Dass die AfD in Teilen Deutschlands nicht nur in Umfragen, sondern auch an der Wahlurne stärkste Kraft werden könnte, ist längst kein unwahrscheinliches Szenario mehr. Auf kommunaler Ebene bröckeln die „Brandmauern“ und gerade hinsichtlich der ostdeutschen Bundesländer fragt man sich zunehmend, wie die AfD dauerhaft aus der Regierungsverantwortung herausgehalten werden soll. Noch werden Koalitionen mit der in Teilen rechtsextremen Partei zwar ausgeschlossen und noch fehlt ihr einiges zur absoluten Mehrheit: Aber man hätte sich vor zehn Jahren auch noch nicht vorstellen können, dass in den USA der republikanische Präsidentschaftskandidat öffentlich seine Sorge über eine etwaige Verunreinigung amerikanischen Blutes äußern und dafür Applaus von der eigenen Basis erhalten könnte. Dass das Monitor-Fernsehmagazin des Westdeutschen Rundfunks im Jahr dreier ostdeutscher Landtagswahlen, bei denen die AfD aller Voraussicht nach sehr erfolgreich abschneiden wird, nach dem Leben in einem zukünftigen „AfD-Staat“ fragt, ist daher mehr als eine intellektuelle Fingerübung.
Die Redaktion wählt hierzu einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Zugang. Statt selbst die öffentlich einsehbaren Materialien zu durchforsten oder investigative Recherchen anzustellen, lässt sie die KI-Software ChatGPT-4 Zukunftsszenarien entwerfen – und zwar in Form von Drehbuchszenen. Im Zentrum stehen die Themenfelder Migration, Sozialpolitik sowie Meinungs- und Religionsfreiheit. Was die Künstliche Intelligenz ausspuckt, wirkt düster und erinnert an Serienerfolge der vergangenen Jahre, etwa an
Grundlage der Szenarien sind im Internet öffentlich einsehbare Quellen, beispielsweise Parteiprogramme, Reden von AfD-Politiker*innen auf YouTube oder Beiträge auf den persönlichen Social Media-Profilen. Dass die Redaktion an dieser Stelle auf den Einsatz Künstlicher Intelligenz setzt, ist durchaus plausibel: Zum einen wäre das Material von Menschenhand kaum zu bewältigen gewesen. Zum anderen lässt sich der Einsatz von ChatGPT als Versuch von Seiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verstehen, dem Vorwurf des Kampagnenjournalismus zu begegnen, den die AfD immer wieder erhebt. Dass die ARD oder gar Monitor der KI einen Bias eingeschrieben haben, werden selbst hartgesottene Verschwörungsideolog*innen nicht behaupten wollen. Andererseits ist immer noch weitgehend unklar, wie genau ChatGPT und vergleichbare Programme diese Informationen verarbeiten. Dass die fiktiven Szenarien einen Bias aufweisen, lässt sich also ebenfalls nicht mit Sicherheit zurückweisen.
Die von der KI entworfenen Szenarien sind allerdings auch nur der Aufschlag zu den einzelnen Themenfeldern. Ergänzt werden sie durch Stimmen aus der Wissenschaft, beispielsweise der Volkswirtschaftslehre, der Soziologie oder der Rechtswissenschaft sowie Berichten von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen. Der regionale Schwerpunkt liegt hierbei auf Thüringen. Dort ist die AfD überdurchschnittlich stark, hat 2023 mit dem Sieg bei den Landratswahlen in Sonneberg für bundesweites Aufsehen gesorgt und ist weit in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Außerdem kann der thüringische Landesverband aufgrund der allgemeinen Radikalisierung der Partei nicht (mehr) als AfD-interner Sonderfall bezeichnet werden.
