Die Fragen stellte Julia Glathe vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin.
Julia Glathe: Frau Ratzmann, ihr Projekt am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) ist eines der ersten, das sich mit den Perspektiven und Bedürfnissen von Ukrainer*innen in Deutschland beschäftigt, die vor dem russischen Angriff fliehen mussten.
Nora Ratzmann: In unserer Forschung beschäftigen wir uns vor allem mit den subjektiven Erfahrungsberichten der Betroffenen. Wir haben seit September 2022 insgesamt 69 Gespräche mit Ankommenden aus der Ukraine in Berlin und München geführt. Die Interviews erstrecken sich über einen Zeitraum von sechs Monaten, wobei dieselben Personen in einem Abstand von etwa vier bis sechs Wochen jeweils viermal interviewt wurden. Das Ziel war es, den Prozess des Ankommens genauer zu untersuchen.
JG: Seit Februar 2022 sind eine Million Ukrainer*innen nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen wurden von Ehrenamtlichen auf Bahnhöfen empfangen. Ist das ein erneutes Aufleben der Willkommenskultur von 2015/16? Oder haben wir es mit einer komplett anderen Situation zu tun?
Larissa Kokonowskyj: Sowohl als auch. Die ukrainischen Geflüchteten befinden sich in einer sehr spezifischen Situation. Frauen, Kinder sowie Ältere und Pflegebedürftige sind in großer Zahl vertreten. Die meisten Männer hingegen dürfen aufgrund der
Es gibt in Deutschland bereits bestehende Strukturen, die jetzt reaktiviert werden, aber auch neue Strukturen, die sich aus den spezifischen Bedarfen der ukrainischen Geflüchteten ergeben. Die ukrainische Diaspora ist sehr aktiv. Es gibt viele NGOs, die bereits vor dem Krieg in Deutschland tätig waren, jedoch nicht mit Geflüchteten zusammengearbeitet haben. NGOs, die bereits Erfahrung mit Geflüchteten hatten, haben neue Programme speziell für ukrainische Geflüchtete aufgesetzt. Das Zusammenwirken zwischen verschiedenen Organisationen ist somit ein wesentlicher Aspekt der aktuellen Situation.
JG: Eine Studie der Universität Münster hat jüngst festgestellt, dass in der deutschen Bevölkerung eine große Aufnahme- und Hilfsbereitschaft gegenüber ukrainischen Geflüchteten besteht. Es zeige sich auch eine größere Zuversicht in Bezug auf die Integrationschancen und eine geringere Bedrohungswahrnehmung im Vergleich zu den Geflüchteten, die vor allem in den Jahren 2015 und 2016 aus Syrien gekommen sind. Welche Ursachen gibt es für diese ungleiche Bewertung?
NR: Tatsächlich zeigen Studien, dass die Aufnahmebereitschaft zu Beginn der jeweiligen Migrationswellen 2015 und 2022 ähnlich war. Eine Studie der Universität Dresden, die auch als MIDEM-Studie bekannt ist, zeigt, dass es sowohl 2015 als auch 2022 eine hohe Aktivierung in der Bevölkerung gab und dass die Aufnahmebereitschaft 2022 nicht signifikant höher war. Ein andere Studie des DeZIM beschäftigt sich insbesondere mit der Aufnahmebereitschaft in Privatunterkünften. Es zeigt sich, dass es in der Tat eine Neuaktivierung in der Bevölkerung gab und Menschen, die sich zuvor noch nie für Geflüchtete engagiert hatten, ihre Wohnungen und Häuser öffneten. Mehr als 80 Prozent der Menschen, die privaten Wohnraum angeboten haben, gaben an, dass sie dies erneut tun würden.
Die Frage nach den Ursachen für eine mögliche erhöhte Aufnahmebereitschaft gegenüber Ukrainer*innen ist sehr sensibel. Im öffentlichen Diskurs wird schnell auf kulturelle Nähe und wahrgenommene ethnische Gemeinsamkeiten hingewiesen. Dementsprechend wird vermutet, dass die erhöhte Aufnahmebereitschaft mit gewissen Formen von Rassismus gegenüber anderen Gruppen von Geflüchteten einhergehen könnte. Ein Faktor, der sicherlich eine Rolle spielt, ist die Wahrnehmung von Bedürftigkeit und Legitimität. Im englischsprachigen Raum ist das unter der sogenannten „
Es gibt blinde Flecken in der Debatte. Nicht alle, die aus der Ukraine geflüchtet sind, haben positive Erfahrungen gemacht.
