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Ostdeutschland – anders, aber nicht unbedingt radikal

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Steffen Mau2024
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Ostdeutschland – anders, aber nicht unbedingt radikal

»Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt«

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Geschrieben von Tobias Müller

Bei te.ma veröffentlicht 17.07.2024

te.ma DOI https://doi.org/10.57964/6ctm-eq64

Geschrieben von Tobias Müller
Bei te.ma veröffentlicht 17.07.2024
te.ma DOI https://doi.org/10.57964/6ctm-eq64

Nicht wenigen erscheinen die anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg als Schicksalswahlen. In jedem Fall stehen sie unter gesonderter Beobachtung. Das liegt vor allem am Umfragehoch der AfD, die in Ostdeutschland besonders erfolgreich ist. Auch deswegen fragt der Soziologe Steffen Mau nach etwaigen ostdeutschen Eigenheiten. Ergebnis? Der Osten ist anders und wird anders bleiben – was aber kein Problem sein muss.

Probleme bereitet aber bereits das Sprechen über den Osten. Denn natürlich, so Mau, ist Ostdeutschland kein einheitliches Gebilde. Thüringen ist nicht Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg nicht Sachsen und Sachsen-Anhalt ganz sicher nicht Ost-Berlin. Trotz der Gefahren, die die Rede vom Osten mit sich bringe, könne man die Augen vor den bestehenden Gemeinsamkeiten aber nicht verschließen. Blicke man auf eine Vielzahl von Indikatoren – von den Erwerbsquoten und der Vereinsdichte über den Anteil von Menschen mit Migrationsbiographie bis hin zum Erbschaftsteueraufkommen und der Kaufkraft –, dann durchziehe die Bundesrepublik eine „Phantomgrenze“1, die die alten von den neuen Bundesländern trenne, auch nach über 30 Jahren nach der Wiedervereinigung. So würden beispielsweise nur zwei Prozent der gesamten Erbschaftsteuer in Ostdeutschland bezahlt und nur sieben Prozent der über 25000 Stiftungen, die in den Bereichen Bildung, Kultur oder Wissenschaft aktiv sind, sitzen zwischen dem Erzgebirge und Kap Arkona.

Das alles ist bekannt, wenn auch möglicherweise nach wie vor zu wenig thematisiert. Mau hält sich aber nicht bei den soziodemographischen Markern auf, sondern bohrt tiefer. Offensichtlich werden dabei Pfadabhängigkeiten, die Mau zur „These sich verstetigender Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland“ veranlassen.2 Von besonderem Interesse sind – auch vor dem Hintergrund der anstehenden Landtagswahlen – Unterschiede in der politischen Kultur. 

2021 hatte der damalige Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Marco Wanderwitz, kurz vor der sachsen-anhaltinischen Landtagswahl medienwirksam von teilweise „diktatursozialisiert[en]“ Ostdeutschen gesprochen, die „auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen“ seien. Für Mau greift die in dieser Aussage mitschwingende These von ostdeutschen Demokratieverächter*innen zu kurz. Seiner Ansicht nach ist es präziser, „von einem nur schwachen Einwurzeln der Parteiendemokratie oder von einer Parteienpolitikverdrossenheit zu sprechen.“3 Die Konsequenz dieser schwachen Verankerung der Parteiendemokratie sei nichtkonventionelle Partizipation. Statt über Parteien und Wahlen auf die Verhältnisse einzuwirken, werde auf Protestmärsche und Sitzblockaden gesetzt. Das, so Mau, befördere ein Demokratieverständnis, in dem mehr eingefordert und weniger mitgewirkt werde, kurz: „eine Demokratie der Lauten.“4

Die Ursache des unterschiedlichen Partizipationsverhaltens in Ostdeutschland, so Mau, sei in der DDR zu suchen. Hier seien das „Sich-Versammeln auf Plätzen, der politische Spaziergang oder das Hochhalten von Transparenten [...] gewissermaßen die Urformen der Mitwirkung“ gewesen. Weil es wenige andere Möglichkeiten der Artikulation gab – ein plurales Parteiensystem existierte bekanntlich nicht –, griffen die Bürger*innen zu diesen Formen. Die seien genauso geblieben wie „Institutionendistanz und Politikskepsis“.5

Hinzu komme, so Mau, eine „Veränderungsmüdigkeit“.6 Nachdem bereits einmal die Erfahrung einer radikalen Systemtransformation gemacht wurde, wollten viele Ostdeutsche von neuen Zumutungen – sei es in Folge des Klimawandels oder einer diverser werdenden Gesellschaft – verschont bleiben. Dass sich das mit den tatsächlich notwendigen Zumutungen schlecht verträgt, weiß auch Mau. Statt jenen das Feld zu überlassen, die versprechen, dass alles so bleiben kann, wie es ist – die Welt sich also nach den „Kontinuitätsbedürfnissen“7 der Unzufriedenen zu richten habe –, plädiert Mau dafür, Ostdeutschland zu einem „Labor der Partizipation“8 zu machen.

