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Jenseits des Schlachtfelds spielt die Musik

Re-Paper
Sergii Cane2022
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Jenseits des Schlachtfelds spielt die Musik

»Der Klang des Widerstands. Pop, Rock, Rap & Hiphop aus der Ukraine«

Inhalte

Intro

Geschrieben von Hera Shokohi

Bei te.ma veröffentlicht 08.02.2023

te.ma DOI 10.57964/z526-4692

Geschrieben von Hera Shokohi
Bei te.ma veröffentlicht 08.02.2023
te.ma DOI 10.57964/z526-4692

Die ukrainische Musikkultur stand aufgrund jahrzehntelanger russischer Hegemonie stets im Schatten des größeren Nachbarn Russland. Der Musikkritiker Sergii Cane untersucht in seinem Aufsatz die Geschichte der ukrainischen Musik und erläutert ihre Verflechtung mit der russischen Musikkultur und -industrie.

Musik sei schon immer ein wichtiger Bestandteil des nationalen Selbstverständnisses der Ukrainer gewesen, so der Musikkritiker Sergii Cane. Über die Jahrzehnte hinweg sei sie der russischen Hegemonialmacht jedoch ein Dorn im Auge gewesen: Sowohl die zaristische als auch die sowjetische Administration versuchten, die kulturellen Praktiken der ukrainischen wie anderen nicht-russischen Nationen zu unterbinden. In der Sowjetunion wurde Nationalismus ideologisch als Element des Bürgertums und Kapitalismus betrachtet1 und damit als Hürde für den internationalistischen Kommunismus. Dem stalinistischen Terror der 1930er Jahre waren somit auch viele nicht-russische Musiker, Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle ausgesetzt.

Cane setzt in seiner Geschichte der ukrainischen Musik in den frühen sowjetischen Jahren an: In den 1920er und 1930er Jahren wurden ukrainische Kulturschaffende entweder verfolgt und ermordet oder in das sowjetische System eingegliedert. Im Falle einer Eingliederung wurden die Künstler und Musiker meistens in die Rolle eines Vertreters der Volkskunst der jeweiligen nationalen Minderheit gestellt. Die Musik wurde auf ein bäuerliches und folkloristisches Stereotyp reduziert, so Cane. Durch die Zwangsanpassung an russisch-sowjetische Standards wurden auch ukrainische Musiktraditionen eingeebnet. Die Kobsa- und Bandura-Spieler etwa, wandernde Musiker, die religiöse Gesänge überlieferten, wurden bereits im Zarenreich unterdrückt, in den stalinistischen 1930er Jahren wurden sie deportiert und ermordet. Die Vielfalt und die Geschichte der ukrainischen Musik war unter russischer Herrschaft entsprechend auf ein ukrainisches Klischee reduziert, folgert Cane. Ukrainische Musik durfte nur in Form von Volkschorgesängen existieren. 

In den 1960er Jahren wurden in den Republiken der Sowjetunion Vokal-Instrumental-Ensembles gegründet, die als musikalische Aushängeschilder der jeweiligen Republiken dienen sollten. In der Ukraine fanden sich in diesen Ensembles allerdings keine treuen Sowjetanhänger, so Cane. Durch die Ensembles bildete sich stattdessen eine sublime und originelle Musikszene heraus. 

Nach dem Zerfall der Sowjetunion war die ukrainische Musikindustrie nicht mehr von repressiver russischer Herrschaft bestimmt, sondern von russischem Kapital. Musiker in der Ukraine verdienten nicht gut und hatten somit die Wahl zwischen Unterbezahlung im eigenen Land oder einer Karriere in Russland, wo die Gagen höher waren. Die Krim-Annexion 2014 markierte auch hier eine Zäsur im gesellschaftlichen Bewusstsein und führte laut Cane dazu, dass der Einfluss Russlands auf die ukrainische Kulturbranche als Bedrohung betrachtet wurde.

Durch die russische Invasion der Ukraine im Februar 2022 änderte sich die Arbeit der ukrainischen Musiker: Sie sammeln Spenden und spielen Benefizkonzerte, gehen als Soldaten an die Front, setzen sich in ihrer Musik mit den Erfahrungen von Krieg und Gewalt auseinander. Die Musikbranche sieht es als ihre Aufgabe, zum Überlebenskampf beizutragen: durch realitätsverarbeitende Lieder und finanzielle Unterstützung der militärischen Verteidigung der Ukraine.

Für viele ukrainische Kulturschaffende ist der Krieg ein Einschnitt und eine radikale Veränderung. Die Kultur nimmt im Krieg eine existenzielle Rolle ein: Sie ist ein Ausdruck nationaler und kultureller Autonomie und folglich Ausdruck einer Distanzierung und Emanzipation von russischen Machtstrukturen. Musiker, die vorher unpolitisch waren, sind auf Tourneen in Europa und den USA und werben für die Unterstützung der Ukraine. Die Kultur im Krieg hat zweierlei Aufgaben: Sie ist ein Hoffnung spendendes, sinnstiftendes Element und Widerstand zugleich.

Fußnoten
1

J.W. Stalin: Die nationale Frage und der Leninismus, in: J.W. Stalin Gesammelte Werke Bd. 11, 1928-März 1929. Berlin 1954, S. 298-317.

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Die Kobsa und die Bandura sind traditionelle ukrainische Lauteninstrumente. In der frühen Neuzeit und neueren Geschichte (bis in die 1930er) gab es „Blinde Barden“ – Kobsa-Spieler, meist blinde alte Männer, die von Dorf zu Dorf wanderten und „Duma“, religiöse Lieder, spielten.

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