JG: Eine Frau mit Kind erweckt mehr Mitleid als ein alleinstehender junger Mann?
NR: Man sollte sehr vorsichtig mit Generalisierungen sein. Es gab sowohl 2015 als auch 2022 sehr unterschiedliche Gruppen. Einige werden im Diskurs gern vergessen. Als Folge fehlt ihnen oft der Zugang zu wichtiger Infrastruktur. Das klassische Beispiel sind Rom*nja. Aus der Forschung und aus Hintergrundgesprächen mit NGOs wissen wir, dass sie bei ihrer Ankunft extreme Diskriminierung erfahren. Auch Drittstaatsangehörige aus der Ukraine, die beispielsweise dort studiert haben und nicht denselben Sonderstatus haben wie Menschen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft, haben ebenfalls massive Schwierigkeiten. Es gibt also blinde Flecken in der Debatte. Nicht alle, die aus der Ukraine geflüchtet sind, haben positive Erfahrungen gemacht.
JG: In den Medien wird immer wieder besprochen, dass dieser Krieg auch ein Krieg gegen den Westen und die europäische Friedensordnung im Allgemeinen ist. Spielt das Narrativ, dass uns der Krieg gegen die Ukraine – im Vergleich zum Krieg in Syrien – etwas angeht, eine Rolle für unseren Blick auf ukrainische Migration?
LK: Ich glaube, dass in diesem Krieg sehr klar ist, was passiert. Das kann dazu führen, dass die Migration für viele nochmal greifbarer wird. Wir kennen die Studien zur Hilfsbereitschaft in unterschiedlichen europäischen Ländern. Polen ist ein eindrückliches Beispiel. Wie andere Länder hat es zuvor sehr wenig Geflüchtete aufgenommen. Nun aber ist die Hilfsbereitschaft gegenüber Ukrainer*innen sehr groß, unter anderem wegen der gemeinsamen Erinnerungskultur und der sehr starken Feindperspektive auf Russland.
JG: Sie sprechen damit die gesamteuropäische Dimension an. Als Reaktion auf die Fluchtbewegung aus der Ukraine wurde in der EU die sog.
NR: Hinsichtlich des rechtlichen Status gibt es eine gewisse Ungleichbehandlung anderer Gruppen im Vergleich zu ukrainischen Geflüchteten. Der Hauptunterschied ist, dass Ukrainer*innen keinen Status als Asylsuchende beantragen müssen. Durch die Massenzustromrichtlinie bekommen sie das Aufenthaltsrecht erstmal für zwei Jahre. Zudem haben sie zumindest auf dem Papier unmittelbaren Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt und zur Grundsicherung. Diese Leistung ist deutlich umfangreicher das, was einem nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zusteht. Dadurch erhalten Ukrainer*innen im Prinzip die gleiche Grundsicherung wie arbeitslose Deutsche, dazu kommen Leistungen für das Wohnen, die Schule sowie Sprach- und Integrationskurse.
Hinsichtlich des rechtlichen Status gibt es eine gewisse Ungleichbehandlung anderer Gruppen im Vergleich zu ukrainischen Geflüchteten.
JG: Wie sieht die Umsetzung dieser Maßnahmen aus?
NR: Die Praxis unterscheidet sich oft von dem, was auf dem Papier steht. Oft muss etwa der Aufenthaltstitel nach einem Jahr verlängert werden. Das kann durchaus zu Schwierigkeiten führen, weil nach einem Jahr wieder der Prozess mit den Ausländerbehörden anläuft und diese in einigen Bundesländern chronisch überlastet sind. So etwas sorgt für große Statusunsicherheit, viele stellen sich die Frage, welchen rechtlichen Status sie in Zukunft haben werden und ob sie nicht doch besser Asyl beantragen sollten. In manchen Ländern ist das parallel möglich, in anderen wiederum nicht.
