Demokratie ist dem Wortlaut nach die Herrschaft des Volkes.
Oliver Marchart sieht in diesem Paradox eine Crux des liberalen Denkens. Er vertritt die These, dass der Tradition des
Dem Bild des Volkes als ein „schlafendes Souverän“ setzt er die Vorstellung einer Demokratie entgegen, in der das Volk im Protest stets aufs Neue aufsteht und seine Souveränität einfordert.
Ihre grundlegenden Impulse findet dieser Gedanke in den Klassikern der sogenannten radikalen Demokratietheorie, als deren prominenter Vertreter Oliver Marchart gilt. Der hier besprochene Text eignet sich daher nicht nur, um Marcharts Verständnis von Demokratie und Protestkultur zu erhellen, sondern bietet auch einen Einstieg in eine der derzeit einflussreichsten Strömungen der Demokratietheorie.
Der zentralen These der radikalen Demokratietheorie nach liegt der Wesenskern der Demokratie im Konflikt. Menschen haben Bedürfnisse, Ansprüche und Vorstellungen, die sie politisch artikulieren – und treffen dabei auf legitimen Widerstand von Menschen mit anderen Ansichten. Unterschieden wird dabei zwischen einem agonistischen und einem antagonistischen Konflikt. Während ein agonistischer Konflikt innerhalb gewisser institutionalisierter Spielregeln abläuft (beispielsweise also innerhalb der Gesetze eines Staates), geht ein antagonistischer Konflikt über diese Regeln hinaus und kann diese selbst zum Gegenstand des Konflikts machen – beispielsweise durch zivilen Ungehorsam.
Marchart identifiziert nun zwei zentrale Prämissen im agonistischen Demokratieverständnis. Erstens wird Konflikt als zentraler politischer Wert einer jeden Demokratie gesetzt. Zweitens wird davon ausgegangen, dass diese Konflikte innerhalb gewisser Spielregeln bearbeitet werden müssen. Ohne Konflikte würde die Demokratie stagnieren – ohne Regeln liefe sie Gefahr, in einen Bürgerkrieg umzuschlagen.
Diese – agonistische – Variante der radikalen Demokratietheorie ist für Marchart weitestgehend mit einem liberalen Demokratiemodell kompatibel. Demokratie ist nach diesem Verständnis die Staatsform des institutionalisierten Streits – hier können sämtliche politische Ideen und Ziele vertreten werden, solange sie sich im Rahmen der Legalität und rechtsstaatlich-demokratischer Verfahren bewegen. Widerstand gegen die Staatsgewalt ist innerhalb eines agonistischen Diskurses ebenso ausgeschlossen wie eine grundlegende Infragestellung der herrschenden Ordnung, beispielsweise was den Schutz des Privateigentums anbelangt. Alle Positionen innerhalb des agonistischen Systems werden als gleichermaßen legitim angesehen.
Doch in einem entscheidenden Punkt weicht die radikale Demokratietheorie von der liberalen Tradition ab. Gerade in ihrer
Dies macht es für Anhänger post-marxistischer radikaler Demokratietheorien notwendig, dass demokratischer Protest in gewissen Situationen die Regeln des Spiels bricht. In den Begrifflichkeiten der radikalen Demokratietheorie wird aus einem agonistischen Konflikt dann ein antagonistischer Konflikt.
Marchart spricht sich dafür aus, dass in einem „radikaldemokratischen Kampf für Befreiung und Demokratisierung“ die „Legitimität vieler
Doch mit der Forderung nach Antagonismen umzugehen ist nicht leicht. Wie lassen sich antagonistische Konflikte, die über die demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung hinausgehen, demokratisch legitimieren? Wie lässt sich verhindern, dass Antagonismen in roher Gewalt enden?
Marchart räumt ein, dass es keine Versicherung gäbe, dass Antagonismen notwendig im Dienste progressiver Politik stehen. Antagonistische Proteste sind ihm zufolge jedoch nur dann demokratisch, wenn sie darauf abzielen, den Horizont von Freiheit, Gleichheit und Solidarität für und auf alle Menschen zu erweitern. Explizit zieht er eine Trennlinie zwischen demokratischen antagonistischen Bewegungen und solchen, die etwa im Namen von völkischen Ideologien handeln und exklusive Interessen für ihre eigene Gruppe vertreten.
Um antagonistischen Protest demokratisch zu legitimieren, stützt Marchart sich vornehmlich auf eine prominente These von Hannah Arendt. Für diese lag das Fundament der Menschenrechte in einem „Recht, Rechte zu haben“, das in ihrer Lesart erlaubte, alle anderen Rechte beständig in Frage zu stellen. Marchart argumentiert dann – mit Rückgriff auf die Arbeiten von
Diese Position steht Marchart zufolge dem Liberalismus entgegen, für den Demokratie und Menschenrechte ein ein für alle Mal erreichtes Gut darstellten. Vereinfachend gesagt: In der einen Position ist der Kampf um Demokratie bereits erfolgreich abgeschlossen – Verfassungen und Menschenrechtserklärungen stellen gewissermaßen die Ziellinie dar – in der anderen Position bilden Verfassung und Menschenrechtserklärung hingegen lediglich den Startschuss für eine echte demokratische Auseinandersetzung, deren Horizont stets über die bestehende Ordnung hinausweist.
Auf dieser Grundlage verteidigt Marchart nicht nur das Recht auf antagonistischen Protest, sondern setzt ihn als lebenswichtiges Element der Demokratie an. Gleichermaßen betont er jedoch, dass sich demokratische Bewegungen nicht im bloßen Protest erschöpfen dürften. Jüngste Beispiele wie die Occupybewegung hätten gezeigt, dass explosive Aufstände verpuffen, wenn sie sich nicht als politische Kräfte institutionalisieren und den Raum repräsentativer Politik betreten. Zentral sei deswegen die Konstruktion einer neuen emanzipatorischen Hegemonie – sprich, ein politischer Block demokratischer Kräfte, der daran arbeitet, den demokratischen Horizont der universellen Freiheit, Gleichheit und Solidarität auf alle Menschen zu erweitern.