SPECIAL INPUT: Jewgeni Jermolin

Wellen russischen Heimwehs oder: Die Abkehr von der eigenen Geschichte

Hunderttausende Russen haben ihr Land nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine verlassen. Der russische Journalist und Schriftsteller Jewgeni Jermolin reflektiert aus dem Berliner Exil über die Orientierungslosigkeit der russischen Diaspora, die sich in einer zerbrochenen Welt von der eigenen Geschichte abgewendet hat.

Umbruch | Krieg | Europa

Übersetzung aus dem Russischen von Ruth Altenhofer.

Meine Freundin lebt schon lange in Berlin. Auf meine Frage, was die erste Welle der russischen Emigration vor hundert Jahren von der aktuellen Auswanderung in den letzten ungefähr sieben Jahren unterscheidet,1 sagt sie, ohne lange nachzudenken: Damals hofften sie auf Rückkehr, heute nicht. 

Mir erscheint das „alles nicht so eindeutig“. Obwohl an diesem Gedanken durchaus viel Wahres dran ist.

In der ersten Emigrationswelle hielten wohl viele das Geschehen für eine historische Zufälligkeit und gingen davon aus, dass sie wieder zurückkehren würden, dass es dafür einen Ort geben würde. Es konnte doch nicht alles auf einen Schlag verschwinden!

Das war wohl ein gutgläubiger Irrtum. In die Sowjetunion konnte man nicht einfach so „heimkehren“. Wer in den 1930er und 1940er Jahren nach Moskau oder Leningrad zurückkam, musste meist feststellen, dass das nun ein völlig anderes Land mit einer völlig anderen Bevölkerung war, wenn auch mit einer beinahe vertrauten Sprache. Dort konnte man nur in aller Stille sterben, wie Kuprin oder Zwetajewa. Aber das kam ja erst später. In Paris und Berlin hingegen konnte man naive Hoffnungen nähren.

Und auch die Nicht-Rückkehrer (die es auch nicht vorhatten) konnten sich immerhin daran erinnern, dass es doch einmal ein gar nicht so übles Land gab, das Russland hieß. Woran sie sich erinnerten, war verschieden.

Vladimir Nabokov dachte gern an seine glückliche Kindheit als Sankt Petersburger Aristokrat zurück. Iwan Schmeljow an die Familienidylle in Moskau. Iwan Bunin an leidenschaftliche Begegnungen in noblen Landhäusern und in den Kajüten der Dampfschiffe auf der Wolga. Sinaida Hippius an die Menschen des Silbernen Zeitalters, die sie gekannt hatte. Georgi Iwanow an die Winter in der Sankt Petersburger Bohème. 

Sie erinnerten sich, um zu verewigen.

In seinem Gedicht Der Jubel des ewigen, seligen Lenz stellt Iwanow einen winterlichen Spaziergang mit dem längst erschossenen Nikolaj Gumiljow die majestätische Newa entlang in einen Kontext nie versiegender Aktualität. Die Newa wird mit dem mythologischen Fluss Lethe gleichgesetzt, um dem Moment den Status des Ewigen zu verleihen:

… Ein Wintertag. Petersburg. Gumiljow und ich

an der eisigen Newa, wie am Ufer der Lethe.

Ruhig und klassisch gehen wir schlicht, 

wie paarweise einst die Dichter spazierten.2

Viel seltener fanden sich in Pariser oder Berliner Emigrantenkreisen schillernde Figuren, die keinen biografischen Ballast mitschleppten und nichts vermissten. Wjatscheslaw Iwanow oder Dmitri Mereschkowski zum Beispiel. Sie versuchten, sich in eine Weltkultur einzuordnen, aus der Russland auf dramatische Weise herausgefallen war. In wenigen Worten umriss Mereschkowski seine Position so: „Die Gegenwart erscheint mir manchmal fremd. Meine Heimat sind Vergangenheit und Zukunft.“ 

Die meisten der schreibenden und denkenden Emigranten der ersten Welle schwelgten jedoch in Erinnerungen. Sie hatten genug Stoff, um in ihren Memoiren nostalgisch die Vergangenheit zu besingen, in der ja bekanntlich alles besser gewesen war. Sie wussten, was sie an den Strömen von Babel beweinen und mit unvergänglicher Bedeutsamkeit aufladen wollten.

