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Der Arbeitsplatz geht, die Nationalität bleibt

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Wilhelm Heitmeyer, Tilo Jung2024

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Geschrieben von Tobias Müller

Bei te.ma veröffentlicht 16.05.2024

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/9tm1-k039

Geschrieben von Tobias Müller
Bei te.ma veröffentlicht 16.05.2024
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/9tm1-k039

Die AfD als rechtspopulistisch zu bezeichnen, geht laut dem Soziologen und Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer an der Sache vorbei. Ebensowenig zielführend sei es, ihre Anhänger*innen zu Protestwähler*innen zu erklären. Vielmehr hätten wir es mit einem „autoritären Nationalradikalismus“ zu tun. Dagegen würden auch keine Parteiverbote helfen. 

Heitmeyer gilt als einer der führenden Rechtsextremismusforscher Deutschlands. Seit Ende der 1980er-Jahre beschäftigt er sich aus soziologischer Perspektive mit extremistischen Überzeugungen. Zunächst lag sein Fokus auf Jugendlichen, dann auf Fußballfans und später nahm er zusammen mit Kolleg*innen die gesamte Bundesrepublik in den Blick. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen wurden zwischen 2002 und 2011 in insgesamt zehn Bänden unter dem Titel „Deutsche Zustände” veröffentlicht. Auf Gegenliebe ist das nicht immer gestoßen. Als „Störenfried“ sei er anfänglich wahrgenommen worden, so Heitmeyer im Podcast Jung und Naiv1, weil weite Teile der wissenschaftlichen und medialen Öffentlichkeit von rechtsextremen Einstellungen unter Jugendlichen nichts habe wissen wollen. Vielmehr hätte man sich in der bequemen Überzeugung eingerichtet, dass der Rechtsextremismus im wahrsten Sinne am Aussterben sei. Hätten die Altnazis erst einmal das Zeitliche gesegnet, so die damalige Haltung, dann würde mit ihnen auch die rechtsextreme Ideologie zu Grabe getragen. 

Auch die „Deutschen Zustände“ wollten zu Beginn der 2000er viele weit weniger düster wahrnehmen als die Forschungsergebnisse von Heitmeyer und Kolleg*innen es nahelegten. Das ging so weit, dass die Wochenzeitung Die Zeit die Befunde irgendwann nicht mehr veröffentlichen wollte. Der Grund? Heitmeyer und Co. schrieben die Gesellschaft „kaputt“. Er blieb trotzdem am Ball – und war vom Erfolg der AfD wenig überrascht. 

Was Guido Westerwelle und die AfD gemeinsam haben

Diesen Erfolg erklärt Heitmeyer vor allem mit dem, was er „rohe Bürgerlichkeit“ nennt. Damit ist eine „verachtende Haltung gegenüber Schwächeren” gemeint. Zum Ausdruck kommt diese Haltung in verschiedenen Formen „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit”, die „bestimmte Menschen von Gruppen als ungleichwertig begreift.”2 Zielscheibe dieser Ideologie seien in aller Regel marginalisierte Gruppen wie etwa Migrant*innen, Langzeitarbeitslose oder Homosexuelle. Die Verachtung von Minderheiten wird nicht ausschließlich vom rechtsextremen Rand der Gesellschaft in deren Mitte getragen. Vielmehr würde sie auch von der bürgerlichen Mitte befeuert. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist Guido Westerwelles Warnung vor der „spätrömischen Dekadenz“, die ein starker Sozialstaat befördern würde. Hiermit, so Heitmeyer, seien Langzeitarbeitslose zur Zielscheibe „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ geworden. 

Es sei vor allem die AfD, die von der rohen Bürgerlichkeit profitiere – auch wenn diese schon vor Gründung der Partei existiert habe. Anders als klassische rechtsextreme Parteien rufe die AfD nicht explizit zur Gewalt auf und wahre damit den Schein der Bürgerlichkeit, was sie für Menschen, die sich selbst als bürgerlich begreifen, wählbar mache. Ideologisch bedient sie die rohen Bürgerlichen, indem sie einen „autoritären Nationalradikalismus“ vertrete, der mit dem rohbürgerlichen Abwertungsbedürfnis zusammengehe, vor allem durch das nationalistische Element. Das ermöglicht die Identifizierung mit einem vermeintlich überlegenen deutschen Volk – und somit die Abwertung all jener, die vermeintlich nicht dazu gehören. Hinzu kommen die radikale Rhetorik eines angeblich notwendigen Systemwechsels und das autoritäre Versprechen auf Führung sowie einen hierarchisch strukturierten sozialen Raum.

