Adrián Bonilla betont, dass er das folgende Interview in seiner Funktion als Professor für Internationale Beziehungen führt. Das Gespräch gibt daher weder den Standpunkt der Mitarbeiter der EU-Lateinamerika-Stiftung noch den der Stiftung selbst wieder.
Die Fragen stellte Alexandra Sitenko, Gastkuratorin des Kanals „Umbruch | Krieg | Europa“.
Alexandra Sitenko: Herr Bonilla, ein Jahr nach dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine sind wir Zeugen weltweiter Veränderungen, bei denen der Globale Süden eine zunehmend wichtige Rolle zu spielen scheint. Wie würden Sie die Position des Globalen Südens in diesem Konflikt einordnen?
Adrián Bonilla: Ich glaube, dass wir aktuell eine globale politische Neuordnung erleben, die sich jedoch noch nicht institutionell ausgestaltet hat. Denn die Regeln der internationalen Ordnung, die wir heute haben, haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert. Die internationalen Organisationen, der Multilateralismus und seine verschiedenen Ausprägungen der letzten Jahre sind das Ergebnis jener Episode der Geschichte. Die Welt des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts und des Jahres 2023 ähnelt jedoch nicht jener des Jahres 1945, weder in wirtschaftlicher noch in demographischer Hinsicht. Auch die globalen Probleme sind andere.
Es gibt dennoch eine anhaltende Dynamik in der Art und Weise, wie sich verschiedene Staaten in dieser Ordnung positionieren. In Lateinamerika und der Karibik gibt es beispielsweise Ökonomien mit einem hohen Grad an Industrialisierung und andere, die auf dem Export von Primärgütern basieren. Die Hälfte des BIP der Region wird in Volkswirtschaften mit geschützten Märkten erwirtschaftet, wie z.B. Brasilien, Argentinien, Ecuador, die andere Hälfte in Wirtschaften mit offenen Märkten wie Chile, Costa Rica, Mexiko. In dieser internationalen Ordnung hängen die Interessen der Staaten nach wie vor davon ab, welchen Platz sie in der Globalisierung einnehmen. Obwohl man sagen kann, dass es eine globale Gesellschaft gibt, die weniger segmentiert und in ihren verschiedenen Dimensionen viel stärker artikuliert ist als 1945, hat das Verhalten einzelner Staaten Auswirkungen auf die Wirtschaft, auf die Produktion, auf das Finanzwesen.
AS: Was genau bezeichnet unter diesen Bedingungen der Begriff des „Globalen Südens“?
AB: Die Bezeichnung „Globaler Süden“ wird auf sehr viele Staaten angewendet, die jedoch nicht notwendigerweise als ein homogener politischer Block agieren. Man muss hier außerdem zwischen Gesellschaften und Staaten unterscheiden. Wenn wir von Gesellschaften des Globalen Südens sprechen, meinen wir diejenigen, die nicht Teil des industriellen, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Machtzentrums des Nordatlantiks sind. Sie sind aber auch nicht Teil des industriellen, politischen und militärischen Zentrums der asiatisch-pazifischen Region, zu der wir China und Indien zählen müssen. Wovon reden wir dann eigentlich, wenn wir über den Globalen Süden sprechen? Sprechen wir vielleicht über die Länder Zentralasiens, Afrikas, alle Länder Lateinamerikas und der Karibik? Ist China Teil des Globalen Südens oder nicht? Aus der Sicht einiger chinesischer Publikationen ist China auch Teil des Globalen Südens. Gleichzeitig ist China die zweitgrößte und eine der am schnellsten wachsenden Wirtschaften der Welt. Gemessen an der Truppenstärke verfügt das Land über die größte Militärmacht der Welt und hat wahrscheinlich die am stärksten industrialisierte Gesellschaft auf dem Planeten. Inwiefern ist das beispielsweise mit Honduras vergleichbar?
Der Begriff Globaler Süden bezeichnet eine Gruppe von Gesellschaften und Staaten, die sehr heterogen ist und für die es noch kein klares Konzept gibt.
Der Begriff Globaler Süden bezeichnet also eine Gruppe von Gesellschaften und Staaten, die sehr heterogen ist und für die es noch kein klares Konzept gibt. Wir können nur ein Bild oder eine Metapher für einen Staatenblock oder einen Weltteil konstruieren.
