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Danke, Martin, für Deine Gedanken. Ich denke tatsächlich nicht, dass diese ewige Diskussion um die Person GKS und ihre steilen Thesen uns weiterbringt. Denn auch die Widerlegungen und Reaktionen auf GKS, so begrüßenswert sie auch sind in ihrem auklärerischen Anspruch, laufen ja genau in das Problem, das Du in Deinem Kommentar aufmachst: Sie verwerfen die NATO nicht nur als kausalen, sondern auch als Kontextfaktor. Die NATO verschwindet einfach.

Bevor ich mal meinen eigenen Vorschlag skizziere, wie ich mir eine analytische Annäherung an die NATO-Frage vorstelle, zwei kurze Punkte zu der These, dass eine frühere und entschiedenere NATO-Erweiterung eine russische Invasion verhindert hätte.

Im Kern ist das eine ur-realistische Frage. Das Problem ist nur, dass selbst „der“ Realismus bzw. die verschiedenen Spielarten des Realismus hier nicht übereinstimmen. Bei Mearsheimer selbst sieht man, wie eigene theoretische Arbeiten und Policy-Empfehlungen radikal auseinander gehen. Während er 1993 – im Einklang mit dem von ihm vertretenen offensiven Realismus – noch den Verbleib von Atomraketen in der Ukraine als Schutz vor einem zukünftigen russischen Angriff forderte, tourt er seit 2014 durch die Welt und fordert westliche Zurückhaltung. Auch die Ur-Väter des Realismus sind meist ambivalent geblieben: Kennan beispielsweise forderte nach dem WKII eine umfangreiche amerikanische Militärpräsenz in Europa, während er in den 1990ern eine NATO-Erweiterung nach Osteuropa verurteilte.

Zum anderen sollten wir uns fragen, warum wir denn die NATO-Frage überhaupt in der Dringlichkeit stellen, auch wenn wir keine Realist*innen sind. Und hier ist die Antwort meiner Meinung nach: weil das ein russischer Vorwurf ist. Wie aber erklären wir uns dann den Umstand, dass seit dem 24. Februar die NATO-Erweiterung gar keine Rolle mehr in den (wöchentlich wechselnden) Kriegsbegründungen der russischen Elite gespielt hat. Anscheind gibt es andere Konjunkturen und Ursachengeflechte, in die sich die Figur der NATO-Erweiterung einfügt.

Nun denke ich aber trotzdem, dass die Figur der NATO-Erweiterung einen Platz in der Genese des Krieges hatte. Ich würde jedoch vorschlagen, hier nicht so sehr Kausalität, sondern Kontext in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen. Du lieferst im Prinzip schon die richtigen Stichworte: kumulative Interaktionen und Agency. Ich würde einen zentralen Begriff hinzufügen wollen: unintendierte Konsequenzen. Gesellschaftliche Präferenzen, staatliche Strategien und organisationale Eigenlogiken – sowohl in den USA, Zentral- und Osteuropa, als auch in Russland selbst – interagierten seit 1991 eben nicht in einer Art und Weise, die es allen Akteuren erlaubte, die Konsequenzen ihres Handelns rational ab- und einzuschätzen. Das Buch, das sehr nah an eine solche Perspektive kommt, ist William H. Hills No Place for Russia.

Mein präferierter Zugang wäre folglich ein historisch-soziologischer, der solche Fragen stellt: Welche Akteure haben die NATO-Erweiterung als Projekt vorangetrieben? Wer war dagegen, konnte sich aber nicht durchsetzen? Warum unterschrieben russische Eliten alle Dokumente, in denen die NATO-Erweiterung kodifiziert wurde, benutzen letzteres aber gleichzeitig als Feindfigur zur Legitimierung ihrer Herrschaft? Veränderte sich die russische Perspektive tatsächlich als Reaktion auf den hochgradig multilateralen und kodifizierten NATO-Erweiterungsprozess? Oder sind die „critical junctures“ andere transformative Events, die sich dann unintendiert auf die NATO-Frage auswirken? Hilreich ist hier vielleicht auch der Vorschlag von Hillel David Soifer, der zwischen permissiven und produktiven Kausallogiken unterscheidet. Auf dieser Basis hat Klaus Schlichte neulich versucht, einen historisch-soziologischen Blick auf die Genese des Krieges zu werfen.

Alle diese Punkte ließen sich sicherlich noch weiter vertiefen und ich wäre gespannt, welche anderen Vorschläge man machen könnte, um die NATO-Frage jenseits der realistisch-liberalen Grabenkämpfe zu beleuchten.

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@sebastian_hoppe 

Mir geht es ja nicht darum, die Thesen von GKS zu diskutieren. Aber da sind wir uns ja sowieso einig.