Vom Runden Tisch in den Bürgerrat

Das sei erfolgversprechender als der eindimensionalen Klage über ein vermeintliches Demokratiedefizit mit dem immer gleichen Werkzeugkasten begegnen zu wollen, also „besser zuhören, politische Bildung, Anerkennung der Lebensleistungen, mehr Sozialtransfers etc.“9 Erkenne man an, dass sich in Ostdeutschland eine eigene politische Kultur ausgebildet habe, die noch lange bestehen werde, dann sei ein „‚Weiter-so‘ riskant“10, denn mit einer (Wieder-)Belebung der Parteiendemokratie könne schlicht nicht gerechnet werden. Stattdessen, so Mau, könne ein Vorschlag Abhilfe schaffen, der schon seit längerem in der demokratietheoretischen Debatte zirkuliert: Bürgerräte. Sie sollen die parlamentarische Demokratie ergänzen. Angesichts der vergleichsweise geringen Resonanz, die etwa der Bürgerrat Ernährung hervorgerufen hat, mag das bei Vielen nur ein müdes Lächeln hervorrufen, was auch Steffen Mau bewusst ist. Allerdings, so Mau, stünden die kritischen Stimmen dann zum einen ihrerseits in der Pflicht, angesichts der empirischen Befunde zu Parteienpolitikverdrossenheit, Institutionendistanz und Politikskepsis, Alternativvorschläge zu unterbreiten. Und zum anderen hätten Forschungen, an denen er selbst beteiligt war, gezeigt, dass Bürgerräte Effekte haben. So hätten sich radikale Positionen einhegen und Lernprozesse beobachten lassen. Für die neuen Bundesländer sei  zudem relevant, dass „Bürgerräte im Osten an Erfahrungen mit Runden Tischen und Bürgerdialogen anknüpfen könnten, die bei den meisten Ostdeutschen mit positiven Erinnerungen an politische Selbstwirksamkeit verbunden sind.“11 

Ob solche Bürgerräte Flüssiggasterminals vor Rügen, das Tesla-Werk in Grünheide oder die Nutzung des Tempelhofer Felds anders beurteilt hätten, weiß auch Mau nicht. Er hat aber die – durchaus begründete – Hoffnung, dass sie dem in Ostdeutschland weit verbreiteten politischen Ohnmachtsgefühl entgegenwirken könnten.

Fußnoten
11

Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. Suhrkamp, Berlin 2024, ISBN 978-3-518-02989-3, S. 18.

Ebd. S. 13.

Ebd. S. 93.

Ebd. S. 96.

Ebd. S. 103.

Ebd.

Ebd. S. 104.

Ebd. S. 125.

Ebd. S. 129.

Ebd. S. 132.

Ebd. S. 145.

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Diskussionen
2 Kommentare
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Ich habe das Buch wie auch die “Triggerpunkte” mit Interesse gelesen. Beim Lesen beschlich mich aber immer wieder ein Gedanke: Steffen Mau läuft der Entwicklung hinterher. Was 2015 mit den Bürgerräten vielleicht noch funktioniert hätte, erscheint heute eher als Wunschvorstellung. Die Radikalisierung hat mittlerweise ein Niveau an Wut, Lügen, Destruktion und auch an direkter Gewalt erreicht, das nur noch erschreckend ist.
Dass dies von interessierter Seite angefacht wird, ist ja noch nachvollziehbar. Das aber relativ breite Schichten der Bevölkerung dafür empfänglich sind, ist für mich nicht nachvollziehbar. Dabei geht es diesen Menschen überwiegend gut. Vor einem schicken kleinen Häuschen auf dem Dorf stehen relativ teure Autos.
Aber der Hass auf Grüne und Geflüchtete ist grenzenlos und sie wollen eine Diktatur. Wie lässt sich die Entwicklung zurückdrehen?

Total 1

Ich denke auch, dass Maus Blick auf die gegenwärtige politische Großwetterlage etwas zu optimistisch ist. Allerdings muss man ihm natürlich zugutehalten, dass seine Argumentation auf empirischer Evidenz fußt und damit deutlich mehr ist als Meinung am Rande des Wunschdenkens.

Der zentrale Befund aus Triggerpunkte lautete ja, dass die Gesellschaft nicht ansatzweise so polarisiert sei, wie dies gemeinhin angenommen wird. Und mit Blick auf die Panel-Befragungen lässt sich das schlechterdings nicht von der Hand weisen. Allerdings erschienen mir die Gruppendiskussionen, die das zweite Fundament der Untersuchung waren, deutlich hitziger gewesen zu sein, als die Umfragedaten es hätten vermuten lassen. Das mag etwas mit sozialer Erwünschtheit im Antwortverhalten zu tun haben, die in Umfragen in der Regel stärker durchschlägt.

So oder so: Was ich Mau ohne Umstände lassen würde, ist die offensiv kommunizierte Haltung, der gemäß Kritikerinnen seines Vorschlags ihrerseits mit konstruktiven Vorschlägen aufwarten müssten, statt sich wahlweise in Resignation oder Zynismus zu suhlen. Eine derart engagierte Sozialwissenschaft ist wünschenswert, unabhängig davon, ob ich jeden Vorschlag kaufe.

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