Ähnlichen Erinnerungen an ein verlorenes Land gaben sich übrigens auch jene hin, die im zur UdSSR transformierten Russland geblieben waren. Ohne weggezogen zu sein, fühlten sie sich nun fremd. Ein Glanzstück dieser Art ist ein Mikropoem von Michail Kusmin, der weiterhin in Petrograd bzw. Leningrad lebte und ebendort verstarb: „Und jetzt ein verwegenes“, sagte sie …

… und verführerisch,

mit allen Reizen

des verflossenen Glücks,

das so unwiederbringlich erschien,

doch für einen und alle,

geistig und irdisch,

in unverwüstlicher Hoffnung

wiederbringlich ist – 

weißt du nicht mehr?

Großer Gott, ist das denn möglich?

Herz, Verstand,

Arme, Beine,

Lippen, Augen,

das ganze Wesen

schreit:

„Würde ich deiner vergessen?“3

Dieser Erinnerungsprozess hört sich manchmal ein wenig nach Beschwörungsformeln an. Doch hat die Magie ihre volle Wirkung verfehlt. Sie konnte Atlantis nicht vom Meeresgrund heben, allein die mentale Gepflogenheit eines verlorenen, unwiederbringlichen Glücks zauberte sie herbei. 

Der bereits erwähnte Georgi Iwanow setzt daher in seinem programmatischen Gedicht die Emigration als essenzielle Tatsache des Seins außer Kraft:

Mehr noch sogar. Hier befind ich mich nicht. 

Lebe statt im Süden in der Zarenstadt.

Dort bin ich geblieben. Der Echte. Mein Ich.

Phantasie nur ist mein Emigrantenschicksal – 

in Berlin, Paris und im hässlichen Nizza.4  

Und Nabokov vergewissert sich schon 1967, zehn Jahre vor seinem Tod, dass ihn die Erinnerung an ein Kinderparadies nicht trügt. Dieser Überzeugung seiner selbst ist eines seiner besten Gedichte gewidmet: Aus dem grauen Norden.

Die Bilder kamen aus 

dem grauen Norden.

Leben hat nicht 

jeden Außenstand beglichen. 

Ein vertrauter Baum steigt

aus dem Nebel.

Die Chaussee nach Luga.

Das Haus mit den Säulen.

Der Oredesch.

Bis heute würde ich

aus jedem Winkel

bis zu mir gelangen.5

Die heutigen Migranten haben kaum etwas, woran sie zurückdenken könnten. Sie haben wenig Schönes, kaum Idyllisches erlebt.

Die heutigen Migranten haben oft kaum etwas, woran sie zurückdenken könnten. Zumindest nicht in einem erhaben-nostalgischen Modus. Sie haben wenig Schönes, kaum Idyllisches erlebt. Der vertraute Baum weigert sich strikt, aus dem Nebel zu steigen. Den „Spaziergängen“ mit weißen Bändern in den Jahren 2011 und 2012 oder auch späteren Akten des Widerstands fehlt es an Prägnanz. 

Natürlich ist die Zeit im Exil noch zu kurz, als dass man es restlos begriffen hätte. Doch nüchtern betrachtet werden die trostlose spätsowjetische Epoche und das postsowjetische Chaos wohl kaum je üppiges Futter für Nostalgie liefern können. Höchstens ausnahmsweise vereinzelte Aspekte.

In den spät- und postsowjetischen Jahrzehnten fehlte es dem Leben in Russland, mit wenigen Ausnahmen, weitgehend an historischer Bedeutsamkeit. Da war natürlich der kurze Moment der Perestroika und der demokratischen Revolution Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Für so manchen vielleicht auch die oben erwähnte Bolotnaja-Bewegung Anfang der 2010er Jahre. Aber das war es wohl auch schon. Der Rest ist Hektik und Absurdität.6

Für einige unserer Zeitgenossen ist das Fundament ihrer Bedeutsamkeit ihre persönliche Auseinandersetzung mit der Epoche, kreativ verarbeitet in Büchern, Filmen und wissenschaftlichen Arbeiten. Siehe Jelena Jakowitsch, Alexander Archangelski, Natalja Gromowa. (Übrigens ist Archangelski jetzt in Moskau. Und ich werde nicht müde, die stoische Heldenhaftigkeit jener zu bewundern, die in die innere Emigration gegangen sind und versuchen, an einer Zukunft zu arbeiten. Aber das ist ein anderes Thema.)

Nüchtern betrachtet werden die trostlose spätsowjetische Epoche und das postsowjetische Chaos wohl kaum je üppiges Futter für Nostalgie liefern können.

Na, und die ganz individuellen Erinnerungen, die wir im Herzen tragen, was ist mit denen? – fragen Sie. Ja, das Herz hat seinen eigenen Willen, Gefühlsausbrüche sind unberechenbar. Es ist jedoch so, dass die russische Vergangenheit aufs Heftigste problematisiert und fast gänzlich abgewertet wurde – im Modus privater Erfolge ganz besonders, und seien sie noch so kindlich-naiv oder zutiefst persönliches Liebesglück. 

