Bei diesem Krieg gibt es nur Verlierer

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Samuel Charap, Timothy J. Colton2017

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Geschrieben von Alexandra Sitenko

Bei te.ma veröffentlicht 30.01.2023

te.ma DOI 10.57964/n5gs-n364

Geschrieben von Alexandra Sitenko
Bei te.ma veröffentlicht 30.01.2023
te.ma DOI 10.57964/n5gs-n364

Das 2017 veröffentlichte Buch von Samuel Charap und Timothy J. Colton zeichnet die regionalen und globalen Ursprünge der Ukraine-Krise nach, die in den Ukraine-Krieg im Februar 2022 mündeten. Die Autoren argumentieren, dass die Krise von 2014 zu einem Ergebnis geführt hat, bei dem alle involvierten Parteien an Boden verloren haben und sich die internationale Sicherheitsordnung insgesamt destabilisiert  hat. Dieses Negativsummenspiel sei das Ergebnis einer jahrelangen Nullsummenpolitik Russlands und des Westens im postsowjetischen Eurasien.

Zwei Erklärungsmuster dominieren die Debatte rund um die Ukraine-Krise und den Ausbruch des Krieges am 24.02.2022. Das erste geht davon aus, dass Russland eine imperialistische Außenpolitik betreibt und die Existenz eines unabhängigen ukrainischen Staates nie anerkannt hat. Die zweite Hypothese, deren prominenter Vertreter der US-Politikwissenschaftler John Mearsheimer ist, sieht die Verantwortung in erster Linie beim Westen und seiner unbedachten Politik gegenüber postsowjetischen Staaten. Keiner der beiden Ansätze besitze vollständige kausale Erklärungskraft – so die Ausgangsthese von Charap und Colton, die sich allerdings vor allem auf die Ereignisse von 2014 bezieht. 

Die zentrale Behauptung ihres Buches ist, dass die Nullsummenpolitik Russlands, der USA und der EU zu einem negativen Ergebnis für alle Beteiligten1 geführt hat. Diese Politik hat sich in den ersten anderthalb Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges langsam herausgebildet und nach 2004 dramatisch verschärft. Russland und der Westen verfolgten gegenüber den Staaten des postsowjetischen Eurasiens eine Politik, die darauf abzielte, auf Kosten der anderen Seite Gewinne zu erzielen, ohne überschneidende oder gemeinsame Interessen zu berücksichtigen. Keiner der Akteure unternahm ernsthafte Anstrengungen, eine kooperative regionale Ordnung zu entwerfen oder auch nur in Erwägung zu ziehen.

Die Ukraine-Krise ist in der Sichtweise der Autoren also das Produkt eines sich selbst verstärkenden feindseligen Verhaltens im postsowjetischen Teil Eurasiens. Die multidimensionalen Rivalitäten, die sich dort abspielten, umfassen nach den Autoren drei „Geos”, die von Staaten und Staatenblöcken verfolgt wurden: Geopolitik, Geoökonomie und Geo-Ideen.

Das Buch beginnt mit der Untersuchung des Zeitraums vom Ende der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre. In jener Phase seien viele Gelegenheiten verpasst worden, die bisherigen Trennlinien aus dem Kalten Krieg auf dem europäischen Kontinent zu beseitigen. Was wir heute erlebten, seien die Folgen dieser seit 1989 unerledigten diplomatischen Aufgaben.

Die damals erzielte politische Lösung basierte auf einem sogenannten vorgefertigten Wandel – einer Methodik, die auf der mechanischen Ausweitung bestehender Formeln und Strukturen beruht, statt auf der Aushandlung von für alle Seiten akzeptablen Lösungen2. Anstatt sich also Gedanken über eine neue Friedens- und Sicherheitsarchitektur zu machen, in die die ehemaligen Ostblockstaaten zusammen mit Russland harmonisch integriert werden könnten, wurde das Modell gewählt, bereits bestehende westliche Strukturen wie Nato und EU gen Osteuropa auszuweiten. 