JG: Nur 18 Prozent der ukrainischen Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter gehen bisher einer Arbeit in Deutschland nach. Im europäischen Vergleich ist das sehr wenig. Wie lässt sich das erklären, trotz der rechtlichen Besserstellung und einem großen Bedarf an Fachkräften hierzulande?
LK: Zum einen sind es größtenteils gut ausgebildete Frauen, die nach Deutschland kommen und ein bestimmtes Qualifikationsniveau mitbringen. Es gibt eine Diskrepanz zwischen den Jobs, die auf dem Arbeitsmarkt vorhanden sind und diesen oft sehr hohen Qualifikationen von Frauen, die natürlich auch nicht ihren Status, den sie in der Ukraine hatten, aufgeben und einen Job annehmen wollen, der unter ihren Qualifikationen liegt.
Außerdem sind diese Frauen ohne jegliche Vorbereitung nach Deutschland gekommen. Viele haben keine Sprachkenntnisse, einige sprechen Englisch, viele aber auch nicht. Sprachenlernen zu einem Niveau, welches der Arbeitsmarkt erfordert, lässt sich innerhalb eines Jahres kaum bewerkstelligen. Es werden zwar Integrationskurse angeboten, der Zugang ist aber oft nicht so einfach wie gedacht. Denn Frauen kommen ja meist mit Kindern, für welche sie Sorge tragen. Oft fehlen Freunde oder Familie, die in solchen Fällen unter die Arme greifen.
NR: Hinzu kommt, dass Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern einen sehr unflexiblen Arbeitsmarkt hat. Wer nicht gut Deutsch kann, ist in der Regel benachteiligt. Zudem haben ukrainische Geflüchtete eine unklare Bleibeperspektive. Viele haben anfangs für sich vielleicht den Spracherwerb gar nicht ins Zentrum gestellt, weil sie nicht das Ziel hatten, langfristig in Deutschland zu bleiben. Je länger man dann hier bleibt, desto größer wird oftmals der Integrationswille, wenn man es so plakativ formulieren möchte.
Die Jobcenter, die diese Menschen bei der Arbeitsmarktintegration betreuen, haben oft ein sehr klassisches Bild von Integration. Da wird wenig flexibel gedacht. Stattdessen kommt die Person erst mal in einen Sprachkurs, bis sie das anvisierte Niveau hat. Erst dann schaut man, ob sie am Arbeitsmarkt unterkommen kann. Viele stecken in dieser Phase des Spracherwerbs, daher unter anderem die schlechten Zahlen bei den Erwerbstätigen.
Die Jobcenter haben ein sehr klassisches Bild von Integration. Da wird wenig flexibel gedacht.
JG: Wollen denn die Geflüchteten überhaupt langfristig in Deutschland arbeiten?
LK: Die meisten unserer Interviewpartner*innen betonen, dass sie arbeiten wollen. Dahinter steckt ein Wunsch nach Unabhängigkeit, vor allem von staatlicher Unterstützung. Es wird immer wieder große Dankbarkeit gegenüber dem deutschen Staat betont. Gleichzeitig möchten sich diese Frauen selbstständig in Deutschland fühlen. Deswegen wollen sie Arbeit, aber eben ungern unter ihrer Qualifikation.
Manche ukrainische Geflüchtete sind aber auch einfach nicht in der Lage zu arbeiten, weil die Betreuungsstrukturen nicht vorhanden sind. Was wir zudem in unseren Interviews festgestellt haben: Dass die Leute nicht im deutschen Arbeitsmarkt sind, heißt nicht zwangsläufig, dass sie nicht erwerbstätig sind. Wir haben mit Menschen gesprochen, die weiterhin in der Ukraine arbeiten, nur eben digital und remote.
JG: Die Geflüchteten haben doch Zugriff auf Betreuungsstrukturen.
