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Mehrsprachigkeit ist ganz sicher für Individuen, die so aufwachsen können, immer ein Vorteil. Ohne Frage. Aber als ich die Überschrift las, war ich gar nicht bei der akademischen, forschungsmäßigen oder linguistischen Dimension, sondern sofort stellte sich meine eher negative Erinnerung aus dem beruflichen Kontext ein. Aus meiner Wahrnehmung und Erfahrung ist Mehrsprachigkeit im wirtschaftlichen Kontext letztlich eindimensional: man spricht die Muttersprache(n) + Englisch (oder was der Einzelne dafürhält).

Ich bin schon einige Jahre nicht mehr berufstätig, aber tätig in einem Großkonzern musste ich natürlich Englisch lesen, sprechen, schreiben können. Vor allem in thematischen Meetings, Diskussionsrunden habe ich das eher als Nachteil empfunden, denn meine ganze Emotionalität, die Differenziert in den Begriffen, die Nuancen, Feinheiten konnte ich nicht so gut rüberbringen wie in der Muttersprache.

Manchmal denke ich, das ist dann das Ergebnis der Globalisierung auch auf diesem Gebiet: Alle sprechen nur noch Englisch (alle essen Pizza und Burger, alle tragen ähnliche Kleidung, haben weiße Wände in der Wohnung und schwarz/weiß/graues Interieur … Ist eine bewusste Zuspitzung)

Also meine Bitte wäre auch den Spagat zwischen individueller und gesellschaftlicher Nutzung - vor allem auch im wirtschaftlichen Kontext - von Mehrsprachigkeit auszuloten. Ich komme aus der Soziologie und war lange Jahre in Südostasien tätig. Das Tempo des Wandels der Sprachen, die aus einer Zeichensprache kommen, ist atemberaubend. Die Welt, in der sich diese Länder mit dem Kolonialismus, der Besatzung, was auch immer wiederfanden, war eine völlig fremde, die Zeichen ihrer Schrift (und damit der Sprache) waren Widerspiegelung ihrer Realität. Für die neue Realität wurde dann doch wieder auf Französisch und heute auf Englisch zurückgegriffen. Zum Beispiel gab es für ‘Zins’, Profit’ und ‘Gewinn’ ein einziges Wort zur Übersetzung (im alten Vietnamesisch). Um anderweitige Hemmnisse für die wirtschaftlich Entwicklung aus der fehlenden Sprachnormierung auszugleichen, verbreitete sich letztlich Englisch immer mehr. Im Ergebnis entsteht muttersprachlich eine gewissen ‘Verarmung’ und in der beruflichen Alltagsnutzung mehr und mehr eine Eindimensionalität.

Ein anderer Aspekt aus der Literatur kommend ist das Phänomen von exzellenten literarischen Übersetzungen - hier greife ich das ‘Kulturelle Kapital’ (StanislawLem) auf - bewusst aus meiner Sicht einzuordnen nicht nur in Klassen und Schichten, sondern erweitert um die Dimension der Ethnie, nationaler Herkünfte, Religionen und Wertvorstellungen. Nicht nur der Wechsel zwischen sozialen Schichten, auch der Wechsel von Lebensräumen führt zu sprachlichen Anpassungen, aber eben kaum zu Anpassungen (jedenfalls nicht in wenigen Generationen) der Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Nur wenige haben ja eine Mehrsprachigkeit, die auch Feinheiten erfasst. Unglaublich schön dazu zu lesen oder den Film anzuschauen von und über Swetlana Geier - ein Leben zwischen den Sprachen: Ob man Dostojewskis Roman mit "Schuld und Sühne” oder mit "Verbrechen und Strafe” übersetzt, ist auch eine Frage der Sozialisierung, aus der man kommt - da schwingt mehr mit, wie nur dieses oder jenes Wort zu nehmen! Die Frau mit den 5 Elefanten Kann (will) jeder (oder wer?) das Erlernen? Hier kommt wieder der gesellschaftliche Kontext zum Tragen (mehr wie nur der individuelle, wenn man z.B. zweisprachlich aufwächst).

Ist vielleicht ein bisschen lang geworden - aber ich bin gespannt, wo die Reise mit dem Kanal hingeht!

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Hallo Claudia,

herzlichen Dank für deinen Kommentar und die tollen Hinweise, wir merken uns die Filme auf jeden Fall für den Kanal. Der Ansatz wird auf jeden Fall nicht nur auf der Linguistik fußen, sondern auch interdisziplinäre Perspektiven mit einbeziehen. Der Fokus auf die Schere zwischen individueller und gesellschaftlicher Nutzung von mehreren Sprachen ist da ein spannender Aspekt, zu dem es auch einiges an Forschung geben dürfte, genauso wie zur Übersetzung.

Ich kenne selbst das Phänomen, dass Sprachen sich komplementär über die Lebensrealität verteilen, z.B. also eine Sprache (vorwiegend) im Zwischenmenschlichen, eine andere im beruflichen Feld stattfindet - und dass es schwer wird, Belange aus dem einen Bereich in den anderen zu übertragen, man hat quasi eine innerliche Sprachbarriere. An dieser Schnittstelle bekommen sozioökonomische Faktoren natürlich eine immense Tragweite, gerade wenn dann eine Sprache erst später erworben werden muss und Zugangsschlüssel wird. Und dann gibt es da auch noch Generationsunterschiede, wo z.B. jüngere Menschen häufig im emotionalen Ausdruck auf andere Sprachen als die Muttersprache zurückgreifen, sich quasi anreichern um z.B. englische Begriffe, um sich präziser auszudrücken. Das gilt es alles zu bedenken und abzudecken.

Wir würden uns freuen, dich auf dem Kanal begrüßen zu dürfen - vielleicht ergibt sich ja die Gelegenheit, deine konkreten Erfahrungen dort anzubringen?

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