Mehrsprachigkeit

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Mehrsprachigkeit ist in unserer global ausgerichteten modernen Welt überall anzutreffen. Interessanterweise übersteigt die Zahl der zwei- oder mehrsprachigen Menschen auf der Welt die der einsprachigen. Studien über die Verbreitung und Mechanismen von Mehrsprachigkeit haben vielfach gezeigt, dass Mehrsprachigkeit individuell wie gesellschaftlich eine wertvolle Ressource darstellt. Zugleich erzeugt Mehrsprachigkeit erhebliche Probleme im sozialen wie gesellschaftlichen Zusammenleben. Diesem Konflikt - wenn es einer ist -  wollen wir in dieser zweiten Season auf den Grund gehen.

Die Vorteile von Mehrsprachigkeit dürften insgesamt überwiegen. Mehrsprachige Individuen haben bessere sprachliche und metasprachliche Fähigkeiten, d.h. sie wissen besser als Einsprachige, wie unterschiedliche Sprachen funktionieren. Studien haben gezeigt, dass mehrsprachige Kinder beispielsweise schneller lesen lernen, einen größeren Wortschatz erwerben und ein deutlich komplexeres Sprachwissen und Sprachbewusstsein entwickeln. Auch kognitive Fähigkeiten wie ein schärferes Gehör und Gedächtnis werden ein Leben lang geschult. Gesellschaftlich relevant ist, dass multilinguale Individuen Menschen anderer Nationen nicht nur besser verstehen, sondern kulturelle Unterschiede auch mehr zu schätzen wissen, was zu einer verringerten Fremdenfeindlichkeit, weniger Rassismus und Intoleranz führt und die interkulturelle Kompetenz insgesamt fördert. 

Aber auch die Probleme, die durch Mehrsprachigkeit verursacht werden, sind individuell wie gesellschaftlich leicht zu erkennen: Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, werden täglich mit der Frage konfrontiert, welche Sprache sie in welchem Kontext angemessener verwenden sollen. Trotz größtem Bemühen werden sie von ihrer Umwelt oft missverstanden, was zu kommunikativen Barrieren sowie zu sozialem Stress führen kann. Auch auf gesellschaftlicher Ebene sind mehrsprachige Gemeinschaften mit vielfältigen sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Problemen konfrontiert, denn Sprache hat erheblichen Einfluss auf die nationale Identität, auf das politische Verständnis und den ökonomischen Wohlstand einer Gesellschaft. 

Globalisierung und geopolitische Krisen bringen heute Sprachen in enormer Geschwindigkeit in neue Gebiete. Ganze Gesellschaften werden dadurch mehrsprachig und müssen mit den daraus folgenden Schwierigkeiten wie Chancen umgehen lernen. Mehrsprachigkeit ist also ein vielschichtiges und zum Nachdenken anregendes Phänomen, mit dem wir uns in der zweiten Saison gemeinsam mit euch auseinandersetzen wollen. 

Derzeit ordnen wir bei te.ma die Anwendungsbereiche und Forschungsdebatten, die den Diskurs formen und ausmachen. Wir laden euch an dieser Stelle herzlich ein, eure Gedanken, Anregungen oder auch Fragen zu dem Thema mit uns zu teilen.

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Zwei Ideen - Sprache der Klassen und Moralisch Verwerfliche Handlungen durch Nutzung einer Nicht-Muttersprache

Dieser Channel - wie sonst auch - sehr interessant!

Sprache der Klassen

In eurem Pitch oben greift ihr es ja bereits grob auf; “Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, werden täglich mit der Frage konfrontiert, welche Sprache sie in welchem Kontext angemessener verwenden sollen. Trotz größtem Bemühen werden sie von ihrer Umwelt oft missverstanden, was zu kommunikativen Barrieren sowie zu sozialem Stress führen kann.”

In verschiedenen gesellschaftlichen Schichten - Stichwort ‘kulturelles Kapital’ - wird unterschiedliche Gesprochen. Wörter, Tonlagen, Humor, Betonung sind zwischen Putzkräften, Professoren, Lehrern, Obdachlosen, Einwanderern, Young Academics, Kassieren, Hotelfachkräften - ihr versteht worauf ich hinaus will - Andere.

Was für Opportunitätskosten entstehen für Personen, die auf Grund ihres Wechsels von Gesellschaftschichten ihre Sprache anpassen müssen?

