansätze, wie die verschiedenen Aspekte der Daten-Governance systematisch mit den Zyklen einer Kreislaufwirtschaft verbunden werden müssten, damit man es Unternehmen, aber auch Konsument*innen leichter macht, diese Daten konkret für Zwecke von Re-Use, Recycling und Reduzierung zu verwenden. 

Aktuell wird in der EU der digitale Produktpass diskutiert. Dort würden für die Konsument*innen die relevanten Informationen für eine Kreislaufwirtschaft verpflichtend festgeschrieben, etwa wie Produkte noch für andere Zwecke verwendet werden können oder wo Produktkomponenten ausgewechselt und damit reusable und nicht nur recyclable gemacht werden können. Der Produktpass wäre sozusagen das Informationsmerkblatt einer Ware oder einer Dienstleistung. Es ist aber noch nicht ausgemacht, welche verpflichtenden Informationen der Produktpass umfassen soll. Das wird gerade heiß diskutiert. Hier besteht also nach wie vor Reformbedarf. 

EG: Welches positive Szenario einer digitalisierten, nachhaltigen Welt ist für Sie denkbar?

TS: Ich bin sicher, dass die Anwendung von KI-gestützten Komponenten in der Software- und Produktentwicklung drastisch zunehmen wird. Das lässt sich weder verhindern noch ist es schlecht. Es ist gut. In einem positiven Szenario würden vor allen anderen jene Akteure daran beteiligt sein, die diese Tools nicht nur nutzen, um die Nachhaltigkeitsziele nebenbei zu verfolgen, sondern sich ihnen ganz verschrieben haben. Also etwa Purpose-Unternehmen oder Individuen, die solche Tools im Konsumbereich nutzen, um in ihrem Alltag leichter, unkomplizierter, vielleicht sogar kostengünstiger nachhaltige Lebensstile zu verfolgen. Stichwort Sharing, alternative Reisen oder das Ersetzen von Hardware und Produkten durch Dienstleistungen. Insofern glaube ich, dass eine zukünftige Welt eine gute Chance hat, sowohl digitaler als auch nachhaltiger zu werden. Aber dafür müssen wir natürlich auch die Schattenseiten, die Trends, die dem zuwiderlaufen, ganz klar ins Auge fassen und bekämpfen. 

Fußnoten
2

Steffen Lange, Tilman Santarius: Smarte grüne Welt? Digitalisierung zwischen Überwachung, Konsum und Nachhaltigkeit. München 2018. (Open Access)

Steffen Lange, Tilman Santarius (Hrsg.): Digital Reset: Redirecting Technologies für the Deep Sustainability Transformation. Berlin 2022. 

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