NR: In Städten wie Berlin und München haben Geflüchtete ähnliche Probleme wie Menschen, die länger in Berlin oder München wohnen. Das Angebot ist knapp und es gibt teilweise einfach nicht genügend Kita-Plätze in bestimmten Bezirken. Während in der Ukraine häufig Sorgearbeit durch informelle Netzwerke und die erweiterte Familie abgenommen wurde, geht das in Deutschland meist nicht. Man versucht, diese Netzwerke auch hier zu etablieren, aber sie bleiben sehr instabil, weil ständig Leute kommen und gehen. Was Schulen angeht, haben sich viele in den ersten Monaten gefragt: Für wie lange geben wir unser Kind in die Schule? Was ist unsere Bleibeperspektive? Es wurde immer in Zeitabschnitten gedacht.
LK: Als wir im September 2022 mit den Interviews begannen, wurden viele Kinder noch doppelt beschult. Sie hatten in Deutschland Präsenz- und in der Ukraine Online-Unterricht. Das hängt damit zusammen, dass die Bleibeperspektive noch nicht feststand. Die Geflüchteten haben versucht, ihre Strukturen in der Ukraine irgendwie intakt zu halten, damit die Möglichkeit der Reintegration bestehen bleibt. Mittlerweile gehen die Kinder unserer Interviewpartner*innen mehrheitlich allein in deutsche Schulen.
Die meisten wollen arbeiten. Dahinter steckt ein Wunsch nach Unabhängigkeit, vor allem von staatlicher Unterstützung.
JG: Ist sich die deutsche Politik der Probleme der Geflüchteten bewusst?
NR: Vor kurzem hatten wir ein Hintergrundgespräch mit Ansprechpartner*innen einer großen Kommune in Deutschland. Dort hat man die Probleme auf dem Radar. Aber es sind eben größere strukturelle Probleme. Entscheidend sind oft die Netzwerke oder auch das Kapital. Wir erleben aber auch Mütter, die sehr proaktiv sind und selber in Schulen anrufen und ihren Kindern Plätze besorgen.
LK: Wir sprechen hier von Kindern aus der Ukraine. In unserem Sample haben wir keine Personen aus Minderheitengruppen wie Sinti*zze und Rom*nja. Aus Gesprächen haben wir jedoch erfahren, dass es da deutlich größere Probleme gibt, unter anderem auch Diskriminierungen seitens Kindergärten und Schulen. Diese Gruppen haben deutlich mehr Schwierigkeiten beim Zugang zu Betreuungs- und Bildungseinrichtungen. Wir sollten das nicht ausklammern, denn da spielen auch Rassismen eine Rolle.
JG: Was sind die größten Herausforderungen für die Migrationspolitik?
NR: Das große Thema ist die strukturelle Verfügbarkeit von sozialen Dienstleistungen. Beispielsweise sagen viele Ukrainer*innen, sie wollen Sprachkurse machen, haben aber keine Betreuung. Hilfreich wären hier flexible Modelle am Abend. Teilweise gibt es Integrationskurse mit Betreuungsangeboten, aber das scheint auch sehr wenig bekannt zu sein in der Community. Viele Betroffene haben auch gar keine Ressourcen und Kapazitäten, um auf die vielen Angebote der Stadt einzugehen. Sie sind meist über Nacht Alleinerziehende geworden und müssen die ganze Familie managen, haben wenig Hilfe und auch keine emotionalen Ressourcen, sich nach außen zu öffnen. Bis März 2023 war es vielen schlicht nicht möglich, Freundschaften zu schließen, anzukommen und Angebote wahrzunehmen.
Eine ganz zentrale Herausforderung, vor allem in Großstädten, ist der Wohnungsmarkt. Das ist oft ein Kipppunkt individueller Schicksale. Für viele lautet das Motto: Wenn wir jetzt aus unserer temporären Unterkunft bei Privaten den Übergang in eine reguläre Wohnung schaffen, bleiben wir. Wenn wir es nicht schaffen, dann gehen wir wieder. Und darauf baut dann alles auf, vor allem der Job und die Einschulung der Kinder. In den Familien finden da immer wieder sehr komplexe Aushandlungsprozesse statt. Das Wohnungsproblem haben wir intensiv mit Kommunalverwaltungen besprochen. Dort sieht man das auch als wichtiges Problem, denn es gibt durchaus Leute, die es nicht schaffen, auf dem privaten Wohnungsmarkt unterzukommen und dann letztendlich in Gemeinschaftsunterkünfte, zum Teil auch Notunterkünfte überführt werden. Dort sind die Bedingungen natürlich Wahnsinn: kleine Räume, wenig Privatsphäre, keine sozialräumliche Integration.