Die Janusköpfigkeit des (klassischen, offensiven) Realismus zeigt sich an dem Beispiel in der Tat sehr deutlich: Er kann sowohl zu der Auffassung gelangen, man hätte die Nato nicht erweitern dürfen (Mearsheimer, jetzt jedenfalls) wie zu der, man hätte im Gegenteil sie gleich bis zur Aufnahme der Ukraine erweitern müssen (Poal u.a.). Das wirft kein gutes Licht auf das Paradigma. Allerdings kommt andererseits das andere, das liberale Paradigma mit der Situation ja auch nicht wirklich zurecht – was Klaus Schlichte als Selbstmythologisierung, Pathologisierung des Gegners und Ahistorizität charakterisiert.

Vielen Dank damit gleich für den Hinweis auf diesen Aufsatz. Habe ihn gestern gelesen und finde den Ansatz erstmal überzeugend, einmal, weil er von einer gewissenhaften Beschreibung der konkreten politischen Prozesse ausgeht (und sie nicht gleich in Theorierahmen presst), vor allem aber auch, weil er die disparaten Elemente zusammenbringt, in diesem Fall den postimperialen Habitus (nicht nur) Russlands, die Ungleichzeitigkeit der Politiken, mit der „Figuration“ auch die Interaktion RU-USA und zuletzt die verschiedenen zeithistorischen Phasen der Konfliktentwicklung selbst.

Was die Trennbarkeit der „ermöglichenden“ von den „produktiven“ Bedingungen betrifft (oder, wie du oben schreibst, der permissiven und produktiven Kausallogiken) bin ich ein wenig skeptisch. In einer von Hyperfeedback geprägten Sphäre wie dem Politischen wirken auch Bedingungen selbst wieder verursachend, denke ich, wenn auch auf indirekte Weise (dadurch, dass sie interpretiert werden und die Interpretation handlungsleitend ist). Meine Intuition wäre es vermutlich, eher auf die unterschiedlichen Distanzen des Verursachens zu schauen, und natürlich Verursachung und Verantwortung voneinander getrennt zu halten. Aber das nur am Rande.

Mein eigentlicher Punkt ist, dass Schlichte zwar überzeugend die Paradigmen kritisiert (Realismus, Liberalismus), dass sein Ansatz aber gar kein Paradigma schaffen kann, das heisst: keine Heuristik. Das ist einerseits gut (in deskriptiver und auch explikativer Hinsicht), andererseits aber auch eine Schwäche, denn das Politische wird, denke ich, nicht primär von Beschreibungen, sondern von Heuristiken getrieben.

Und das ist auch die Stelle, an der das Phänomen GKS dann doch wieder interessant wird. Denn sie bekommt diese Aufmerksamkeit meiner Meinung nach nicht, weil sie Kreml-Rhetorik reproduziert (so verstehe ich dich oben), sondern weil sie sehr eingängig eine Heuristik formuliert, die sich ähnlich auch bei Guérot, bei vielen Linken und bei grossen Teilen der AfD finden lässt. Diese Heuristik steht auf einem ähnlichen Komplexitätsniveau wie die liberale Heuristik des nicht zuzulassenden Völkerrechtsverstosses (die Implemetierungs- und Credibility-Probleme ausblendet) – Heuristiken können eben per se nicht besonders komplex sein.

Und das ist einerseits natürlich fatal (denn GKS’s Einlassungen derailen den Diskurs), andererseits ist es bezeichnend und symptomatisch. Denn ich denke, man muss, wenn man über die Nato-Osterweiterungs-Frage und überhaupt diesen Krieg / Konflikt nachdenkt, sogar noch mehr einbeziehen als nur die konkreten politischen, wirtschaftlichen etc. Dynamiken, die wir hier diskutieren, nämlich auch das Kognitive, das Mediale und das Politische in seinem allgemeinen Sinne (als öffentliche Herausbildung handlungswirksamer Meinungen, Auffassungen, eben Heuristiken).

Und dann frage ich mich wieder: Wie kann man nun das – also das heuristische politische Denken – so gestalten, dass das Verhältnis Nato / Russland nicht entweder absolut gesetzt oder ausgeblendet wird, sondern auf adäquate Weise mit einbezogen wird? Es ginge also darum, den Raum für neue Heuristiken zu sondieren. Die dann einerseits wissenschaftlich abgestützt sein müssen, aber anderersseits auch die Macht hätten, politisch transformativ zu wirken.

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Und PS: Danke übrigens auch für den Hinweis auf das Buch von Hill. Habe nur schnell in die Beschreibung geschaut – das sieht sehr lohnend aus, werden ich mir ansehen!

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