AS: Bleiben wir kurz beim Globalen Süden als Metapher für die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas: Waren Sie von der Reaktion der Länder auf den militärischen Konflikt in Europa überrascht?
AB: Nein. Alle Länder mit Volkswirtschaften, die weniger wettbewerbsfähig sind, die Rohstoffe und Primärgüter produzieren und in denen die
AS: Warum nicht?
AB: Weil Sanktionen aus der Sicht vieler dieser Länder keine Instrumente zur Lösung von Problemen sind. In Lateinamerika haben wir Erfahrungen mit Sanktionen gemacht, die nicht zum gewünschten Ergebnis geführt haben. Sie haben die Lebensbedingungen der Menschen verschlechtert, aber die Kapazitäten oder die Stabilität der Regierungen, gegen die sie verhängt wurden, nicht untergraben. In diesem Sinne waren sie unwirksam.
In Lateinamerika haben wir Erfahrungen mit Sanktionen gemacht, die nicht zum gewünschten Ergebnis geführt haben.
Außerdem sind alle Länder potenziell anfällig für Sanktionen und keiner will irgendwann davon betroffen sein. Darüber hinaus, wie könnte Lateinamerika überhaupt Russland sanktionieren, mit dem nur begrenzte wirtschaftliche Beziehungen bestehen? In diesen Beziehungen sind lateinamerikanische Importe russischer Waren wichtiger als der Export von Produkten nach Russland. Sollen wir Russland sanktionieren, indem wir den Export von Erdbeeren, Blumen und Soja einstellen? Wir sind keine Ökonomien, die sich das leisten können. Umso weniger können sich das afrikanische oder zentralasiatische Wirtschaften leisten, denn sie sind näher am Konflikt und haben stärkere ökonomische Interdependenzen mit Russland.
Die Tatsache, dass lateinamerikanische Länder in der Sanktionspolitik nicht mit dem Westen mitziehen, bedeutet jedoch nicht, dass sie eine anti-europäische oder anti-amerikanische Politik betreiben – außer im Fall der Länder, die bereits vorher unfreundliche Beziehungen zu den Vereinigten Staaten hatten.
AS: Die lateinamerikanischen Länder sind geografisch zwar weiter von diesem Konflikt entfernt. Dennoch ist der Krieg in der Ukraine ein regionaler Konflikt mit globalen Auswirkungen. Wie machen sich die Konsequenzen des Krieges in Lateinamerika bemerkbar?
AB: Die Auswirkungen sind insofern spürbar, als die lateinamerikanischen Märkte sich nicht erholen konnten. Die Preise für lateinamerikanische Exporte sinken weiter, weil die globalen Wirtschaftszentren unter den Folgen des Konflikts leiden. In Europa und den Vereinigten Staaten haben wir eine konstant hohe Inflation. Diese Krise ist zwar nicht so schlimm wie die Globale Finanzkrise von 2008, die in Europa und den Vereinigten Staaten eine fast zehnjährige Rezession auslöste. Aber dennoch ist die wirtschaftliche Kapazität dieser beiden Finanzzentren eingeschränkt. Ähnlich gilt dies auch für China. Die lateinamerikanischen Ökonomien spüren die Konsequenzen des weltweiten Abschwungs, der zunächst durch die Pandemie ausgelöst und dann durch den Krieg in der Ukraine fortgesetzt wurde.
AS: Sie selbst stammen aus Ecuador. Wie wird dieser Krieg dort diskutiert und empfunden?
AB: Der Krieg wird als besorgniserregend empfunden, als ein geopolitischer Konflikt, der die Welt neu ordnet. Allerdings wird er nicht als etwas Unmittelbares gesehen, das die Notwendigkeit für den ecuadorianischen Staat implizieren würde, diesbezüglich irgendwelche Maßnahmen zu treffen. Denn es liegt auf der Hand, dass Entscheidungen der ecuadorianischen Regierung keinerlei Einfluss auf den Kriegsverlauf in der Ukraine haben würden. Weder Honduras noch Paraguay noch andere lateinamerikanische Länder können diesen beeinflussen. Es gibt Initiativen wie die brasilianische, die angesichts der Größe Brasiliens Sinn machen. Sie könnten eventuell eine Rolle bei der Aufnahme von Verhandlungen spielen. Aber ich glaube nicht, dass die lateinamerikanischen Länder darüber hinaus eine Rolle in diesem Konflikt spielen können.
