In den kommenden Monaten werden wir versuchen, Antworten auf die „europäische Frage“ zu finden. Dabei helfen uns zahlreiche Stimmen aus Wissenschaft, Politik und Praxis. Mit Frank Schimmelfennig, Professor für Europäische Politik an der ETH Zürich, steht uns im Auftaktgespräch des Kanals einer der profiliertesten und meistzitierten Europa-Experten aus den Sozialwissenschaften Rede und Antwort zu den ambivalenten Folgen des Kriegs auf die Politik der EU. Nach vielfältigen Positionen und komplexen Debatten im Vorgänger-Kanal Ukraine: Krieg weiten wir die Perspektive auf die „europäische Frage“, behalten aber konsequent den Blick der Wissenschaft bei. Der Komplexität der gegenwärtigen Umbrüche in Europa nähern wir uns noch stärker als bisher mithilfe sog. „Cluster“: Themenschwerpunkte, bestehend aus einem Essay oder Interview, die jeweils von mehreren te.ma-typischen Re-Formaten begleitet werden, in denen wir die wissenschaftlichen Kontroversen um ein Thema aufbereiten.
Führt der sicherheitspolitische Impuls des Kriegs zu einer Wiederbelebung der Idee europäischer „strategischer Autonomie“, wie von französischer Seite seit Jahrzehnten gefordert? Inwiefern lässt sich überhaupt eine gemeinsame europäische Rüstungspolitik und -wirtschaft organisieren? Und was ist mit den internen Fliehkräften, die in Form populistischer Parteien oder neuen geopolitischen Ad-Hoc-Koalitionen wie den Visegrád-Staaten möglicherweise eine geschlossene Antwort auf externe Herausforderungen erschweren?
Beim Ringen mit diesen Fragen belassen wir es nicht bei einer innereuropäischen Nabelschau: Mit Laura Worsch, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik (IEP) in Berlin, konnten wir eine Gastkuratorin gewinnen, die für te.ma im Rahmen eines Clusters die Neujustierung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) analysieren wird. Mit der Beitrittsperspektive für die Ukraine ist diese ambitionierter und zugleich geopolitischer geworden. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die bisher wenig in der öffentlichen Debatte präsente europäische Rüstungsindustrie – eine Lücke, die wir gemeinsam mit unserem Gastkurator und Rüstungsexperten Lucas Hellemeier von der Freien Universität Berlin ausfüllen wollen. Weitere Cluster, etwa zu den wirtschaftspolitischen Reaktionen in Europa, der gesamteuropäischen Dimension des Wiederaufbaus in der Ukraine sowie zur Rolle der Zivilgesellschaft in der Befriedung des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine, werden wir ebenfalls mit externen Partnern umsetzen. Und noch mehr Themen sind in der Vorbereitung!
Damit ist bereits eine Weiterentwicklung des bekannten te.ma-Formats genannt, die wir mit unserem neuen Kanal einführen. Bei der Zusammenstellung von Clustern werden uns in den nächsten Monaten externe Gastkuratoren von renommierten Forschungsinstituten, Universitäten und Think Tanks unterstützen. Dadurch wollen wir unserem Ziel, die politischen und wissenschaftlichen Kontroversen eines Themenkomplexes zu fassen und diskutierbar zu machen, noch näher kommen. Gleichzeitig vertiefen wir unsere Verankerung in der Wissenschaftslandschaft und tragen unsere Thematiken in eine breitere Öffentlichkeit. Unsere externen Kurator*innen arbeiten dabei eng mit der te.ma-Redaktion und dem kanalspezifischen Fachkuratorium zusammen.
Besonders freuen wir uns über ein Kooperationscluster mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) zu ukrainischer Emigration nach Europa, das wir gemeinsam mit Nora Ratzmann vom Deutschen Zentrum für Migrations- und Integrationsforschung (DeZIM) und unserer Gastkuratorin Julia Glathe vom Osteuropa-Institut (OEI) der Freien Universität Berlin realisieren werden.