Früher waren Erinnerungen eine Stütze. Sie gaben Halt und Hoffnung. Sie waren ein Bezugspunkt, an den man immer wieder zurückkehren konnte. Heute gibt es solche Bezugspunkte nicht oder in weitaus geringerem Maße. Man findet keinen Halt. Und, wie mir scheint, auch keine Hoffnung. 

Angesichts einer historischen Katastrophe wurde die russische (inklusive der sowjetischen) Geschichte zum Gegenstand heftiger internationaler Kontroversen. Meinungen gibt es viele, aber die gemeinsame Richtung, der weit verbreitete und schwer zu bestreitende Konsens, ist die Pathologisierung der russischen Erfahrung als solcher. 

Russland ist eine historische Pathologie, gefährlich für ihr Umfeld noch dazu. Heute sind solche Urteile zur Routine geworden.

Pjotr Tschaadajew, ein russischer Philosoph des 19. Jahrhunderts, der seinerzeit über die Geschichte seines Vaterlandes ein hartes Urteil fällte, lebt in der Nachwelt wieder auf. Und seine Schlussfolgerungen werden, genau wie Oswald Spenglers berühmte Ideen über Russland, sogar noch vertieft. Ersterer sprach von einem historischen Scheitern, Zweiterer von der Chimärenhaftigkeit der Zivilisation, aber nie wurde das Toxische dieses Scheiterns und dieser Gesellschaft dermaßen akzentuiert, wie es heute passiert.7

Russland – das ist eine historische Pathologie, gefährlich für ihr Umfeld noch dazu. Früher wäre es niemandem in den Sinn gekommen, das auf diese Weise philosophisch zusammenzufassen. Heute sind solche Urteile geradezu banal und zur Routine geworden.  

Die neuen Migranten haben nichts, worauf sie sich berufen können, keine Argumente, die mit Russlands historischer Vergangenheit und einem persönlichen Kampf um die Bewahrung dieser wundervollen Vergangenheit zu tun haben. Selbst wer in Putins Ära hartnäckig gegen die Flut an Irrsinn aufbegehrt hat, findet darin keinen Trost. Man steht damit nicht wirklich besser da als die „Wurstemigranten“ der 1990er Jahre.  

Außerdem waren längst nicht alle im Widerstand. Helden gibt es zwar, aber nicht so viele, wie es sein könnten. Viele glaubten lange, dass das Leben irgendwie von allein, ohne ihren Kampf und ihr Zutun, einen anständigen Staat und eine normale Gesellschaft hervorbringen würde, wo man guten Gewissens leben und sterben würde können. Dass der Markt von allein Wirtschaft wie Politik regeln und dafür sorgen würde, dass die Ideen den richtigen Kurs einschlügen.

Die Vergangenheit wurde auf Null gesetzt, sowohl auf persönlicher Ebene als auch auf Ebene des Landes und seiner Kultur.

Sie alle, wir alle, wurden enttäuscht. Eine Abkehr von der russischen Geschichte und der russischen Kultur, sogar von der russischen Sprache als toxisches Erbe – das ist es, womit der neue russische Emigrant leben muss, ob er will oder nicht. 

In der ersten russischen Emigrationswelle finden wir etliche Beispiele dafür, dass diese Epoche weltweit als einzige große Sackgasse erlebt wurde, als „Untergang des Abendlandes“.8 Und die persönliche Situation wurde als dementsprechend hoffnungslos empfunden. Nicht einmal heute wird dieses Gefühl der globalen historischen Sackgasse so akut wahrgenommen wie in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts.  

Doch dieses Gefühl machte keinen aufgrund seiner russischen Herkunft und Staatsbürgerschaft zum Außenseiter. Man hatte es mit vielen Europäern gemeinsam. „Und plötzlich sieht es aus, als käme die Nacht. Die Bäume schmiegen sich an Straßenränder, die Leute tun in Grüppchen sich zusammen und diskutieren leise …“, heißt es in Boris Pasternaks Übersetzung von Rilke.9   

Jetzt ist das Unheil ein ganz anderes: eine als genuin russisch empfundene Sackgasse als historische Konstante.

Welche Botschaft könnte heute ein russischsprachiger Migrant in sich tragen und wenigstens auf irgendeine Art zum Ausdruck bringen?