Das Migrantenkind, welches sich zum Partner einer Kanzlei hocharbeitet hat, dabei aus einem ärmlichen Arbeiter-Elternhaus kommt. Der Chirurg, der durch unvorhergesehene Geschehnisse in der Arbeitslosigkeit landet.

Ich frage mich ob es möglich ist, trotz langem Verweil - ja sogar das Aufwachsen und damit der Erfahrung noch stärkerer Prägung - in einer sozialen Schicht und der damit einhergehenden Anpassung an eine Sprachweise, ohne großen Arbeitsaufwand sich sprachlichen neuen Gepflogenheiten einer anderen Schicht anzupassen.

Auf was für Hindernisse stoßen Menschen, die solch einen Sprachwandel durchleben? Wie ist es für Vertreter der Schicht auf solch einen Neuling zu stoßen?
Und dann auch rein aus linguistischer Sicht: Welcher Metaphern, welche Redensarten, welches Sprachtempo und Betonung liegt in verschiedenen Schichten vor, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es?

Toll auch zu dem Thema, speziell der Kontrast zwischen Arbeiter & Akademikerklasse das Buch Road to Wigan Pier von Orwell!


Weniger moralische Entscheidungen bei der Benutzung der Nicht-Muttersprache?

Eine Aussage, die ich vor Jahren im Netz mal gefunden habe. Finde ich auch erforschungswürdig.

Folgend ein paar Indizien, dass bei der Entscheidungsfindung in einer Nicht-Muttersprache, die Entscheidungsfindung amoralischere Züge annimmt, als wenn die selbe Entscheidung in der Muttersprache gefällt wird.

Erstens, stimmt das und zweitens, wenn es stimmt, what the fuck?

Dazu eine Recherche - wäre mega!

https://news.uchicago.edu/story/using-foreign-language-changes-moral-decisions

https://www.scientificamerican.com/article/how-morality-changes-in-a-foreign-language/

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Danke für den spannenden Beitrag und die zwei Richtungen, in die dieser Kanal navigieren könnte.

Vom zweiten Thema, das ich jetzt ohne großes Vorwissen in den Bereich der Psycholinguistik stecken würde, habe ich noch gar nicht gehört. 🔍

Das Thema Sprache und sozialer Aufstieg, kulturelles Kapital, „Klassenkampf“ interessiert mich wiederum schon seit längerer Zeit. Tolle Autoren aus der Literatur und Philosophie sind für mich in dem Zusammenhang Didier Eribon und Edouard Louis. In Rückkehr nach Reims oder Anleitung ein anderer zu werden kann man diese Themen soziologisch greifen und prosaisch nachfühlen.

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Mehrsprachigkeit ist ganz sicher für Individuen, die so aufwachsen können, immer ein Vorteil. Ohne Frage. Aber als ich die Überschrift las, war ich gar nicht bei der akademischen, forschungsmäßigen oder linguistischen Dimension, sondern sofort stellte sich meine eher negative Erinnerung aus dem beruflichen Kontext ein. Aus meiner Wahrnehmung und Erfahrung ist Mehrsprachigkeit im wirtschaftlichen Kontext letztlich eindimensional: man spricht die Muttersprache(n) + Englisch (oder was der Einzelne dafürhält).

Ich bin schon einige Jahre nicht mehr berufstätig, aber tätig in einem Großkonzern musste ich natürlich Englisch lesen, sprechen, schreiben können. Vor allem in thematischen Meetings, Diskussionsrunden habe ich das eher als Nachteil empfunden, denn meine ganze Emotionalität, die Differenziert in den Begriffen, die Nuancen, Feinheiten konnte ich nicht so gut rüberbringen wie in der Muttersprache.