JG: Es heißt oft, die Ukraine sei ein Teil Europas und ein Teil von uns. Das unterscheidet sich deutlich von den Zuschreibungen, die Syrer*innen oder Afghan*innen entgegengebracht wurden. Andererseits gibt es diese Zuschreibung Osteuropäer*in. Machen sich diese europäischen Zuschreibungen bemerkbar bei Fragen von Inklusion bzw. Exklusion?
LK: Sich als Osteuropäer*in zu identifizieren, war in unseren Interviews kein wichtiges Thema. Es dreht sich natürlich viel darum, dass man Ukrainer*in ist, aber das ist mitunter der Kriegssituation geschuldet. Eine große Sorge ist, dass man einen Job annehmen muss, der unter der eigenen Qualifikation liegt. Diese Angst kann mit der Arbeitsmarktsituation von Ukrainer*innen zusammenhängen, die vor dem Krieg nach Deutschland migriert sind. Wir sehen auch eine Art Konkurrenzsituation zwischen der ukrainischen Diaspora vor dem Krieg und den Geflüchteten, die jetzt nach Deutschland kommen. Letztere haben vergleichsweise viele Möglichkeiten, direkten Zugang zum Arbeitsmarkt und diese ganzen Unterstützungsangebote, die die „ältere“ ukrainische Diaspora nicht hatte. Dadurch entstehen teilweise Ressentiments: Den „Neuen“ wird dann vorgeworfen, sie hätten es einfach und müssten nicht so hart kämpfen wie die „ältere“ Generation.
NR: Aufgrund des hohen Qualifikationsniveaus der Geflüchteten sehen wir in der deutschen Debatte einen gewissen Opportunismus. Ukrainer*innen werden als neue und qualifizierte Fachkräfte gesehen. Das ist natürlich eine Verzerrung, denn es wird schnell ausgeblendet, dass es sich nach wie vor um Geflüchtete handelt, die oft mit Traumata, Sorgen und Nöten nach Deutschland kommen. Es handelt sich um getrennte Familien, die nicht als klassische Arbeitsmigrant*innen hierher gekommen sind. Gleichzeitig wollen sie sich selbst gar nicht so stark als Geflüchtete wahrnehmen und betonen oft, dass sie trotz der Zwangssituation freiwillig nach Berlin oder in eine andere Stadt gekommen sind. Hier geht es um die Selbstwirksamkeit der Geflüchteten.
Es geht um die Selbstwirksamkeit der Geflüchteten.
JG: Politisch gab es in den vergangenen Monaten eine paradoxe Entwicklung. Einerseits gibt es Vorschläge zur Reform des europäischen Asylsystems, die auf mehr Abschottung zielen. Auf der anderen Seite gab es eben auch die Aktivierung der Massenzustromrichtlinie, die für viele Geflüchtete mehr Rechte bedeutete. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?
NR: Da beispielsweise aus außereuropäischen Ländern eher Armutszuwanderung befürchtet wird, neigt man gegenüber Migration aus diesen Regionen eher zur Abschottung. Warum etwa wurde die Massenzustromrichtlinie nicht bereits 2015 aktiviert? Im Hinblick auf die Ukrainer*innen besteht zudem die Hoffnung, den Fachkräftemangel beheben zu können. Im Diskurs über Länder wie beispielsweise Syrien oder Afghanistan spielt das hingegen keine große Rolle.
LK: Man sollte allerdings vorsichtig sein, da vor allem Geflüchtete aus Syrien ebenfalls ein sehr hohes Qualifikationsniveau haben, nur wurde das in Westeuropa oft nicht anerkannt. Es ist also vielmehr eine bestimmte Wahrnehmung im öffentlichen Diskurs, die hier eine Rolle spielt.
JG: Kann die Erfahrung mit ukrainischen Geflüchteten der Migrationspolitik neue Impulse geben?
