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Erziehung zur Mündigkeit

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Worin besteht (digitale) Mündigkeit?

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Geschrieben von Eva von Grafenstein

Bei te.ma veröffentlicht 09.02.2023

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/948e-x019

Geschrieben von Eva von Grafenstein
Bei te.ma veröffentlicht 09.02.2023
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/948e-x019

Im Rahmen der Reihe „Bildungsfragen der Gegenwart“ führte Theodor W. Adorno am 16. Juli 1969 im Hessischen Rundfunk ein Gespräch mit Hellmut Becker, dem Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Sie diskutieren darin die Frage, wie der Mensch in der Schule zur Mündigkeit erzogen werden könne, und gelangen zu Einsichten, die aktueller nicht sein könnten.

Theodor W. Adorno legt zu Beginn des Gespräches dar, dass Mündigkeit die Voraussetzung von Demokratie und deswegen von zentraler Bedeutung sei: Demokratie beruhe „auf der Willensbildung eines jeden Einzelnen, wie sie sich in der Institution der repräsentativen Wahl“ zusammenfasse. Diese Willensbildung wiederum setze die Fähigkeit und den Mut voraus – in den Worten Immanuel Kants –, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. 

Hellmut Becker vertritt in dem Gespräch die Ausgangsthese, dass das gesamte Bildungswesen der Bundesrepublik durch seine Dreigliedrigkeit, d.h. durch seine Aufteilung in Haupt-, Realschule und Gymnasium, zur Unmündigkeit erziehe. Es unterscheide zwischen Wenig-, Mittel- und Hochbegabten. Dabei liege dem Bildungswesen, so Becker, ein falscher Begabungsbegriff zugrunde: Begabung sei im Menschen nicht vorgebildet, sondern hänge in ihrer Entfaltung vom „Challenge“ ab, dem der Einzelne ausgesetzt sei. Deswegen brauche es ein Schulsystem, das klassenspezifische Ungleichheiten in seiner Gliederung nicht fortsetze, sondern überwinde, und die Schülerinnen und Schüler aufgrund eines differenzierten, vielfältigen Bildungsangebotes auf allen Stufen – von der Vorschule bis zur ständigen Weiterbildung – zum Lernen motiviere. 

Adorno wendet ein, dass Beckers Ansatz zu sehr im institutionellen Rahmen verbleibe, und weist darauf hin, dass der Mensch vor allem im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang unmündig gehalten werde. Auf den Menschen werden ein unbeschreiblicher Druck ausgeübt, „einfach durch die Einrichtung der Welt und bereits durch die planmäßige Steuerung auch der gesamten Innensphäre durch die Kulturindustrie in einem allerweitesten Sinn“. 

Hinter dem Ausdruck der „Kulturindustrie“ stehen kapitalismuskritische Annahmen, die Adorno zwar nicht im Gespräch direkt, aber z.B. in der kurzen Abhandlung Resume über Kulturindustrie ausführt. Er kritisiert darin, dass Produkte der Kulturindustrie – Kino, Radio, Printmedien, Musik und Fernsehen – nicht, wie Kunstwerke, Waren mit einem immanenten, ästhetischen Gebrauchswerts seien, sondern Waren, mit denen ausschließlich Profit erzielt werden solle.1 Sie seien auf den Konsum von Massen zugeschnitten, höchst manipulativ und verhinderten die Bildung autonomer, bewusst urteilender und sich entscheidender Individuen.2

Wie Adorno im weiteren Gespräch erklärt, sehe er das eigentliche Problem von Mündigkeit darin, ob und wie man der Steuerung des Menschen durch diese Kulturindustrie entgegenwirken könne, und schlägt vor, dass „die paar Menschen, die dazu gesonnen“ seien, mit aller Energie darauf hinwirken sollten, „daß die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist.“ Unter Widerspruch und Widerstand versteht er nicht, wie man vielleicht meinen könnte, das Aufbegehren gegen jede Art von Autorität, sondern ein Reflektieren auf die Mechanismen, die den Menschen unmündig machen.

Adorno hat eine konkrete Vorstellung, wie diese „Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand“ in den Schulen umgesetzt werden könne: Man sollte mit Oberstufenschülern z.B. kommerzielle Filme (heute Blockbuster) besuchen und ihnen aufzeigen, „welcher Schwindel da vorliegt, wie verlogen das ist“. Oder man sollte mit ihnen eine Illustrierte (Magazine) lesen und ihnen zeigen, „wie dabei mit ihnen unter Ausnutzung ihrer eigenen Triebbedürftigkeit Schlitten gefahren wird“ usw. So solle überhaupt erst einmal das Bewusstsein dafür geweckt werden, dass die Menschen stets „betrogen“ werden, „denn der Mechanismus der Unmündigkeit heute ist das zum Planetarischen erhobene mundus vult decipi, daß die Welt betrogen sein will.“ 

Das Gespräch zwischen Theodor W. Adorno und Hellmut Becker über Bildungsfragen bleibt auch heute trotz des veralteten Sprachduktus und der politischen Kampfbegriffe aktuell: Beckers Kritik am dreigliedrigen Schulsystem wurde in den letzten Jahrzehnten durch viele Studien bestätigt, die zeigten, dass es die Bildungschancen vieler Schüler und Schülerinnen, insbesondere aus bildungsfernen Schichten und Migrantenfamilien, verschlechtert. Das Schulsystem wurde schließlich im Jahr 2011 in ein zweigliedriges umgewandelt, und auch die Vor- und Nachteile einer möglichen Einheitsschule werden bis heute diskutiert. 

Adornos kritische Kulturtheorie wiederum ist sicherlich in vielen Aspekten auf die ökonomischen Prinzipien der Plattformwirtschaft und die sozialen Medien übertragbar. Auch hier sind etliche Mechanismen am Werk, die der Mündigkeit des Menschen nach Adornos Definition entgegenwirken (das unbemerkte Verwenden von Nutzerdaten, welches das Verhalten der Nutzerin z.B. bei Kaufentscheidungen beeinflussen soll, die Manipulation des Nutzers durch Fake-News, suchtererzeugende Mechanismen u.v.m.) Aufgabe der Schule wäre demzufolge, die Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, kritisch auf diese Mechanismen zu reflektieren, und sie auf diese Weise zur digitalen Mündigkeit zu „erziehen“. 

Fußnoten
2

Vgl. Theodor W. Adorno: Resume über Kulturindustrie. In: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Eingriffe. Frankfurt a.M. 2003, S. 338. Vgl. auch Gerhard Schweppenhäuser. Theodor W. Adorno zur EInführung. Hamburg 1996, S. 159f., 166f., 169f.     

Vgl. Theodor W. Adorno: Resume über Kulturindustrie, S. 345. 

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