Für die User bedeutet all das: noch vielfältigerer Content, mehr Special Inputs sowie inhaltliche Tiefe und fundierte Kontroversität jenseits von false balance und binären Debatten.
Die Erweiterung unseres Expertise-Fundaments ist notwendig, führt man sich die gegenwärtigen Herausforderungen in Europa vor Augen: Wie sich die EU nach dem Schock des Kriegs langfristig aufstellt, betrifft nicht nur das Leben aller Europäer*innen. Es hat auch globale Bedeutung. Wir sind daher froh, erneut Alexandra Sitenko vom Institut für Theologie und Frieden als Kuratorin gewonnen zu haben. Alexandra wird mit uns zum einen den Blick auf das Verhältnis zwischen Europa und dem Globalen Süden richten. Haben wir es mit einer Neuausrichtung der Beziehungen auf der versprochenen Augenhöhe zu tun? Oder steckt hinter dem jüngsten Interesse der EU an Afrika, Asien und Lateinamerika lediglich ein neokoloniales Interesse an Rohstoffen, die nun nicht mehr aus Russland bezogen werden können? Neben einer Analyse der russischen Kriegsdiplomatie im Globalen Süden nähern wir uns diesen Fragen in einem spannenden Gespräch mit Adrián Bonilla, Direktor der EU-LAK-Stiftung, unter anderem aus lateinamerikanischer Perspektive.
Zum anderen beschäftigen wir uns mit einer Entwicklung in den internationalen Beziehungen, die in der Folge des russischen Angriffs an Kontur gewonnen hat: Immer mehr Staaten halten sich mit einseitigen Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Westen auf der einen oder China und Russland auf der anderen Seite zurück. Stattdessen versuchen sie sich an einer „neuen Neutralität“, zu der sich auch Europa verhalten muss. Mit Pascal Lottaz von der Kyoto University in Japan wird einer der führenden Neutralitätsexperten das Phänomen für die te.ma-User unter die Lupe nehmen.
Schließlich gehören zu der Auseinandersetzung um Ordnung in und mit Europa die Beziehungen zu den zwei großen Polen der Weltpolitik: den Vereinigten Staaten und China. Im Rahmen eines Clustern zur „strategischen Autonomie“ Europas werden wir diese Beziehungen gemeinsam mit externen Partnern sezieren. Sehen wir im Lichte US-amerikanischer Waffenlieferungen und globaler Sanktionsmacht eine (erneute) transatlantische Einbettung der europäischen Politik? Ist dies überhaupt wünschenswert und vereinbar mit dem Vorhaben einer größeren wirtschafts- und sicherheitspolitischen Selbständigkeit Europas? Schließlich steht die EU vor der Herausforderung, ihr Verhältnis zum autoritären China mit seiner Moskauer Schlagseite auf ein nachhaltiges Fundament zu stellen. Welche Kompromisse und welches Maß an europäischer Eigenständigkeit verlangt diese Neujustierung?
Zu dieser Diskussion laden wir Euch – citizen scientists, Interessierte, Zweifler, Denker und Macher – herzlichst ein. Lest, kommentiert, empfehlt und streitet! Recherchiert und schlagt neue Denkpfade ein mit der integrierten te.ma-Datenbank, die es erlaubt, Texte, Themen und Argumente individuell anzuordnen.
Umbruch | Krieg | Europa soll Euch dabei ein Co-Thinking-Space sein. Denn wir sind überzeugt: Die europäische Selbstverständigung über die Zäsur des Kriegs erschöpft sich nicht in der Kommunikation des „richtigen“ Wissens. Es bedarf neuer Räume der Diskussion, in denen über die (Denk-)Mittel gestritten wird, mit denen wir Sicherheit, Wirtschaft und Gesellschaft in der neuen globalen (Un-)Ordnung begreifen, weiterdenken – und schließlich besser als bisher gestalten.
Sebastian Hoppe
Programmplanung & Kurator Umbruch | Krieg | Europa