Das geschah, obwohl Moskau durchaus Gegenvorschläge einbrachte, wie zum Beispiel das Gemeinsame Haus Europa oder die Finnlandisierung. Gorbatschows Ideen waren laut Charap und Colton jedoch unausgegoren, wurden unter Zeitdruck entworfen und schließlich verworfen. Eine Folge des umgesetzten institutionellen Konzepts des Westens war, dass Russland, obgleich unbeabsichtigt, an die europäische Peripherie gerückt wurde. 

Doch auch wenn das Fehlen einer umfassenden globalen Sicherheitsarchitektur für die Zeit nach dem Kalten Krieg eine Voraussetzung für die Ukraine-Krise war, hätte dieser ruinöse Ausgang sogar verhindert werden können, wenn die Grundlagen der europäischen Regionalordnung intensiver überdacht worden wären. Es war laut den Autoren der Streit um die sogenannten „In-Betweens”, also die Gebiete zwischen Russland und der Europäischen Union, der die Spannungen außer Kontrolle geraten ließ und zur Eskalation in der Ukraine führte.

Die Entwicklung dieser „In-Betweens” verlief wechselhaft, da jene zumeist Russland gegen den Westen ausspielten, u.a. weil sie Moskaus harter und weicher Macht verstärkt ausgesetzt waren und diese auszubalancieren versuchten.3 All dies führte zu einem fragilen Gleichgewicht. Die Situation verschlechterte sich nach den Farbrevolutionen, insbesondere der ukrainischen im Jahr 2004. In Moskau war man sich, so die Sichtweise der Autoren, darüber einig, dass die westlichen Staaten, allen voran die USA, Farbrevolutionen im postsowjetischen Eurasien schürten, um einen Regime change wie etwa im Irak zu erreichen.4 Die Innenpolitik in der gesamten Region wurde in der Folge zu einem Schauplatz der Rivalität zwischen Russland und dem Westen in Form eines Drei-Fronten-Wettbewerbs in den Bereichen Geopolitik, Geoökonomie und Geo-Ideen.

Zurecht weisen die Autoren darauf hin, dass es zwischen 2009 und 2014 eine mehrjährige Phase gab, in der diese Nullsummenpolitik etwas abnahm. Es ergaben sich sogar Gelegenheiten für den Aufbau einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen. Beispielsweise hatte die Kooperation zwischen Moskau und Washington einen wichtigen stabilisierenden Effekt in der politischen Krise in Kirgisistan im Jahr 2010. Der Grundkonflikt um die regionale Ordnung wurde jedoch nicht angegangen. Und so entflammte dieser erneut in der Ukraine im Jahr 2014 und führte schließlich in den Ukraine-Krieg acht Jahre später. 

Das Buch vermittelt an mehreren Stellen die Einschätzung, dass das mangelnde Entgegenkommen des Westens gegenüber Russland das verhängnisvolle Nullsummenspiel erheblich befördert hätte. Es wird etwa betont, dass es keine richtigen Verhandlungen mit Russland über den Prozess der Nato-Erweiterung gegeben habe. Angesichts des unprovozierten Überfalls Russlands auf die Ukraine am 24.02.2022 darf allerdings rückblickend hinterfragt werden, ob ein anderes Handeln des Westens tatsächlich entscheidend gewesen wäre, um diese Entwicklung zu verhindern. Darüber hinaus hat Russland selbst bereits 1995 unmissverständlich erklärt, dass das Territorium der GUS-Länder „in erster Linie ein Gebiet von russischem Interesse ist.” 

Um den ruinösen geostrategischen Wettbewerb zu entschärfen und die Russland-West-Konfrontation zu beenden, sei es notwendig, das Tabu eines ergebnisoffenen, vorurteilsfreien Dialogs über die regionale Ordnung zu brechen. Damit dies gelinge, müssten alle Parteien ihre maximalistischen Ziele zurückschrauben und zu Kompromissen bereit sein. Im Lichte der neuesten Ereignisse und angesichts der aktuell unüberbrückbaren Differenzen ist allerdings fraglich, ob dieser vor sechs Jahren geäußerte Vorschlag in naher Zukunft umsetzbar ist. 

