In den Medien wird meist erst über Radikalisierungsprozesse berichtet, wenn sie an ihr Ende gekommen sind, also beispielsweise ein meist männlicher Täter einen Anschlag verübt hat. Erklärt wird die Radikalisierung dann häufig mit der Sozialisation des Attentäters, seinem Konsum bestimmter (sozialer) Medien oder der Herkunft des Extremisten.
Dem ideologischen Hintergrund der Handlungen wird demgegenüber weit weniger Gewicht beigemessen. Dabei ist dieser Aspekt zentral, denn der Angriff gilt nicht nur – vielleicht nicht einmal in erster Linie – den Menschen, die getötet werden, sondern in der Regel auch der jeweiligen Gesellschaft und ihren Norm- und Wertvorstellungen. So ist Gewalt von Seiten völkischer und islamistischer Extremisten in der Regel eine Kriegserklärung gegenüber der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“.
Was bedeutet eigentlich Radikalisierung?
Der Begriff der Radikalisierung ist hochgradig umstritten, eine allgemein anerkannte Definition gibt es nicht. In aller Regel bezeichnen sich Menschen nicht selbst als radikal. Radikal sind die Anderen, deren politische oder religiöse Ansichten „wir“ nicht teilen. Damit wird bereits die Grundlage für einen doppelten Radikalisierungsprozess geschaffen. Dadurch, dass ein wie auch immer zusammengesetztes „Wir“ eine andere Gruppe als radikal ausweist, ist ein Prozess in Gang gesetzt, der Zugehörigkeiten verteilt, gewährt oder vorenthält.
Dabei heißt radikal zunächst nur, „politische Probleme an der Wurzel zu packen“.
Die Beschränkung auf Gewalt ist jedoch verengt. Mit Blick auf etwaige Antiradikalisierungsstrategien setzt eine gewaltbasierte Definition beispielsweise in zeitlicher Hinsicht zu spät ein, denn radikal sind Menschen nicht erst, wenn sie zu Gewaltmitteln greifen. Ein breiterer und gesellschaftsbezogener Radikalisierungsbegriff ist demgegenüber zielführender: Radikalisierung ist dann „die zunehmende Infragestellung der Legitimation einer normativen Ordnung und/oder die zunehmende Bereitschaft, die institutionelle Struktur dieser Ordnung zu bekämpfen“.
Der Vorteil dieses Verständnisses von Radikalisierung ist, dass es Einstellungen und Handlungen erfasst und eine Unterscheidung zwischen Radikalisierung ohne Gewalt, einer Radikalisierung in die Gewalt und einer Radikalisierung in der Gewalt ermöglicht.
Radikalisierung ohne Gewalt beschreibt Akteure, die die normative Ordnung der Gesellschaft und ihre institutionelle Struktur infrage stellen, dabei aber gewaltfrei und im Rahmen des geltenden Rechtssystems vorgehen. Auf dieser Einstellungsebene umfasst Radikalisierung eine Empfänglichkeit für Feindbildkonstruktionen („Wir- vs. „Fremd“-Gruppe) und politische sowie religiöse Überlegenheitsideologien, ohne dass entsprechende Individuen deshalb automatisch einen Weg in den gewalttätigen Aktivismus einschlagen müssen. Gleichzeitig sind diese Einstellungen die notwendige Grundlage einer weitergehenden Radikalisierung.
Bei einer Radikalisierung in die Gewalt gehen Individuen oder Gruppen dazu über, ihre politischen oder religiösen Ziele mit der Duldung oder Anwendung von Gewalt durchzusetzen. Gewalt wird also als legitimes Mittel angesehen werden, um der jeweils gegnerischen Gruppe zu schaden.
In der Gewalt radikalisieren sich Menschen möglicherweise weiter: Gewalt wird zum gängigen Mittel, eigene Ziele durchzusetzen, es kommt zu einem dauerhaften Bruch mit gesetzlichen Normen und den politischen und religiösen Grundwerten der Gesellschaft. Die Gewaltmittel werden ausgeweitet und können von einer aktiven Teilnahme an Gewalthandlungen bis hin zur Selbstaufopferung in Selbstmordattentaten reichen.
Radikal = extremistisch?
Radikalisierte Menschen sind nicht automatisch extremistisch. Das liegt vor allem daran, dass Radikale die bestehende normative Ordnung nicht zwangsläufig beseitigen wollen. Extremisten wollen hingegen genau das. Ihr Ziel ist es nahezu immer, die bestehende normative Ordnung anzugreifen und im extremsten Fall zu stürzen. Der breite Radikalisierungsbegriff nimmt eine extremistische Haltung als möglichen Endpunkt der Entwicklung auf, ohne diesen Endpunkt als alternativlos zu setzen, denn: Menschen, die sich radikalisieren, werden nicht auf ein Fließband gestellt, das sie unweigerlich zur extremistischen Gewaltanwendung befördert. Der Prozess kann an jeder Stufe der Radikalisierung unterbrochen werden. Allerdings gibt es bestärkende und hemmende Prozesse auf dem Radikalisierungspfad.
Menschen, die sich radikalisieren, werden nicht auf ein Fließband gestellt, das sie unweigerlich zur extremistischen Gewaltanwendung befördert.
Warum radikalisieren sich Menschen? Und welche Rolle spielt Gewaltanwendung dabei?