Rundfunk von Höckes Gnaden
Der Beitrag macht zweierlei deutlich: Erstens zeigt er, wie die AfD auch jetzt schon den Alltag in Deutschland prägt – auch wenn der AfD-Staat für den Moment lediglich als Drehbuch existiert. Schon jetzt werden in Thüringen jenseits fiktiver Zukunftsszenarien Journalist*innen, die über Parteiveranstaltungen berichten, als „Ratten“ beschimpft, geschlagen und finden dann auf dem Parkplatz ihr Auto mit zerstochenen Reifen vor, wie es auch im Monitor-Beitrag genannt wird. Schon jetzt werden geflüchteten Familien die Fensterscheiben eingeworfen. Und schon jetzt werden die Kinder dieser Familien von Gleichaltrigen getreten, weil Letztere keine ausländischen Menschen in ihrer Region haben wollen. Zweitens zeigt der Bericht, wie weitreichend die Partei Deutschland, beziehungsweise einzelne Bundesländer, umbauen könnte, wenn ihr die Entscheidungsmacht zufallen würde, die sie ganz offensiv anstrebt.
Beispiel Erinnerungskultur: Dass die AfD eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad möchte”, ist kein Geheimnis. Besonders störend ist für einige Mitglieder der Partei der zentrale Stellenwert, welcher der Nazi-Diktatur im bundesrepublikanischen Selbstverständnis beigemessen wird. In Regierungsverantwortung wäre es der Partei möglich, entscheidende Weichen umzustellen. So fungiert etwa der Kultusminister in Thüringen qua Amt auch als Stiftungsratsvorsitzender der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. In dieser Rolle wirkt er als eine Art Chef des Stiftungsdirektors. Dass die aktuell bestehende AfD-kritische Linie der Stiftung und ihrer Gedenkstätten davon unberührt bliebe, ist äußerst unwahrscheinlich. Gleichwohl wird auch ein Stiftungsratsvorsitzender nicht beliebig über Ausrichtung und Arbeitsweise der Stiftung entscheiden können, weil er in kooperative Gremienstrukturen eingebunden ist.
Das sieht im Falle der Medienlandschaft etwas anders aus. Mit der Monitor-Reporterin konfrontiert, frohlockt der AfD-Bundestagsabgeordnete Jürgen Pohl, dass es in Thüringen nur noch wenige Monate dauern werde, bis der „Rundfunkstaatsvertrag“ von Seiten des Landes gekündigt werden könne – dann nämlich, wenn in Erfurt ein Ministerpräsident Björn Höcke regiere. Tatsächlich könnte ein AfD-Ministerpräsident in Thüringen ohne jede Parlamentsdebatte die Beteiligung des Landes an MDR sowie ARD und ZDF aufkündigen. Denn die Staatsverträge sind genau das: Verträge zwischen den Einzelstaaten. Diese auszuhandeln, ist Sache der Regierungen, die Parlamente hingegen sind – anders als im Falle herkömmlicher Gesetze – außen vor. Mögliche Folge einer Aufkündigung des Staatsvertrages wären die Entlassung von Mitarbeitenden, Finanzierungslücken und neu zu besetzende Gremien. All dies würde die Öffentlich-Rechtlichen nicht unmittelbar zugrunde richten – es würde sie aber treffen. An ihre Stelle könnten dann von den Rechtsradikalen hofierte private Anbieter treten. Ein solcher Wandel der Medienlandschaft war etwa in Polen unter der PiS-Regierung zu beobachten. Parteinahe Fernsehsender füllten hier rund 80 Prozent der Politikberichterstattung mit Regierungsinhalten.
Derart massive Eingriffe in die Medienlandschaft könnten dann zwar vom jeweiligen Landes- oder dem Bundesverfassungsgericht kassiert werden. Prozesse dieser Art brauchen aber Zeit, der Schaden wäre erst einmal angerichtet. Schaden hat die Partei auch ohne Ministerpräsidentenamt schon angerichtet – „Der AfD-Staat“ zeigt, dass sich niemand darauf verlassen sollte, dass das bereits das Ende der Fahnenstange ist.