AS: Vor Kurzem haben sechs afrikanische Staaten ihre Dienste als Vermittler in diesem Konflikt angeboten und sich mit Putin und Selenskyj getroffen. Sind zukünftig mehr solcher Initiativen auch von lateinamerikanischen Staaten denkbar?
AB: Der brasilianische Vorschlag wird von der kolumbianischen Regierung ausdrücklich unterstützt und wurde auch mit der mexikanischen Regierung abgestimmt. Alle Regierungen der Region, unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung, sind sich darin einig, dass dieser Konflikt beendet werden muss. Und es besteht die Überzeugung, dass der Konflikt nicht mit militärischen Mitteln, sondern durch Verhandlungen schnell beendet werden kann. Doch über die Bereitschaft zur Vermittlung hinaus müssen die Konfliktparteien die Möglichkeit von Verhandlungen zulassen. Und im Moment gibt es, abgesehen von der Rhetorik, keine Anzeichen in diese Richtung.
AS: Es ist bemerkenswert, dass die ecuadorianische Regierung eine der wenigen in der Region war, die die Invasion klar verurteilt hat.
AB: Sie alle haben Russland in der UN verurteilt. Mit Ausnahme von Kuba, Nicaragua und Venezuela, die schon vor dem Konflikt enge Beziehungen zu Russland hatten.
AS: Das stimmt. Schaut man allerdings auf die offiziellen Erklärungen der einzelnen Regierungen, zum Beispiel in den sozialen Medien, fällt auf, dass die meisten Länder lediglich den Krieg bedauerten und die Notwendigkeit einer politischen Lösung betonten, während Chile und Ecuador von einer Aggression Russlands sprachen und diese verurteilten. Wie ist das zu erklären? Seit 2009 hatte Ecuador sehr gute Beziehungen zu Russland und sogar eine strategische Partnerschaft. Quito war einer der engsten Partner Russlands in der Region.
AB: Im Falle Ecuadors könnte dies durch zwei Gründe erklärt werden: erstens, die außenpolitischen Übereinstimmungen zwischen der Regierung des Präsidenten Guillermo Lasso und der US-Politik. Ein weiterer Grund ist, dass es in Ecuador eine tief verwurzelte Tradition gibt, die mit dem in den 1990er Jahren beigelegten
Insgesamt sind die Reaktionen der Regierungen von Land zu Land unterschiedlich stark, aber die Position Lateinamerikas dennoch einheitlich: Lateinamerika will und wird sich an dem Konflikt nicht zugunsten einer der beiden Seiten beteiligen, auch wenn es Territorialgewinne durch Gewaltanwendung für nicht zulässig hält.
AS: Die Beziehungen zwischen Ecuador und Russland waren in den vergangenen Jahren sehr eng. Hat der Einmarsch Russlands in der Ukraine und die Reaktion Ecuadors diese Dynamik verändert?
AB: Es gibt meines Wissens keine Maßnahmen der ecuadorianischen Regierung, russische Importe zu beschränken. Und es gibt immer noch die gleichen Bemühungen, die Produkte zu verkaufen, die Russland konsumiert, nämlich tropische Früchte und Blumen. Sollten die ecuadorianischen Exporte zurückgegangen sein, dann nicht aus politischen Gründen, sondern wegen der Marktschrumpfung.
AS: Es wird derzeit viel über die Notwendigkeit einer neuen globalen Sicherheitsarchitektur gesprochen. Welchen Platz sehen Sie für Lateinamerika in dieser neuen Ordnung?
AB: Seit den 1960er Jahren beharrt Lateinamerika auf einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Die beiden größten Volkswirtschaften der Region, Mexiko und Brasilien, sind Kandidaten, um diesen Sitz zu bekommen. Brasilien hat sich seit Jahren darum bemüht. Das gehört zu den Forderungen der Region. Auf der anderen Seite hat sich die lateinamerikanische Außenpolitik traditionell für eine Demokratisierung des UN-Systems und gegen einen Sicherheitsrat mit ständigen Veto-Mitgliedern ausgesprochen. Für Lateinamerika war die Forderung der Demokratisierung immer mit der Idee „ein Staat – eine Stimme“ verbunden.
AS: Könnten lateinamerikanische Regionalorganisationen eine relevante Rolle in der internationalen Politik spielen?
AB: Generell ist der Multilateralismus in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten stark ausgehöhlt worden. Die älteste Organisation des interamerikanischen Systems, die
AS: Welchen Platz sollte die EU aus Sicht Ecuadors und Lateinamerikas in der globalen Sicherheitsarchitektur einnehmen?
