Die Sozialwissenschaftler trieb unter anderem die Frage um, ob gegenwärtig von konsistenten gesellschaftlichen Lagern gesprochen werden kann, die unterschiedlichen Identitätsvorstellungen anhängen. Zu diesem Zweck befragte die Forschungsgruppe im Rahmen einer repräsentativen Umfrage in Deutschland, Frankreich, Schweden und Polen insgesamt 5000 Teilnehmende. Erhoben wurden unter anderem die Vorstellungen über nationale Zugehörigkeit, Bedrohungswahrnehmungen, Gefühle gesellschaftlicher Marginalisierung, der Blick auf politische Repräsentation und die Zufriedenheit mit der Demokratie sowie religiöse Überzeugungen.
Tatsächlich, so das Forscherteam, ließen sich in den untersuchten Gesellschaften zwei Gruppen identifizieren, die auf den abgefragten Dimensionen durchgehend am weitesten voneinander entfernt liegen. Sie bilden somit die Pole, zwischen denen die gemäßigteren Teile der Bevölkerung zu verorten sind. Die beiden Polgruppen bezeichnen die Autoren als „Entdecker“ und „Verteidiger“
Charakteristisch für die Entdecker ist, dass sie eine offene Vorstellung von nationaler Zugehörigkeit haben, sich durch Fremde – etwa geflüchtete Menschen – nicht bedroht sehen, dass sie das Gefühl haben, politisch repräsentiert zu werden und dass sie mit dem politischen System im Allgemeinen zufrieden sind. Ganz anders die Verteidiger: Diese fühlen sich durch Fremde bedroht, vertreten ein enges Konzept nationaler Zugehörigkeit, erleben sich als politisch marginalisiert, sind unzufrieden mit dem politischen System und misstrauen den politischen Institutionen.
Das ewige Gegeneinander von Sicherheit und Exploration
Für die Autoren der Studie spiegeln sich in diesen Haltungen unterschiedliche menschliche Grundbedürfnisse, namentlich jene der Sicherheit und der Exploration. Beide sind in allen Menschen verankert und somit nicht nur in einer bestimmten Gruppe vorhanden. Bei den Entdeckern nimmt jedoch der explorative Anteil größeren Raum ein und bei den Verteidigern der Anteil nach Sicherheit. Sowohl auf individueller als auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, so die Forscher, braucht es notwendigerweise beide Anteile. Würden Gesellschaften ausschließlich nach Sicherheit streben, wäre es ihnen unmöglich, sich weiterzuentwickeln, da jede Veränderung – sei sie technisch, rechtlich, moralisch oder politisch – sofort als abzuwehrende Bedrohung angesehen und somit vermieden werden würde. Mit dieser Geisteshaltung hätte man vermutlich weder die moderne Physik noch bis dahin unbekannte Weltregionen entdeckt. Wären Gesellschaften andererseits durchgehend am Explorieren, dann würde dies jede Stabilität verunmöglichen, die Gesellschaften eben auch auszeichnen. Durch institutionalisierte Verhaltensweisen, Normen und Regeln garantieren sie Erwartungssicherheit.
Anders als auf individueller Ebene können die Ziele auf gesellschaftlicher Ebene differenzierter verfolgt werden. Während eine Einzelperson beispielsweise entweder in den unbekannten Wald geht und dort Neues entdeckt oder auf dem schon bekannten Weg bleibt und sich mit dem zufrieden gibt, was sie hat, stehen Gesellschaften meist vor anders gearteten Entscheidungsmöglichkeiten. Sie können oftmals ein wenig explorieren, ohne dass sofort alles Gewohnte über den Haufen geworfen werden muss.
Die Autoren führen diese Überlegung nicht weiter aus, aber sie dürften Entwicklungen im Sinne haben, die dem Prozess ähneln, der letztlich zur Ehe für alle führte. Forderungen nach der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare wurden bereits in den 1980er-Jahren erhoben. Es dauerte allerdings bis 2017, ehe der Bundestag das Gesetz verabschiedete, welches homosexuellen Personen erlaubt, zu heiraten. Dazwischen lagen schrittweise Liberalisierungen, etwa das Lebenspartnerschaftsgesetz aus dem Jahr 2001. Ungeachtet der Frage, ob der Prozess zu lang dauerte und am Ende sowohl Entdecker als auch Verteidiger frustrierte: Als entscheidend kann angesehen werden, dass eben beide Gruppen mit Frustrationen umgehen mussten, weil nicht ad hoc entweder das eine oder das andere Bedürfnis in Reinform befriedigt wurde.
Aus Sicht der Münsteraner Forschergruppe hat sich aufgrund der allgemeinen Grundbedürfnisse in den vergangenen Jahren eine umfassende gesellschaftliche Konfliktlinie herausgebildet. Als Trigger hierfür machen sie Globalisierungsprozesse – „verstanden als die zunehmende Mobilität von Menschen und Gütern über nationale Grenzen hinweg“
Einander ernst nehmen und aufs Wesentliche konzentrieren
Die Verankerung der neuen Konfliktlinie in menschlichen Grundbedürfnissen mag auf den ersten Blick wenig Grund zur Hoffnung geben. Denn weder lässt sich die grundsätzliche Spannung zwischen den Grundbedürfnissen auflösen, noch wird die Welt weniger komplex werden. Die Anlässe, zu denen an den Grundbedürfnissen gerührt wird, werden also in Zukunft nicht weniger.
Die Autoren meinen aber trotzdem, dass sich mit der Konfliktlinie umgehen lasse. Dafür sei es nötig, die abweichende Gewichtung der Grundbedürfnisse in der jeweils gegenüberliegenden Gruppe ernst zu nehmen. Weil sowohl das Bedürfnis nach Sicherheit als auch jenes nach Exploration für Gesellschaften funktional sind, könne es nicht darum gehen, eines der Bedürfnisse als unangebracht abzutun. Auf Grundlage eines solchen offenen – vielleicht sogar emphatischen – Blicks auf die anderen, müsse dann danach gefragt werden, „welche Positionen für die Befriedigung der Bedürfnisse beider Gruppen essentiell und unabdingbar, und welche Positionen verhandelbar sind.“
Das hieße freilich nicht, dass politische Entscheidungen plötzlich keine mitunter schmerzhaften Kompromisse mehr sein würden. Es hieße aber, die bisherigen Gegner nicht mehr als Feinde zu betrachten, sondern als den Teil im eigenen Selbst, der weniger ausgeprägt ist. Im besten Fall, so ließe sich der Gedanke unter Rückgriff auf eine Studie von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser weiterführen, würden dann aus „Triggerpunkten“