Eine 5 in Mathe, ein Kreuz bei den Radikalen 

Dass das Bedürfnis nach (hierarchischer) Ordnung, starker bis autoritärer Führung und einem gegen andere gerichteten Nationalismus zugenommen hat, führt Heitmeyer vor allem auf einen „autoritären Kapitalismus“ zurück. Gemeint ist hiermit eine seit den 1980er-Jahren zu beobachtende Privatisierung und Deregulierung, im Zuge derer der öffentliche Raum zunehmend durch privatwirtschaftliche Akteure regiert werde. Weil der Nationalstaat Regulierungskompetenzen abgegeben habe, sei es zu Desintegrationsprozessen gekommen. Weder Einzelpersonen noch soziale Gruppen könnten sich ihres Status’ sicher sein, weil der soziale Raum in immer mehr Bereichen nicht mehr kollektiv gestaltet wird, sondern gemäß partikularer Interessen. Ein Beispiel unter vielen sei die Schulpolitik: Wenn die Schule primär ein Ort werde, der auf den Arbeitsmarkt vorbereiten soll, dann werde sie auf die Interessen der Wirtschaft ausgerichtet, etwa indem den MINT-Fächern besondere Bedeutung zugemessen werde. Für all jene junge Menschen, die auf diesem Feld nicht gut abschneiden, bedeutet dies einen Anerkennungsverlust und mittel- bis langfristig vermutlich auch einen Statusverlust. Heitmeyers Überlegung weiterführend lässt sich hinzufügen, dass sich die Präferenzen der privaten Akteure wandeln können. Um beim Beispiel zu bleiben: In zehn Jahren könnten statt der MINT- die musischen Fächer stark nachgefragt sein. Nun könnte der Status der MINT-Kohorte gefährdet sein. Unterm Strich bleibt ein permanentes Unsicherheitsgefühl in immer größeren Teilen der Gesellschaft.

Der autoritäre Nationalradikalismus begegnet diesem grundlegenden Gefühl in der „Abstiegsgesellschaft“3, indem er eine Basis schafft, auf die sich die in ihrem Status bedrohten Gruppen zurückziehen können (die Nationalität). Darüber hinaus verspricht er die Rückabwicklung des Kontrollverlustes, der mit dem autoritären Kapitalismus einherging (Systemwechsel, Ordnung, starke Führung). 

Der Attraktivität eines solchen Programms ist laut Heitmeyer nicht damit zu begegnen, dass die Angebotsseite eingestampft wird, etwa durch ein AfD-Verbot. Denn solange Unsicherheit und Desintegration den Horizont der bürgerlichen Erfahrungswelt bilden, bleibt die Suche nach sicheren Fundamenten, auf deren Grundlage sich Menschen anerkannt fühlen. Der Nationalismus bietet sich hierfür an, weil einem die Nationalität nicht genommen werden kann – selbst im Falle von Arbeitsplatzverlust und anderen Bedrohungen des sozioökonomischen Status’. Auch die Radikalisierung nationalistischer Überzeugungen lässt sich im Anschluss an Heitmeyer erklären. Gerade weil die Nationalität zu einer sicheren Insel für die eigene Selbstaufwertung geworden ist, soll sie möglichst exklusiv bleiben. Der Islam – und somit die Muslime – sollen demgemäß nicht zu Deutschland gehören. Es wird dann sogar vorstellbar, dass diejenigen, die bereits Teil der Gesellschaft geworden sind, wieder ausgeschlossen worden – Stichwort „Remigration“.  

Diesen Radikalisierungen, so Heitmeyer, werde man nicht nur dadurch begegnen können, dass die Nachfrage auf andere Weise befriedigt werde, indem politische Regulierungskompetenz zurückerkämpft und dem autoritären Kapitalismus Einhalt geboten werde. 


Fußnoten
3

Tilo Jung, Wilhelm Heitmeyer: Soziologe Wilhelm Heitmeyer über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In: jung-naiv.podigee.io, 25.4.2024, abgerufen am 15.5.2024.

Christoph David Piorkowsk, Wilhelm Heitmeyer: „Autoritärer Nationalradikalismus. Über Hintergründe des Umfragehochs der AfD im Juni 2023“. In: Deutschland Archiv, 15.07.2023, abgerufen am 14.5.2024.

Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Suhrkamp, Berlin 2016.

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