AB: Die Rolle der EU sollte sich nicht auf die Sicherheitsarchitektur beschränken. Die Länder Lateinamerikas und der Karibik streben eine Diversifizierung ihrer Optionen in den internationalen Beziehungen an. In diesem Sinne wird von der EU erwartet, dass sie sich als eigenständig präsentiert und eine zusätzliche Möglichkeit für Beziehungen neben den USA und China darstellt, um Handel, Infrastruktur und Investitionen sowie die Zusammenarbeit bei der Bewältigung globaler Probleme wie Klimawandel oder grenzüberschreitender Kriminalität voranzutreiben. Die EU ist jedoch kein Staat und daher sind die bilateralen Beziehungen zu ihren Mitgliedern weiterhin entscheidend.
Von der EU wird erwartet, dass sie sich als eigenständig präsentiert und eine zusätzliche Möglichkeit für Beziehungen neben den USA und China darstellt.
In Bezug auf die globale Sicherheit, insbesondere in Verteidigungsfragen, ist sie in der Nato engagiert, aber kein lateinamerikanisches oder karibisches Land erwägt, einem solchen Bündnis mit der EU oder einem anderen Staat beizutreten. Noch erwägen die Länder der Region, die Sicherheitsagenda anderer internationaler Blöcke zu übernehmen. In dieser Hinsicht gibt es keine anderen Erwartungen an die EU als die traditionellen der lateinamerikanischen Region: eine Politik, die die friedliche Beilegung von Streitigkeiten, die Denuklearisierung und die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie die Selbstbestimmung und die Souveränität der Staaten unterstützt.
AS: Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Rede auf dem Global Solutions Summit in Berlin am 15. Mai 2023 gesagt, dass die Länder des Globalen Südens eine Repräsentation auf Augenhöhe und ein Ende der westlichen Doppelmoral erwarten. Wie ordnen Sie diese Aussage ein?
AB: Er bezieht sich vermutlich auf den unterschiedlichen Umgang des Westens mit gewaltsamen Konflikten in der Welt, zum Beispiel den Konflikt zwischen Israel und Palästina und die Art und Weise, wie mit diesem Konflikt vonseiten der Regierungen im Nahen Osten umgegangen wird. In Afrika und anderen Teilen der Welt sind Krisen und Gewalt allgegenwärtig, aber die mediale Darstellung der einzelnen Konflikte ist unterschiedlich intensiv. Alle Konflikte und Massaker, nicht nur die in der Ukraine, sind jedoch gleichermaßen verwerflich. Gleichzeitig kann man die Gewalt in einem Teil der Welt nicht dadurch rechtfertigen, dass es sie auch woanders gibt. Es gibt jedoch keine Konsistenz beim Umgang mit ähnlichen Phänomenen in verschiedenen Teilen der Welt.
AS: Wenn wir über eine gerechte Weltordnung sprechen, was wären ihre zentralen Pfeiler aus lateinamerikanischer Sicht?
AB: Aus lateinamerikanischer Sicht geht es um einen fairen wirtschaftlichen Austausch, symmetrische Handelsbedingungen zwischen Regionen mit unterschiedlichen Produktionsschwerpunkten, relativ demokratische Marktkontrollen mit Zugang zu Entscheidungsprozessen. In erster Linie geht es um eine gerechte Welt im Hinblick auf den wirtschaftlichen Austausch, die es den ärmsten Ländern ermöglicht, sich zu entwickeln und zu wachsen. Im Umweltbereich geht es darum, eine differenzierte Verantwortung für den Klimawandel zu übernehmen. Nehmen wir zum Beispiel die Kohlendioxidbelastung. Lateinamerika setzt wenig Kohlendioxid frei, gemessen an seiner Bevölkerungszahl, und weitaus weniger Kohlendioxid als die Vereinigten Staaten oder Europa, gemessen an der Demografie seiner Bevölkerung. Eine gerechte Weltordnung würde daher eine differenzierte Verantwortung für die Ursachen des wichtigsten Naturphänomens, des Klimawandels, bedeuten. Und sie würde auch eine internationale Ordnung bedeuten, die auf Regeln beruht, die Demokratie, Symmetrie in den internationalen Beziehungen und Zugang zu globalen Entscheidungsprozessen für alle gewährleistet.