Dennoch schildert das Buch von Charap und Colton ausgewogen und detailreich die komplexe innen- wie außenpolitische Gemengelage im postsowjetischen Eurasien. Es kann als eine mahnende Erinnerung gelesen werden, dass eine konstruktive, durchdachte Politik in dieser Region über drei Jahrzehnte die Regel und nicht die Ausnahme hätte sein müssen, um Stabilität und Frieden zu garantieren. Stattdessen haben alle Seiten die meiste Zeit über die Durchsetzung ihrer eigenen Ziele priorisiert, auf Kosten der anderen Akteure. Die fatalen Folgen davon haben wir heute vor Augen.

Fußnoten
4

Gemeint sind die Ukraine, Russland, die EU und die USA: Der allgemeine Zustand der Ukraine habe sich seit der Krise von 2014 deutlich verschlechtert. Russland habe zwar einige Gebiete hinzugewonnen, aber in wirtschaftlicher Hinsicht und in Bezug auf sein internationales Ansehen einen hohen Preis gezahlt. Für Europa sei die Krise zu einer direkten Bedrohung für seine Sicherheit geworden. Und der völlige Zusammenbruch der Beziehungen zwischen den USA und Russland stehe den Bemühungen um die Bewältigung globaler Herausforderungen im Weg (S. 21-22).

Die Autoren greifen einen Begriff auf, der einige Jahre zuvor von Mary Elise Sarotte geprägt wurde. Siehe Mary Elise Sarotte, 1989: The Struggle to Create Post-Cold-War Europe, 2014, Princeton University Press: ISBN 9780691163710.

In der Ukraine beispielsweise hatten die Bürgerinnen und Bürger im Jahr 2000 eine wesentlich positivere Einstellung zu Russland als zu den USA oder der NATO, und 60 % befürworteten eine ostslawische Konföderation mit Russland und Belarus. S. Mark Kramer, Ukraine, Russian, and US Policy. In: PONARS Policy Memo, Nr. 91, April 2002: https://www.ponarseurasia.org/wp-content/uploads/2022/08/Pm_0191_Kramer.pdf.

Es ist die vorherrschende Meinung in Fachkreisen, dass die russische Führung im Zusammenhang mit den Farbrevolutionen in erster Linie die Ausbreitung oder den bewussten Export von Revolutionen in die Nachbarländer, einschließlich Russlands, fürchtete. Im Rahmen ihrer Untersuchung des offiziellen Diskurses in Russland kommt die Politikwissenschaftlerin Yulia Nikitina zum Schluss, dass die Hauptsorge von Russland darin bestand, dass die innenpolitischen Probleme nicht im Rahmen gültiger Gesetze, sondern durch Revolutionen und „Straßendemokratie” gelöst wurden, was eine langfristig instabile politische Situation in der unmittelbaren Nachbarschaft generierte. Vgl. Yulia Nikitina, „The Color Revolutions” and Arab Spring” in Russian Official Discourse. In: Connections, Bd. 14, Nr. 1 (Winter 2014), S. 87-104. DOI:10.11610/Connections.14.1.04

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In der Spieltheorie wird das Ergebnis eines Streits oder einer Verhandlung in eine von drei Hauptkategorien eingeordnet: Bei einem Nullsummenspiel gewinnt eine Partei und die andere verliert, wobei sich die jeweiligen Gewinne und Verluste zu Null summieren.

Bei einer Positivsummen-Interaktion profitieren beide Akteure. Bei einem Negativsummenergebnis schrumpft der Pool der verfügbaren Vorteile aufgrund der Entscheidungen der beteiligten Parteien, so dass jede von ihnen am Ende des Tages schlechter dasteht.

Standard-Realpolitik, deren besonderes Augenmerk auf der Erlangung von Einfluss auf bestimmte Länder oder Gebiete liegt.

Projektion von Macht über ein Gebiet mit wirtschaftlichen Mitteln.

Politik, die darauf abzielt, normative Vorstellungen vom Guten und Richtigen über nationale Grenzen hinweg zu verbreiten.

1987 soll Michael Gorbatschow zum ersten Mal die Haus-Metapher gebraucht haben – das Bild von verschiedenen Wohnungen unter einem Dach als Modell für eine europäische Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural. Sie sollte verhindern, dass Interessenkonflikte mit militärischen Mitteln gelöst werden.

