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Protest als Herzstück der Demokratie

Re-Paper
Oliver Marchart2022
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Protest als Herzstück der Demokratie

»The Sovereign Awakened. A Radical Democratic View on Protest«

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Geschrieben von Dennis Yücel

Bei te.ma veröffentlicht 29.02.2024

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/27pd-cw61

Geschrieben von Dennis Yücel
Bei te.ma veröffentlicht 29.02.2024
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/27pd-cw61

Der österreichische Philosoph und Sozialwissenschaftler Oliver Marchart gilt als wichtiger Vertreter der radikalen Demokratietheorie. Echte Herrschaft des Volkes ist für ihn weit mehr als ein allgemeines Wahlrecht. Stattdessen sieht er den Protest als das Herzstück der Demokratie. Dieser demokratische Protest darf und muss für ihn dabei auch über die institutionalisierten Spielregeln des Politikbetriebs hinausgehen.

Demokratie ist dem Wortlaut nach die Herrschaft des Volkes. Souverän ist also nicht eine einzelne Herrscherfigur, sondern das Volk in seiner Gesamtheit. Zumeist jedoch, so arbeitet Oliver Marchart mit Blick auf die Arbeiten des Politikwissenschaftlers Richard Tuck heraus, schläft dieser Souverän. Das Volk nimmt seine Souveränität nur alle vier, fünf Jahre wahr, wenn es zur Wahl zusammenkommt. Die restliche Zeit wird die eigentliche Herrschaftsgewalt an die gewählte Regierung abgetreten.

Oliver Marchart sieht in diesem Paradox eine Crux des liberalen Denkens. Er vertritt die These, dass der Tradition des Liberalismus ein Verlangen innewohne, das Volk zu entmächtigen: Zwar werde das Volk beständig als Souverän beschworen – gleichzeitig sei der liberale Diskurs jedoch von einer tiefsitzenden Furcht vor echter Volksherrschaft getrieben. Diese Angst zeigt sich für Marchart etwa in Form von Warnungen vor einer „Tyrannei der Mehrheit“ oder auch in Forderungen nach einer Herrschaft von Experten. Dies reiche bis hin zu Extrempositionen wie die des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Jason Brennan, der 2016 in einer Streitschrift vorgeschlagen hatte, das Wahlrecht gegenüber ungebildeten Menschen einzuschränken.

Dem Bild des Volkes als ein „schlafendes Souverän“ setzt er die Vorstellung einer Demokratie entgegen, in der das Volk im Protest stets aufs Neue aufsteht und seine Souveränität einfordert. 

Ihre grundlegenden Impulse findet dieser Gedanke in den Klassikern der sogenannten radikalen Demokratietheorie, als deren prominenter Vertreter Oliver Marchart gilt. Der hier besprochene Text eignet sich daher nicht nur, um Marcharts Verständnis von Demokratie und Protestkultur zu erhellen, sondern bietet auch einen Einstieg in eine der derzeit einflussreichsten Strömungen der Demokratietheorie. 

Der zentralen These der radikalen Demokratietheorie nach liegt der Wesenskern der Demokratie im Konflikt. Menschen haben Bedürfnisse, Ansprüche und Vorstellungen, die sie politisch artikulieren – und treffen dabei auf legitimen Widerstand von Menschen mit anderen Ansichten. Unterschieden wird dabei zwischen einem agonistischen und einem antagonistischen Konflikt. Während ein agonistischer Konflikt innerhalb gewisser institutionalisierter Spielregeln abläuft (beispielsweise also innerhalb der Gesetze eines Staates), geht ein antagonistischer Konflikt über diese Regeln hinaus und kann diese selbst zum Gegenstand des Konflikts machen – beispielsweise durch zivilen Ungehorsam.

Marchart identifiziert nun zwei zentrale Prämissen im agonistischen Demokratieverständnis. Erstens wird Konflikt als zentraler politischer Wert einer jeden Demokratie gesetzt. Zweitens wird davon ausgegangen, dass diese Konflikte innerhalb gewisser Spielregeln bearbeitet werden müssen. Ohne Konflikte würde die Demokratie stagnieren – ohne Regeln liefe sie Gefahr, in einen Bürgerkrieg umzuschlagen. 

Diese – agonistische – Variante der radikalen Demokratietheorie ist für Marchart weitestgehend mit einem liberalen Demokratiemodell kompatibel. Demokratie ist nach diesem Verständnis die Staatsform des institutionalisierten Streits – hier können sämtliche politische Ideen und Ziele vertreten werden, solange sie sich im Rahmen der Legalität und rechtsstaatlich-demokratischer Verfahren bewegen. Widerstand gegen die Staatsgewalt ist innerhalb eines agonistischen Diskurses ebenso ausgeschlossen wie eine grundlegende Infragestellung der herrschenden Ordnung, beispielsweise was den Schutz des Privateigentums anbelangt. Alle Positionen innerhalb des agonistischen Systems werden als gleichermaßen legitim angesehen. 

