Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat der Nato Ende April vorgeworfen, durch die Lieferung von Militärhilfe an die Ukraine einen Stellvertreterkrieg zu führen. Seitdem diskutieren Fachexpert/innen, inwiefern der Begriff proxy war auf die Geschehnisse in der Ukraine angewandt werden kann.
Die Direktorin der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung Nicole Deitelhoff vertrat Anfang Mai 2022 die Ansicht, dass es sich nicht um einen Stellvertreterkrieg handele und allein der Begriff eine politische Mobilisierung darstelle. Die USA und der Westen hätten diesen Krieg nicht gewollt, er sei vielmehr von Russland aufgezwungen worden. Im Gegensatz zu ihr behauptete der US-amerikanische Wissenschaftler Hal Brands, Russland sei das Ziel eines der rücksichtslosesten und effektivsten Stellvertreterkriege der modernen Geschichte.
In seinem Blogpost auf „Lawfare“, einem US-amerikanischen Blog über nationale Sicherheitsfragen, vertrat der Militärexperte Michel Wyss im März 2022 die Sichtweise, dass sich in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg abzeichnete und analysierte Risiken und Kosten für alle Beteiligten. Er beschreibt Stellvertreterkriege als in der Regel „indirekte Beteiligung an einem Konflikt durch Dritte, die den strategischen Ausgang des Konflikts beeinflussen wollen“.
Ein externer „Sponsor“ unterstützt eine Konfliktpartei (den Stellvertreter) mit verschiedenen Mitteln, wie z.B. der Bereitstellung von Ausbildung, Waffen und Geldmitteln sowie Ersatzkräften. Die Unterstützung kann auch den direkteren Austausch von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen und/oder die Planung von Operationen beinhalten.
Laut Wyss weisen Stellvertreterkriege einige vermeintliche Vorteile auf. So bekommen Stellvertreter wie die ukrainischen Streitkräfte einen Zustrom von Ressourcen, die ihre Kampfkraft erheblich steigern können. Für die Unterstützer ist das eine „billigere“ Alternative zu konventionellen militärischen Interventionen. In einigen Fällen kann das Risiko einer Eskalation sogar gemindert werden, indem dem Gegner signalisiert wird, den Konflikt in Grenzen zu halten. Stellvertretende Interventionen können schließlich die politischen Kosten der Beteiligung an einem Konflikt verringern: im Inland, indem die parlamentarische Zustimmung umgangen wird, und im Ausland, indem die Gefahr von Sanktionen eingehegt wird.
Stellvertreterkriege bergen aber auch erhebliche Risiken. Zum einen kann die Unterstützung von außen zur Eskalation des Kriegsgeschehens beitragen. Die Erfahrungen der USA in Vietnam seien ein Beispiel dafür. Zum anderen weist Wyss darauf hin, dass stellvertretende Interventionen die Dauer der Kämpfe oft verlängern und die allgemeine Sterblichkeitsrate erhöhen. Schließlich erhöhe sich das Risiko, dass Konflikte in Zukunft wieder aufflammen.
Zur Zeit von Wyss’ Analyse im Frühjahr 2022 standen die Lieferung leichter Waffen sowie die Einrichtung einer Flugverbotszone im Mittelpunkt der Diskussion für die Unterstützung der Ukraine. Inzwischen hat sich die militärische Lage so verändert, dass über die Lieferung schwerer Waffen sowie über die Wahrscheinlichkeit einer nuklearen Eskalation diskutiert wird.
Wyss erwähnt noch einen weiteren kritischen Punkt: Auch wenn die Unterstützung der Ukraine Europa als ein wertvolles Instrument erscheint, um Russland politisch, militärisch und wirtschaftlich zu schwächen. Die ukrainische Zivilbevölkerung wird die Hauptlast des Konfliktes tragen.