NR: Die derzeitige Situation könnte eine Möglichkeit sein, Debatten anzuregen. Man könnte beispielsweise fragen: Hat es vielleicht positive Auswirkungen, wenn wir Geflüchteten sofort den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen? Die vielen guten Erfahrungen können sicher als Lobbyinstrument der Zivilgesellschaft verwendet werden. Man könnte das in Richtung einer Reform des Asylsystems denken, mit besseren Zugängen zu Integrationskursen und zum Arbeitsmarkt. Im Moment ist das aber noch Zukunftsmusik.
Der Gedanke, dass Integration auch temporär sein kann, wird durch die ukrainischen Ankommenden stärker ins Bewusstsein gerückt.
Einige positive Veränderungen gibt es schon. In den Großstädten hören wir immer wieder, dass die Migration aus der Ukraine zwar eine Krise darstellt, die uns aber hilft, bestimmte strukturelle Probleme zu thematisieren. Die Frage ist derzeit, wie man die Angebote für Ukrainer*innen verstetigen und für mehr Gruppen öffnen kann.
Für die deutsche Politik wäre es zudem wichtig zu diskutieren, was Integration denn eigentlich auf lokaler, aber auch auf Bundesebene bedeutet. Das wird oft ja sehr linear gedacht. Wir brauchen aber neue Konzepte auf lokaler Ebene, beispielsweise in den Jobcentern, für Qualifikationsangebote, die modularisiert oder hybrid stattfinden können. Es muss darüber nachgedacht werden, ob es nicht vielleicht auch Vorteile für Deutschland hat, wenn jemand auch wieder zurückgeht mit dem, was er hier gelernt hat, und gleichzeitig eine gewisse Verbindung nach Deutschland beibehält. Kann das Ganze so gestaltet werden, dass die Person relativ schnell wiederkommen kann, wenn sie will? Der Gedanke, dass Integration auch temporär sein kann, wird durch die ukrainischen Ankommenden stärker ins Bewusstsein gerückt.
JG: Der lange Sommer der Migration
NR: Eine Antwort gleicht dem Lesen in der Glaskugel. Es gibt sehr große regionale Unterschiede. Es gibt Regionen, in denen die AfD sehr stark ist. Dort wird dann das Thema Migration und bestimmte Gruppen, etwa die Rom*nja, herausgegriffen, um zu polarisieren. Wir sehen auch, dass an einigen Stellen der rechte Diskurs über „
LK: Zudem haben sie noch Verantwortungen in ihrem Herkunftsland, denen sie nachkommen müssen, zum Beispiel älteren Angehörigen gegenüber, oder auch, was ihre Wohnungen in der Ukraine betrifft. Das wiederum heißt, dass Pendelmigration gar keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit ist. Die Vorstellung, Geflüchtete würden nur vom deutschen Sozialstaat profitieren und dann mit diesem Geld in die Ukraine zurückkehren, trifft nicht zu.
Die ukrainische Zivilgesellschaft versucht, sich auch ihren politischen Platz in Deutschland zu erkämpfen.
JG: Lassen die Geflüchteten die Ukraine und Deutschland gesellschaftlich enger zusammenwachsen?
LK: 2014 haben wir im Rahmen des
NR: In Berlin gibt es die sogenannte Allianz Ukrainischer Organisationen, ein Dachverband mehrerer zivilgesellschaftlicher Organisationen der ukrainischen Community. Er legt den Fokus sehr stark auf politische Teilhabe. Man will in die Verwaltung, aber vor allem in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden, auch auf lokaler Ebene. Die Strukturen für eine Kommunikation zwischen Politik und ukrainischer Community sind allerdings noch nicht so stark ausgebildet. Das liegt auch daran, dass die ukrainische Zivilgesellschaft in Deutschland, übrigens im Vergleich zur russischen, relativ neu und damit wenig institutionalisiert ist. Es gibt fast keine Organisationen, die voll finanzierte Stellen haben. Dadurch läuft viel nebenbei und es fehlen die Kapazitäten. Aber die Ukrainer*innen arbeiten aktiv gegen das Opferstigma, das Geflüchteten anhaftet. Ob das klappt oder nicht, wird sich in der Zukunft zeigen.