Russland dreht sich einer weit verbreiteten Sichtweise zufolge im Kreis und kehrt, um es mit einem Bibelzitat aus König Salomons Predigt zu sagen, immer wieder zu seinem Erbrochenen zurück. Es ist auf rätselhafte Weise zur Wiederholung negativer sozialer Erfahrungen verdammt – zu autoritär-repressiven Regimen, zu Freiheitsbeschränkung und Diskriminierung, zu Aggressionen nach außen hin und zur Auswanderung und Ausweisung Andersdenkender.10    

Daher ist, um den Gedanken fortzusetzen, der neue Migrant seines Rechts auf jene angesehene Position beraubt, die aus Russlands älterer und jüngerer Vergangenheit hervorgehen könnte. Gutes gibt es in dieser Vergangenheit nicht oder kaum. Die Vergangenheit wurde auf Null gesetzt, sowohl auf persönlicher Ebene als auch auf Ebene des Landes und seiner Kultur. 

Die Menschen der ersten Welle konnten über sich sagen (und taten das auch): „Wir sind keine Verbannten, wir sind Abgesandte.“ (Dieser Satz wird mal Nina Berberowa, mal Sinaida Hippius zugeschrieben.) Ihre Mission bestand in der Übermittlung gewisser Gipfelerlebnisse der russischen Kultur, die allgemein-menschliche Gültigkeit hatten und sich an alle wandten. Eine versiegelte Flasche mit russischen Klassikern aus dem „goldenen Zeitalter“ und Werken Intellektueller des frühen 20. Jahrhunderts. 

Jene längst vergangene Botschaft verwies nicht unbedingt auf ein „wundervolles Russland der Zukunft“. Doch sie kam an. Zwar nicht sofort und unversehrt, aber sie wurde am Ende des 20. Jahrhunderts in der historischen Heimat von Berberowa und Hippius gelesen, auch wenn das, wie wir jetzt sehen, im Grunde nichts gebracht hat.

Welche Botschaft aber könnte heute ein russischsprachiger Migrant in sich tragen und wenigstens auf irgendeine Art zum Ausdruck bringen? An wen sie sich richten und wer sie empfangen würde, das sind bereits sekundäre Fragen. Zuerst müsste man diese Botschaft visualisieren und ausformulieren, gewissermaßen als Beispiel der Würde, als Sinnbild der historischen Aktivität, als tragische Konfrontation mit den Umständen, die sich als deutlich überlegen erwiesen, auf geistiger Ebene jedoch nicht mit persönlichem Heldentum und seelischem Edelmut konkurrieren können. Hierbei darf man sich wohl nicht zum Universalismus verführen lassen, dazu, die neue russische Erfahrung und die geistigen Errungenschaften der heutigen russischsprachigen Generation als allgemeingültigen Schatz zu generalisieren.

Und all das macht große Schwierigkeiten.

Die Frage nach der Rückkehr verliert vollends ihren Sinn. Ist es da nicht besser, sich einfach so schnell wie möglich in der Menschheit aufzulösen?

Daher rühren in Migrantenkreisen nicht nur Ratlosigkeit angesichts der Frage nach persönlichen Erfahrungen, auf die man zurückgreifen könnte, sondern auch Schaffenskrisen und unproduktive interne Streitigkeiten („Schlachten von Würmern in einer toten Taube“, wie es kürzlich Almat Malatow formulierte, der schon vor ziemlich langer Zeit aus Russland ausgewandert und ein großer Skeptiker ist).

Es ist das eigenartige Gefühl eines Abgrunds, der deine gesamte Existenz erfasst. Aus konkretem Anlass schrieb mir ein Freund, der Russland im März 2022 verlassen hat, dass bei den Berliner Exilrussen nicht deswegen nichts los sei, weil wir nicht da wären oder auf etwas warten würden. Wir hätten weder die Energie, unserer russischen Identität Ausdruck zu verleihen, noch das moralische Recht dazu, irgendetwas „Russisches“ zu veranstalten. Wir würden uns sogar schämen, an russischen Kundgebungen teilzunehmen, und uns stattdessen unauffällig unter die Protestmärsche der Ukrainer mischen.  

Sogar die Definition unserer Identität durch die Form der Selbstbezeichnung bereitet uns Schwierigkeiten: Emigrant, Relokant, Repatriant, russophon? Noch dazu wird der Zustand der Emigration, wie mir scheint, bislang nicht als besondere Belastung oder Akt der Buße wahrgenommen und erlebt. Anders gesagt, der frisch gebackene Migrant sieht in seinem neuen Leben in Berlin, Belgrad oder London nicht die bedeutungsschwere Relevanz, die über einen Witz hinausgehen würde. Oder er sieht sie, aber nur selten. Vielleicht gerade in gemeinsamen Aktionen mit Ukrainern und Belarussen, die Gefühlen von persönlicher Schuld und Verantwortung dazu verhelfen, sich ihren Weg zu bahnen.  