Unter Finnlandisierung versteht man die Einschränkung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit eines Staates, der einem übermächtigen, Einfluss nehmendem Nachbarstaat gegenübersteht. Der Begriff bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Finnalnd und der Sowjetunion während des Kalten Krieges.

Gorbatschow pries die Finnlandisierung bei einem Besuch in Helsinki im Oktober 1989 an. Er nannte Finnland ein Modell für Beziehungen zwischen einem großen und einem kleinen Land, zwischen Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen und zwischen Nachbarn.

Die Rede ist von sechs ehemaligen Sowjetrepubliken, die von Russland und Ostmitteleuropa flankiert werden: Belarus, Ukraine, Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan.

In der Regel werden die Rosenrevolution in Georgien (2003), die Orangene Revolution in der Ukraine (2004) und die Tulpenrevolution in Kirgisistan (2005) zu den Farbrevolutionen gezählt. Sie haben gemeinsam, dass sie von Studentenorganisationen und NGOs initiiert wurden, die ihren Protest in Form von farbigen Symbolen sichtbar machten und zu friedlichen Regimewechseln führten.

Kirgisistan versank in Anarchie, nachdem Präsident Kurmanbek Bakijew im April 2010 von einer wütenden Menge gestürzt worden war. Statt sich wie üblich auf ein Nullsummenspiel einzulassen (es gab zwischen Russland und USA damals eine Auseinandersetzung wegen des US-amerikanischen Militärstützpunktes „Manas“), zogen Moskau und Washington an einem Strang und führten geheime Gespräche, die Bakiews sichere Flucht ins weißrussische Exil ermöglichten. Obama und Medwedew gingen sogar so weit, dass sie im Juni 2010 eine gemeinsame Erklärung zu den Ereignissen in Kirgisistan abgaben.

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Das ist mal eine echte Entdeckung für mich – dieses Buch kannte ich noch gar nicht, obwohl ich mich seit Jahren mit den Fragen von Ordnung und Sicherheit in „Euro-Eurasien“ beschäftige. Insbesondere macht mich natürlich hellhörig, dass die Autoren an Mary Elise Sarotte und ihr exzellentes Buch zur NATO-Osterweiterung anschliessen.

@alexandra_sitenko, du wirfst am Schluss die Frage auf, ob der Vorschlag der Autoren, auf „prefabrizierte Lösungen“ zu verzichten und aus der Nullsummen-Logik auszusteigen, nach Kriegsbeginn noch irgendeine Bewandtnis hat. Weiss man, was die Autoren heute, im Licht der Aktualität nach dem 24.2.2022, dazu sagen? Verfolgen sie ihre Linie weiter?

Total 3

Lieber Martin, vor einigen Tagen ist tatsächlich eine Analyse der Rand Corporation erschienen, verfasst von Samuel Charap (einem der beiden Buchautoren) und Miranda Priebe. Die Analyse greift im Prinzip das Kernargument des Buches wieder auf, nur eben auf die aktuellen Ereignisse bezogen.

In “Everybody loses” heißt es, dass der geopolitische Wettkampf im postsowjetischen Eurasien und der Konflikt in der Ukraine von 2014 allen Parteien letztendlich Nachteile brachte und alle besser dran wären, wenn sie miteinander kooperierten. In der neuesten Publikation werden die Risiken eines langen Krieges in der Ukraine für alle Seiten geschildert und erläutert, warum ein schnelles Ende (durch Verhandlungen) im Interesse aller ist. Auch im Interesse der USA. Denn Russlands vertiefte militärische Zusammenarbeit mit dem Iran während dieses Krieg könnte z.B. dazu führen, dass Moskau in den Fragen der Nichtverbreitung von Atomwaffen zum Bremsklotz wird, was gegen die Interessen Washingtons ist.

Es werden auch viele weitere interessante Punkte erwähnt: https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html

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Vielen Dank! Hauptfrage im Kopf vor der Lektüre (sowohl des Buches als auch des Artikels): Wie gehen die Autoren mit den Sicherheitsinteressen der osteuropäischen Staaten um, welche Legitimität wird ihnen – neben dem strategischen Aspekt, der oben im Intro schon anklang – zuerkannt, welche Agency bekommen diese Staaten in diesem analytischen Framework? Ich schaue mir das auf jeden Fall an.

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