Doch in einem entscheidenden Punkt weicht die radikale Demokratietheorie von der liberalen Tradition ab. Gerade in ihrer post-marxistischen Spielart geht sie davon aus, dass die institutionalisierten Regeln der Konfliktbewältigung selbst von bestimmten Machtverhältnissen geprägt sind. Vereinfachend ließe sich sagen, dass sie davon ausgeht, dass der liberale Rechtsstaat entgegen seines Anspruchs nicht alle Menschen gleich behandelt, sondern Angehörige bestimmter, herrschender Klassen systematisch privilegiert. Da sich der agonistische Diskurs allerdings nur innerhalb dieser Spielregeln artikulieren, diese aber nicht hinterfragen und verändern kann, bleiben nach dieser Lesart auch diese Machtstrukturen unausgesprochen.

Dies macht es für Anhänger post-marxistischer radikaler Demokratietheorien notwendig, dass demokratischer Protest in gewissen Situationen die Regeln des Spiels bricht. In den Begrifflichkeiten der radikalen Demokratietheorie wird aus einem agonistischen Konflikt dann ein antagonistischer Konflikt. 

Marchart spricht sich dafür aus, dass in einem „radikaldemokratischen Kampf für Befreiung und Demokratisierung“ die „Legitimität vieler hegemonialer Spielregeln“ in Frage gestellt werden könne und unter Umständen sogar müsse. Als Beispiel führt er etwa die Abschaffung der Sklaverei in den USA an. Diese sei nicht innerhalb eines agonistischen Diskurses gelungen – sondern es habe eines Bürgerkrieges bedurft. 

Doch mit der Forderung nach Antagonismen umzugehen ist nicht leicht. Wie lassen sich antagonistische Konflikte, die über die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung hinausgehen, demokratisch legitimieren? Wie lässt sich verhindern, dass Antagonismen in roher Gewalt enden?

Marchart räumt ein, dass es keine Versicherung gäbe, dass Antagonismen notwendig im Dienste progressiver Politik stehen. Antagonistische Proteste sind ihm zufolge jedoch nur dann demokratisch, wenn sie darauf abzielen, den Horizont von Freiheit, Gleichheit und Solidarität für und auf alle Menschen zu erweitern. Explizit zieht er eine Trennlinie zwischen demokratischen antagonistischen Bewegungen und solchen, die etwa im Namen von völkischen Ideologien handeln und exklusive Interessen für ihre eigene Gruppe vertreten. 

Um antagonistischen Protest demokratisch zu legitimieren, stützt Marchart sich vornehmlich auf eine prominente These von Hannah Arendt. Für diese lag das Fundament der Menschenrechte in einem „Recht, Rechte zu haben“, das in ihrer Lesart erlaubte, alle anderen Rechte beständig in Frage zu stellen. Marchart argumentiert dann – mit Rückgriff auf die Arbeiten von Claude Lefort und Étienne Balibar –, dass Menschenrechten ein generatives Prinzip innewohne: sie entwickeln sich weiter, wenn mehr und mehr Menschen und zuvor ausgeschlossene oder marginalisierte Sozialgruppen ihre Inklusion verlangen und mit ihren Ansprüchen die bestehende Ordnung in Frage stellen. Mehr noch: Demokratie und Menschenrechte blieben nur am Leben, wenn sie sich kontinuierlich weiterentwickeln und konstant neue Rechte eingefordert würden. Demokratische Verfassungen sollten nach Balibar als „Standbein“ für künftige Erfindungen dienen, statt die bestehende Ordnung zu stützen und künftige Kämpfe für Freiheit und Gleichheit zu begrenzen. 

Diese Position steht Marchart zufolge dem Liberalismus entgegen, für den Demokratie und Menschenrechte ein ein für alle Mal erreichtes Gut darstellten. Vereinfachend gesagt: In der einen Position ist der Kampf um Demokratie bereits erfolgreich abgeschlossen – Verfassungen und Menschenrechtserklärungen stellen gewissermaßen die Ziellinie dar – in der anderen Position bilden Verfassung und Menschenrechtserklärung hingegen lediglich den Startschuss für eine echte demokratische Auseinandersetzung, deren Horizont stets über die bestehende Ordnung hinausweist. 

Auf dieser Grundlage verteidigt Marchart nicht nur das Recht auf antagonistischen Protest, sondern setzt ihn als lebenswichtiges Element der Demokratie an. Gleichermaßen betont er jedoch, dass sich demokratische Bewegungen nicht im bloßen Protest erschöpfen dürften. Jüngste Beispiele wie die Occupybewegung hätten gezeigt, dass explosive Aufstände verpuffen, wenn sie sich nicht als politische Kräfte institutionalisieren und den Raum repräsentativer Politik betreten. Zentral sei deswegen die Konstruktion einer neuen emanzipatorischen Hegemonie – sprich, ein politischer Block demokratischer Kräfte, der daran arbeitet, den demokratischen Horizont der universellen Freiheit, Gleichheit und Solidarität auf alle Menschen zu erweitern.

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Als post-marxistisch werden verschiedene Denkrichtungen bezeichnet, die sich auf die theoretischen und politischen Grundlagen Karl Marx beziehen, diese jedoch in entscheidenden Punkten weiterentwickeln. In Bezug auf die radikale Demokratietheorie gelten insbesondere die Arbeiten von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe als post-marxistisch.

Claude Lefort (1924-2010) war ein französischer Philosoph, der sich insbesondere mit Fragen über Totalitarismus und Demokratie beschäftigt hat.

Étienne Balibar ist ein französischer Philosoph. Bekannt ist er vor allem für seine Auseinandersetzung mit marxistischen Positionen.

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