Ein russischsprachiger Migrant ist heute wie ein wilder Fuchs in Berlin. Keiner weiß, wo, bei wem und wovon er lebt.

Aber zurück zur Ausgangsfrage: Denkt der neue Emigrant nun an Rückkehr oder nicht? Ja und nein. 

Der Eine wartet auf einen „schwarzen Schwan“, der Andere versucht, das Ausmaß seiner persönlichen Gefährdung abzuschätzen, wieder ein Anderer bestimmt anhand von Berechnungen den Zeitpunkt, an dem der heutige russische Koloss auf tönernen Füßen unweigerlich in sich zusammenstürzen muss. Manche rufen dazu auf, „eine neue, zivilgesellschaftliche Nation zu gründen und schnelllebige politische Eitelkeiten zugunsten eines wirklich großen Zukunftsprojekts zu überwinden“ (so Yuri Terekhov aus Washington auf Facebook; wir sind beide in Archangelsk geboren). 

So mancher hofft auf nichts dergleichen und hält ganz andere Szenarien für wahrscheinlicher (das Angebot: eine Katastrophe, die alles in Schutt und Asche legt; eine langfristige Verkapselung des Regimes; eine langsame Transformation des Systems in „etwas anderes“), sodass die Frage nach der Rückkehr vollends ihren Sinn verliert. Ist es da nicht besser, sich einfach so schnell wie möglich in der Menschheit aufzulösen? Zumal die globalisierte Welt dazu die besten Möglichkeiten bietet. 

Das Schicksal früherer Emigrationswellen ist bezeichnend. In der zweiten und spätestens dritten Generation war auf der Karte der Weltkultur nicht das leiseste Kräuseln mehr davon zu sehen. Verstärkt wird dies noch dadurch, dass die neuen Migranten sich genauso wie viele ihrer Vorgänger als West-Menschen begreifen, als russischsprachige Europäer und Amerikaner. Der globale Westen ist ihnen nicht fremd.

Das gegenwärtige Paradoxon besteht darin, dass sie wiederum meistens nicht als solche gesehen werden. Ihr rechtlicher Status ist oft problematisch. Noch denkt niemand an eine Neuauflage des Nansen-Passes. Ein russischsprachiger Migrant ist heute wie ein wilder Fuchs in Berlin. Keiner weiß, wo, bei wem und wovon er lebt.

Zum Abschluss eine Episode.

Eines Morgens sah ich am Fuß eines Wolkenkratzers am Potsdamer Platz einen zerfetzten Vogel liegen. Dann lagen da nur mehr weiße Daunenfedern. Und am nächsten Tag waren auch die verschwunden.

Aber auch das ist wahrscheinlich nicht unsere Geschichte.  

Berlin, September 2023

Fußnoten
10

Pavel Polian und Myriam Ahmad-Schleicher: Neue Heimat. Die vier Wellen der russischen Emigration im 20. Jahrhundert. In: Osteuropa. Band 53, Nr. 11, 2003, S. 1677–1690.

Übersetzung von Ruth Altenhofer.

Übersetzung von Ruth Altenhofer.

Übersetzung von Ruth Altenhofer.

Übersetzung von Erich Klein, siehe auch https://issuu.com/falter.at/docs/falter_2121_heureka, S. 23.

Gerd Koenen: Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland. C.H. Beck, München 2023, ISBN 9783406800740 .

Gesine Dornblüth und Thomas Franke: Jenseits von Putin. Russlands toxische Gesellschaft. Verlag Herder, Freiburg, Basel, Wien 2023, ISBN 9783451829895 .

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Band I: Gestalt und Wirklichkeit. Braumüller, Wien 1918; Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Band II: Welthistorische Perspektiven. C.H. Beck, München 1922.

Es handelt sich hier um Ruth Altendorfers Rückübersetzung von Pasternaks Übersetzung von Rilke, die im Original so lautet:

Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:

zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,

dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,

und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,

hört man das Wenige, das noch geschieht.

Pasternaks Übersetzung hat etwas Bedrohliches. Rilke selbst beschreibt jedoch eigentlich Natur, Weite, Stille, das Große, Friedliche, Allumfassende. Auch das Entstehungsjahr 1901, also vor dem Ersten Weltkrieg, wehrt sich gegen den Bezug zu dieser Endzeitstimmung. Pasternak hat es höchstwahrscheinlich in den 1920er Jahren übersetzt.

Sabine Fischer: Die chauvinistische Bedrohung. Russlands Kriege und Europas Antworten. Econ, Berlin 2023, ISBN 9783430210959 .

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