Kein Mensch wacht morgens auf und ist plötzlich radikal. Zur Radikalisierung gehören individuelle und soziale Erfahrungen, ein strukturelles, gesellschaftliches und persönliches Umfeld und eine Erzählung vom Wünschenswerten – eine Ideologie oder Religion. Letztlich ist Radikalisierung aber immer das Ergebnis individueller Entscheidungen – strukturelle und gesellschaftliche Faktoren bringen nur dann eine Radikalisierung hervor, wenn sie individuelle psychologische Prozesse lostreten.
Auslöser für diese Prozesse ist meist ein sozialer oder individueller Bedeutungsverlust. Der Mensch hat den Eindruck, die Kontrolle zu verlieren. Das Gefühl, nicht selbst über sein Leben bestimmen zu können, marginalisiert, herumgeschubst, gemobbt, nicht ernst genommen oder als Person oder als Angehörige*r einer Gruppe nicht wahrgenommen zu werden, wird zur dominierenden Wahrnehmung der individuellen Lebenswelt. Diese Sicht auf sich und die Welt kann mitunter durch früh in der Sozialisation angelegte Einstellungs- und Persönlichkeitsmuster verstärkt werden.
Der gefühlte oder tatsächliche Bedeutungsverlust lässt sich mit Blick auf Radikalisierungsprozesse als
Eine Radikalisierung kommt selten allein
Auch die Referenz auf andere, abgelehnte Gruppen kann Radikalisierung bestärken. Man kann sich Radikalisierungsprozesse dann als Spirale vorstellen: Auf Grundlage gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, also Vorurteilen und abwertenden Einstellungen gegenüber Personengruppen, wird diesen die individuelle und gesellschaftliche Anerkennung verweigert. Das ruft auf Seiten der Ausgegrenzten das Bedürfnis nach Wiederherstellung von Anerkennung hervor. Ein solches Wechselverhältnis lässt sich in Europa beispielhaft zwischen Rechtsextremismus und Islamismus beobachten.
Die in Teilen erfolgreiche Diskursverschiebung der autoritären Rechten hat Vorurteile, Hass und Hetze gegen Migrant*innen befördert. Das wiederum hat in Teilen der migrantischen Communities die Attraktivität islamistischer Angebote gesteigert. So besehen ist Letzteres auch dem Umstand geschuldet, dass zwischen den Versprechen der Demokratie und den gesellschaftlichen Realitäten aufgrund von Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen sowie rassistischer Gewalt eine Lücke klafft. Anders gesagt: Diskriminierungserfahrungen fördern Radikalisierung, wenn die Diskriminierten mit radikalen Angeboten (Pull-Faktor) zur Wiederherstellung des beschädigten Selbstbildes in Kontakt kommen.
Das zeigt beispielhaft die deutschlandweite, repräsentative Bevölkerungsumfrage des vom BMBF geförderten Forschungsprojektes „Radikaler Islam vs. radikaler Anti-Islam“. In dieser gaben 2022 circa 30 Prozent der nicht-muslimischen Befragten an, sich durch „den Islam“ bedroht zu fühlen, circa 40 Prozent wollten dem Bedrohungsgefühl durch nationale Stärke begegnen und knapp die Hälfte ist dafür bereit, Einschränkungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung hinzunehmen. Zur Gewalt gegenüber Muslim*innen sind ungefähr 4 Prozent bereit. Auf der Seite der muslimischen Bevölkerung sorgen sich circa 40 Prozent vor Diskriminierung und rassistischer Gewalt. Diese Angst ist nicht aus der Luft gegriffen, rund 45 Prozent der befragten Muslim*innen geben an, bereits aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit diskriminiert worden zu sein. Als rechtsextrem (34 Prozent) oder als nicht-muslimisch Gelesene (41 Prozent) werden als größte Gruppen diskriminierender Personen genannt. Etwa 22 Prozent ziehen sich deshalb in ihre Glaubensgemeinschaft zurück, und 37 Prozent halten sich unter anderem deshalb strenger an muslimische Werte und Vorschriften. Circa 60 Prozent akzeptieren autokratische Beschränkungen der Demokratie und rund 11 Prozent wären bereit, zur Durchsetzung ihrer Interessen und Bedürfnisse Gewalt zu akzeptieren oder anzuwenden.
Die in Teilen erfolgreiche Diskursverschiebung der autoritären Rechten hat Vorurteile, Hass und Hetze gegen Migrant*innen befördert. Das wiederum hat in Teilen der migrantischen Communities die Attraktivität islamistischer Angebote gesteigert.
Dass Radikalisierungsprozesse sich gegenseitig verstärken (können), legt auch ein Blick auf die radikalen – und extremistischen – Gruppen nahe. Pläne rechtsextremer wie islamistischer Gruppen zeigen, dass terroristische Anschläge mit dem Ziel verübt werden sollten, Gegenangriffe zu provozieren, die ethnische, religiöse und ideologische Konflikte schüren und schließlich bürgerkriegsähnliche Zustände hervorrufen, in der Hoffnung, dadurch das demokratische System zum Einsturz zu bringen.
Bei allen wechselseitigen Feindseligkeiten besitzen rechtsextreme und islamistische Radikalisierungsprozesse also durchaus Gemeinsamkeiten: In Konfliktsituationen wird die Identifikation mit der Eigengruppe unterstrichen, während „die Anderen“ als Bedrohung inszeniert werden. Auf diese Weise werden die eigenen Reihen geschlossen. Hinzu kommt ein Überlegenheitsanspruch der Eigengruppe, durch den die Fremdgruppe unweigerlich abgewertet wird.
Das ist allerdings für plural ausgerichtete Gesellschaften toxisch, weil durch diese Dynamik die liberaldemokratische Anerkennung aller als Freie und Gleiche unterlaufen wird – und zwar in immer weiteren Kreisen.