Manchmal denke ich, das ist dann das Ergebnis der Globalisierung auch auf diesem Gebiet: Alle sprechen nur noch Englisch (alle essen Pizza und Burger, alle tragen ähnliche Kleidung, haben weiße Wände in der Wohnung und schwarz/weiß/graues Interieur … Ist eine bewusste Zuspitzung)

Also meine Bitte wäre auch den Spagat zwischen individueller und gesellschaftlicher Nutzung - vor allem auch im wirtschaftlichen Kontext - von Mehrsprachigkeit auszuloten. Ich komme aus der Soziologie und war lange Jahre in Südostasien tätig. Das Tempo des Wandels der Sprachen, die aus einer Zeichensprache kommen, ist atemberaubend. Die Welt, in der sich diese Länder mit dem Kolonialismus, der Besatzung, was auch immer wiederfanden, war eine völlig fremde, die Zeichen ihrer Schrift (und damit der Sprache) waren Widerspiegelung ihrer Realität. Für die neue Realität wurde dann doch wieder auf Französisch und heute auf Englisch zurückgegriffen. Zum Beispiel gab es für ‘Zins’, Profit’ und ‘Gewinn’ ein einziges Wort zur Übersetzung (im alten Vietnamesisch). Um anderweitige Hemmnisse für die wirtschaftlich Entwicklung aus der fehlenden Sprachnormierung auszugleichen, verbreitete sich letztlich Englisch immer mehr. Im Ergebnis entsteht muttersprachlich eine gewissen ‘Verarmung’ und in der beruflichen Alltagsnutzung mehr und mehr eine Eindimensionalität.

Ein anderer Aspekt aus der Literatur kommend ist das Phänomen von exzellenten literarischen Übersetzungen - hier greife ich das ‘Kulturelle Kapital’ (StanislawLem) auf - bewusst aus meiner Sicht einzuordnen nicht nur in Klassen und Schichten, sondern erweitert um die Dimension der Ethnie, nationaler Herkünfte, Religionen und Wertvorstellungen. Nicht nur der Wechsel zwischen sozialen Schichten, auch der Wechsel von Lebensräumen führt zu sprachlichen Anpassungen, aber eben kaum zu Anpassungen (jedenfalls nicht in wenigen Generationen) der Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Nur wenige haben ja eine Mehrsprachigkeit, die auch Feinheiten erfasst. Unglaublich schön dazu zu lesen oder den Film anzuschauen von und über Swetlana Geier - ein Leben zwischen den Sprachen: Ob man Dostojewskis Roman mit "Schuld und Sühne” oder mit "Verbrechen und Strafe” übersetzt, ist auch eine Frage der Sozialisierung, aus der man kommt - da schwingt mehr mit, wie nur dieses oder jenes Wort zu nehmen! Die Frau mit den 5 Elefanten Kann (will) jeder (oder wer?) das Erlernen? Hier kommt wieder der gesellschaftliche Kontext zum Tragen (mehr wie nur der individuelle, wenn man z.B. zweisprachlich aufwächst).

Ist vielleicht ein bisschen lang geworden - aber ich bin gespannt, wo die Reise mit dem Kanal hingeht!

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Hallo Claudia,

herzlichen Dank für deinen Kommentar und die tollen Hinweise, wir merken uns die Filme auf jeden Fall für den Kanal. Der Ansatz wird auf jeden Fall nicht nur auf der Linguistik fußen, sondern auch interdisziplinäre Perspektiven mit einbeziehen. Der Fokus auf die Schere zwischen individueller und gesellschaftlicher Nutzung von mehreren Sprachen ist da ein spannender Aspekt, zu dem es auch einiges an Forschung geben dürfte, genauso wie zur Übersetzung.

Ich kenne selbst das Phänomen, dass Sprachen sich komplementär über die Lebensrealität verteilen, z.B. also eine Sprache (vorwiegend) im Zwischenmenschlichen, eine andere im beruflichen Feld stattfindet - und dass es schwer wird, Belange aus dem einen Bereich in den anderen zu übertragen, man hat quasi eine innerliche Sprachbarriere. An dieser Schnittstelle bekommen sozioökonomische Faktoren natürlich eine immense Tragweite, gerade wenn dann eine Sprache erst später erworben werden muss und Zugangsschlüssel wird. Und dann gibt es da auch noch Generationsunterschiede, wo z.B. jüngere Menschen häufig im emotionalen Ausdruck auf andere Sprachen als die Muttersprache zurückgreifen, sich quasi anreichern um z.B. englische Begriffe, um sich präziser auszudrücken. Das gilt es alles zu bedenken und abzudecken.

Wir würden uns freuen, dich auf dem Kanal begrüßen zu dürfen - vielleicht ergibt sich ja die Gelegenheit, deine konkreten Erfahrungen dort anzubringen?

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